Medizin 4.0: Digitalisierung und Gesundheit

Mehr Technik, mehr Menschlichkeit? Die Digitalisierung aller Bereiche des Gesundheitswesens ist das Zukunftsthema für Ärzte, Patienten und Unternehmer gleichermaßen. Im Interview verrät Prof. Heinz Lohmann, Kongresspräsident des Gesundheitswirtschaftskongresses, welche Aspekte besonders intensiv diskutiert werden. Am 21. und 22. September führt das Format zum zwölften Mal Unternehmer aus der Gesundheitswirtschaft in Hamburg zusammen.

 

Was ist das zentrale Thema der Gesundheitswirtschaft in den kommenden Jahren?

Forum für Entscheider: Prof. Heinz Lohmann spricht auf dem Gesundheitswirtschaftskongress 2015.

Forum für Entscheider: Prof. Heinz Lohmann spricht auf dem Gesundheitswirtschaftskongress 2015.

Ganz im Zentrum werden die Digitalisierung und ihre Folgen für Patienten, Beschäftigte und Unternehmen stehen. Das Thema zieht sich derzeit schon durch viele Diskussionen in der Branche. Das ist in der Breite neu. Bisher hat lediglich der Aspekt der Informationsvermittlung größere Aufmerksamkeit und Verbreitung gefunden. Insbesondere Patienten nutzen die digitalen Möglichkeiten, um sich über Gesundheitsthemen, insbesondere solche, die ihre Erkrankung betreffen, umfassend zu informieren. Diese neuen Plattformen haben einer ganzen Reihe von Patienten die Chance eröffnet, mehr Souveränität in Gesundheitsfragen zu erlangen. Patienten werden auch, zumindest einige, wenn auch nur temporär, Konsumenten. Die daraus resultierenden Verschiebungen auf dem Gesundheitsmarkt haben bereits gewirkt und werden noch viel mehr gravierende Folgen für bestimmte Gesundheitsanbieter haben. Deshalb ist die Ausrichtung der Unternehmensstrategie auf die Interessen und Wünsche von Patienten für den Erfolg außerordentlich wichtig. Patienten werden zu Treibern des Wandels auf dem Gesundheitsmarkt.

 

Welche anderen Formen der Digitalisierung werden künftig auf die Gesundheitsanbieter einwirken?

Natürlich gilt das für viele Angebote der Internetmedizin. Hier gibt es schon erfolgreiche Einzelbeispiele, etwa bei der Behandlung von Tinnitus. Weitere Entwicklungen sind in der „Pipeline“. Wichtig wird sein, dass sich die tradierten Gesundheitsanbieter nicht „in die Ecke“ drängen lassen von sehr innovativen und vor allem schnellen Akteuren aus anderen Wirtschaftsbereichen. Abwarten ist deshalb keine Option. Das gilt auch für IT-unterstützte Prozesse. Digitale Workflows auf der Basis strukturierter Behandlungsabläufe sind keine Vision mehr, sondern existieren in ersten Anwendungen bereits. Kombiniert mit intelligenten Softwarelösungen, wie beispielweise „Watson“ von IBM, zur Aufbereitung großer Datenmengen wächst ein Instrumentarium heran, das geeignet ist, die Art und Weise, wie in Zukunft Medizin gemacht werden wird, grundlegend zu verändern.

 

Was bedeutet Digitalisierung für das Personal?

Eines ist klar, einfach so weitermachen geht nicht. Auch die zur Zeit heiß diskutierte Personalquotierung ist kein Zukunftsmodell, zumal zusätzliches Personal schon in Kürze nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen wird. Im Übrigen kann es nicht erfolgreich sein, eine antiquierte Prozessorganisation und eine unzureichende technische Ausstattung einfach durch mehr Personal auszugleichen. Anstatt in die Modernisierung der Arbeitsbedingungen zu investieren, wird viel Geld für mehr Personal ausgegeben, das dann in nachweislich unzulänglichen Strukturen verschlissen wird. Deshalb geht es jetzt darum, die verfügbaren Mittel dafür einzusetzen, durch Nutzung fortschrittlicher Methoden und Technologien, insbesondere solcher, die sich aus der Digitalisierung der Arbeitswelt ergeben, die Gesundheitsberufe an den Innovationen teilhaben zu lassen.

 

Fühlen sich, gerade wenn es um Gesundheit geht, nicht viele Menschen durch mehr Technik eher bedroht?

Diese Ängste kenne ich nur zu gut. Mir begegnet in diesem Zusammenhang sehr oft der Ausruf: „Menschen sind keine Autos“. Es geht aber nicht vordergründig um mehr Technik. Humanität und Technik müssen keine Gegensätze sein. Technologie kann helfen, mehr Zeit für Patienten einzusetzen. Wer nicht am Telefon hängen muss, um für seinen Patienten „schnell mal eben“ den weiteren Behandlungsprozess zu organisieren oder mit einer Blutprobe „mal eben schnell“ über das Gelände zum Labor hastet, hat mehr Zeit für Patienten. Im täglichen Improvisationstheater werden aktuell leider immer noch viele Fachkräfte „verplempert“ und dabei tief frustriert. Im Übrigen ist die Digitalisierung der Medizin nicht in erster Linie ein technischer, sondern vorrangig ein kultureller Prozess. Deshalb müssen alle Akteure, Ärzte, Krankenpflegekräfte, die weiteren Therapeuten und nicht zuletzt die Manager an der großen Aufgabe mitwirken.

 

Haben Manager in Gesundheitsunternehmen für diese Aufgabe überhaupt den Kopf frei?

Damit insbesondere die Manager auseichend Zeit haben, sich auf das medizinische Kerngeschäft konzentrieren zu können, müssen sie Systempartner aus Industrie- und Serviceunternehmen für weite Teile der nichtmedizinischen Aufgaben gewinnen. Leider behandeln beispielsweise aber viele Krankenhausmanager das Thema Systempartnerschaften mit ihren Zulieferern immer noch nicht strategisch. So betrachten die meisten Kaufleute das Erledigen nichtmedizinischer Tätigkeiten in Kliniken als ihre eigentliche Kernkompetenz. Ein Geschäftsführer beklagte sich kürzlich bei mir, er komme nicht zu seinen „eigentlichen Aufgaben“, da er sich wegen des Ausfalls des Ärztlichen Direktors ständig um die Medizin kümmern müsse. Auf meine Frage, ob die Behandlungsprozesse nicht gerade die zentralen Herausforderungen eines Generalmanagers in einem Krankenhaus sind, hat dieser irritiert reagiert. Manager auf der 2. Ebene in kaufmännischen und technischen Bereichen werden deshalb immer noch überwiegend nach ihren operativen Fähigkeiten und Erfahrungen ausgesucht. Das ist ein fundamentaler Fehler, der in der Folge häufig dazu führt, dass äußerst sinnvolle Ansätze zu Systempartnerschaften mit externen Experten an der vermeintlichen Konkurrenz der Akteure scheitern. Das gilt insbesondere, wenn gesamtverantwortliche Krankenhausmanager Entscheidungen über Systempartnerschaften zu schnell in Richtung Fachverantwortliche wegdelegieren. Dass die Geschäftsführer dann schlussendlich im „Klein-Klein“ verhaftet bleiben, darf sie nicht wundern. Wer Gesamtverantwortung wirklich wahrnehmen will, muss Komplexität reduzieren und sich auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich die Strukturierung der Behandlungsprozesse gemeinsam mit den Ärzten und Pflegekräften. Voraussetzung dafür wiederum ist, die Positionen der eigenen leitenden Mitarbeiter mit strategisch erfahrenen Managern zu besetzen und mit Systempartnern aus Industrie- und Serviceunternehmen zusammenzuarbeiten.

 

Wird über das Thema Digitalisierung und die Folgen derzeit ausreichend gesprochen?

Die Debatte kommt, noch etwas zäh, jetzt doch in Schwung. Während noch vor 10 Jahren auf Gesundheitskongressen das Thema Digitalisierung ausschließlich unter dem Stichwort Informationstechnologie zu Möglichkeiten der Krankenhaus- bzw. Praxisinformationssysteme abgehandelt wurde, werden die verschiedenen Aspekte der Digitalisierung beispielsweise beim kommenden 12. GESUNDHEITSWIRTSCHAFTSKONGRESS am 21. und 22. September in Hamburg praktisch auf allen Foren vertreten sein. Das dokumentiert sehr deutlich den Bedeutungswandel, den die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft derzeit durchmacht.