Nature sucht Lehren aus dem Brexit

Die Zeitschrift Nature hat in ihrer Ausgabe vom 28. Juli die Überlegungen von fünf Wissenschaftlern zu den Lehren aus dem Brexit veröffentlicht. Das Ergebnis ist wenig hilfreich, aber durchaus erhellend.

Für die Wissenschaft ist der Brexit eine schlechte Nachricht. Nature schreibt: „Das britische Votum zum Verlassen der EU gefährdet das Budget der Wissenschaftler, die Zusammenarbeit, die Stellen und die Studenten; es hinterlässt eine angeschlagene Nation und ein verletzliches Europa. Diese Zeit der Spaltung lässt Wissenschaftler darüber nachsinnen1, wie sie am besten einen Beitrag leisten können.“

Die Einleitung lässt einige Fragen offen. Wozu sollen die Forscher beitragen? Und wie ist der Begriff „nachsinnen“ zu verstehen? Im englischen Original heißt es „Soul-searching“, eine Suche in der Seele, dort, wo sich Verstand und Intuition treffen. Bei angefragten Spitzenforschern aus den Bereichen Politik, Populismus, Geschichte, Wahlverfahren und Psychologie hoffte die Nature-Redaktion sicherlich auf gründlich fundierte Erkenntnisse, die in den aufgeregten Reaktionen der ersten Wochen nicht zu finden waren. Da dominierten unter den Wissenschaftlern die allgegenwärtigen Talkshow-Professoren. Sie haben die im Fernsehen besonders gefragte Fähigkeit, die aktuelle Situation im kluge Worte zu fassen. Fachwissen ist dabei weniger gefragt, und manchmal eher hinderlich.

Nun ist Nature keine Talkshow und hat einen Ruf zu verteidigen. Man darf also zumindest überlegte Beiträge erwarten. Vier der fünf Beiträge beschreiben zunächst in maximal drei Sätzen die Ursachen des Brexit aus ihrer Sicht, im fünften wird der Brexit nicht explizit erwähnt. Danach legen alle Autoren ausführlich2 dar, was aus ihrer Sicht jetzt geschehen sollte.

5 x geballtes Fachwissen

Den ersten Beitrag („Rethink social progress)“ hat der holländische Historiker Johan Schot geschrieben, der zur Zeit die Science Policy Research Unit der University of Sussex in dem malerischen Dorf Falmer bei Brighton in England leitet. Die Unit befasst sich mit der geschichtlichen Sicht auf tiefe Transformationen. Damit sind gesellschaftlichen Veränderungen gemeint, die gravierende Auswirkungen auf die Zukunft haben. Der Brexit gehört sicherlich dazu.

I
Schot bezeichnet den Brexit als „Rüffel des Volks für die Vernunft“ und verlangt ein dringendes Überdenken des sozialen Fortschritts. Konkreter wird es nicht. In langen Sätzen reiht er statt dessen gängigen Schlagworte aneinander, ohne dass ein einziger origineller Gedanke aufblitzt. Z.B.:

„Nötig sind neue Konstrukte für lokale, nationale und internationale Führungsstrukturen (governance), die Technokratie und Demokratie kombinieren, um das Demokratiedefizit zu reduzieren, von dem der Brexit ein Symptom ist.“

oder

„Stattdessen müssen wir darüber debattieren, wie die Produktion von Wissen zum sozialen Fortschritt beiträgt, um die gesellschaftlichen Herausforderungen und Umweltprobleme des 21. Jahrhunderts anzugehen.“

Sollte es wirklich so sein, dass die Wissenschaft zu wenig debattiert? Den Eindruck teile ich wirklich nicht. Aber etwas mehr Ergebnisse wären vielleicht nicht schlecht.

II
Der zweite Beitrag („Compare populist movements“) stammt aus Ungarn. Der Autor, der Politologe Levente Littvay von der privaten Central European University in Budapest, forscht zum Thema Populismus. Und genau den sieht er beim britischen EU-Referendum als zentrales Übel an. Die Brexiteers hätten die niedersten Instinkte der wirtschaftlich, sozial und kulturell Abgehängten angesprochen, Falschinformationen verbreitet und jede ernsthafte Debatte über die verheerenden Folgen des Brexit abgelehnt. Das sei kein rein britisches Problem, Populisten tauchten im Moment überall in Europa auf. Und deshalb brauche man jetzt qualitativ hochwertige Daten, für die man eine übernationale Bewertungsmethode entwickeln müsse. Die Erhebung solcher Daten sei aufwändig, aber notwendig, um besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen Populismus gedeiht, um zu dokumentieren, ob er sich immer negativ auswirkt, und, falls ja, wie man ihn besiegt.

Zum Schluss stellt der Autor ein vielversprechendes Projekt vor, die fachübergreifende Initiative „Team Populism“ (populism.byu.edu), die sich dieser Aufgabe angenommen hat. Der Autor schließt: „Solche Initiativen sollten dabei helfen, die alarmierende Art von Politik anzugehen, die zum Brexit geführt hat.“

Das ist sicher eine verdienstvolle Arbeit, allerdings gibt es bereits eine ganze Reihe von Studien, die sich den Unterschieden zwischen populistischen Bewegungen in verschiedenen Ländern befassen. Auch wäre es eine unzulässige Verkürzung, die Brexit-Entscheidung der Briten auf die populistische Wahlkampfführung des Leave-Lagers zurückzuführen. Die Ursachen liegen tiefer und sind breiter gestreut. Und irgendwie hat Littvay auch zu erwähnen versäumt, dass er am Team Populism maßgeblich beteiligt ist.3

Wenn ein Wissenschaftler gebeten wird, über ein Problem nachzusinnen, sollte er dann nicht mehr zutage fördern, als eine Werbung für seine eigenen Projekte?

III
Der russisch-amerikanische Anthropologe Peter Turchin („Mine the past for patterns“) erwähnt den Brexit mit keinem Wort. Er hat sich auf die Vorhersage aktueller politischer Entwicklung durch mathematische Analysen geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten spezialisiert und dafür den Begriff „Kliodynamik“ erfunden4. Turchin beginnt seinen Kommentar zum Brexit mit der Bemerkung, dass es schwierig sein, Menschen zu einer Zusammenarbeit in sehr großen Gruppen wie der EU zu bewegen. Es sei auch schwierig zu verstehen, wie Menschen überhaupt kooperative Gesellschaften bilden. Aber man komme deutlich weiter, wenn man auf wissenschaftliche Weise historische Daten analysiere. Die EU sei zu schnell gewachsen, und inzwischen auch zu heterogen, schreibt Turchin. Man solle die Entwicklung von klassischen Imperien analysieren, um bessere Strukturen für die EU zu finden. Als erster Schritt solle man „massiv“ in Aspekte der Kliodynamik investieren, genauer gesagt, in die Forschung zur Frage, wie Menschen in der Vergangenheit eine Zusammenarbeit im großen sozialen Maßstab erreicht hätten.

Die Idee, dass eine massive Investition in die eigene Forschung die Welt zu einem besseren Ort macht, ist sicher schon vielen Forschern gekommen. Auch ohne dass sie dafür tief nachdenken müssten.

IV
Der amerikanische Politologe Steven J. Brams findet bei der gründlichen Durchsuchung seiner Seele die Idee eines anderen Abstimmungsverfahrens („Offer more voting options“). Brams‘ Spezialgebiet ist die Spieltheorie und die faire Aufteilung von Ressourcen sowie die Theorie von Wahlen und Abstimmungen. Man hätte mehr Alternativen anbieten sollen und den Wählern erlauben sollen, beliebig viele davon anzukreuzen. Approval voting (Wahl durch Zustimmung) lautet der Fachbegriff für dieses Verfahren. Der Wähler hat dabei die Freiheit zu sagen: „Ich akzeptiere die Alternativen 1,3 und 5, 2 und 4 gefallen mir nicht“. Eine Rangfolge darf er nicht angeben, das könnte zu einer ringförmigen Präferenz führen, die keine eindeutige Aussage zulässt. Nun ist das Brexit-Referendum gelaufen, aber bei ähnlichen vergleichbaren Abstimmungen könnte man das Approval Voting verwenden. Das empfiehlt zumindest Steven Brams. Vielleicht hätte er aber daran denken können, dass Volksabstimmungen in aller Regel nicht die genaue Meinung des Volks herausfinden sollen. Vielmehr will eine Gruppe oder Partei nachweisen, dass sie für ihre Politik eine Mehrheit findet.

Hilft dieser Beitrag also, den Brexit-Schock zu verarbeiten? Ich habe da meine Zweifel. Immerhin wissen wir jetzt, wie andere Staaten nach einer besonders fairen Abstimmung aus der EU ausscheiden können.

V
Den letzte Kommentar („Study how groups collaborate“) hat der österreichische, in Nottingham lehrende Psychologe Simon Gächter verfasst. Die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, könne als Skepsis gegenüber einer weitreichenden multilateralen Zusammenarbeit interpretiert werden, schreibt er. Man solle also untersuchen, unter welchen Bedingungen Gruppen zum gemeinsamen Vorteil kooperieren können.

„Neue experimentelle Studien sollte insbesondere den Einfluss der [Gruppen- oder Stammes-]Identität auf die Zusammenarbeit in und zwischen Gruppen untersuchen, wenn ein Zielkonflikt zwischen Eigeninteresse und gemeinsamem Vorteil besteht oder zu bestehen scheint.“

Es ist nicht unbedingt ein Zufall, dass solche Studien in sein Arbeitsgebiet fallen.

Lehren aus dem Brexit

Alle fünf Beiträge stammen von anerkannten Forschern auf ihrem Gebiet. Die Nature-Redaktion hat sie um „Soul-searchung“ gebeten. Die Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen:

1 x „Weitere Debatten sind nötig.“
1 x „Ein anderes Abstimmungsverfahren für künftige Exit-Referenden wäre sinnvoll.“
3 x „Lehren? Können wir liefern, aber erst nach weiteren Forschungen.“5

Mit Verlaub: Das ist erbärmlich. Europa droht zu zerfallen und fünf renommierte Forscher geben auf ausdrückliche Anfrage von Nature keine sinnvollen Ratschläge. Die meisten Wissenschaftler sind fest davon überzeugt, dass eine enge internationale Zusammenarbeit wichtiger ist als je zuvor. Sonst werden wir Probleme wie Unterernährung, Seuchen, Kriege, mörderischen Fanatismus oder Klimawandel nicht besiegen können. Man dürfe Ziele wie Frieden, Wohlstand und Zusammenarbeit in Europa nicht den Politikern überlassen, schließt Peter Turchin seinen Kommentar. Nur dann müssen die Wissenschaftler dann auch konkrete Vorschläge machen. Sonst dürfen sie sich nicht beklagen, dass man sie nicht mehr fragt.

Anmerkungen

[1] Im Original: These schismatic times have researchers worldwide soul-searching over how best to contribute.

[2] Naja, so ausführlich wie das Format es hergibt: Nature hatte offenbar 500 Worte vorgegeben.

[3] Levente Littvay leitet das Team Survey der Initiative.
Link: https://populism.byu.edu/Pages/Surveys.aspx

[4] Klio ist die Muse der Geschichtsschreibung und der Heldendichtung.

[5] Ob historische Analysen wirklich Leitlinien für aktuelle Politik liefern können, ist durchaus zweifelhaft. Die EU lässt mit dem Reich Alexanders des Großen oder dem römischen Imperium kaum vergleichen. Die EU ist alles andere ein zentral gesteuertes Großreich, sondern ein freiwilliger Zusammenschluss von souveränen Nationalstaaten. Der Kern entstand aus der traumatischen Erfahrung der Weltkriege, die Erweiterung ist dem Zerfall des sowjetischen Imperiums geschuldet. Eine Analyse der EU auf der Grundlage historischer Imperien muss also in die Irre führen. Ich wage auch zu bezweifeln, ob man unbedingt neue Experimente braucht, um Aussagen darüber zu treffen, wie sich Menschen gegenüber der Mitgliedern der eigenen Gruppe im Vergleich zu Mitgliedern fremder Gruppen verhalten. Eine ganze Reihe von Studien aus den letzten Jahren zeigen eine deprimierende Tendenz, die eigene Gruppe unter alle Umständen zu bevorzugen.