Wie heißt es doch so schön in der DFG-Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis? »Gute wissenschaftliche Praxis umfasst … das konsequente Übertreiben der eigenen Ergebnisse.«
Nein, natürlich nicht.
Was dem Herzen naheliegt…
Dort steht, »alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln«. An anderer Stelle wird mit Verweis auf den Physiker und früheren Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Hanz Maier-Leibnitz (1911-2000) erklärt:
Forschung als Tätigkeit ist Suche nach neuen Erkenntnissen. Diese entstehen aus einer stets durch Irrtum und Selbsttäuschung gefährdeten Verbindung von Systematik und Eingebung. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist eine Grundbedingung dafür, dass neue Erkenntnisse – als vorläufig gesicherte Ausgangsbasis für weitere Fragen – überhaupt zustande kommen können. »Ein Naturwissenschaftler wird durch seine Arbeit dazu erzogen, an allem, was er tut und herausbringt, zu zweifeln, … besonders an dem, was seinem Herzen nahe liegt.« (DFG, 2013, S. 40)
Das Zitat von Maier-Leibnitz ist fast so alt wie der Autor dieser Zeilen und stammt aus einer Zeit, in der es der Wissenschaft möglicherweise noch gut ging; aus einer Zeit also, in der man Ideale vielleicht nicht nur hochhalten, sondern auch folgen konnte.
Versagen der Wissenschaft
Erinnern wir uns daran, dass der Economist im Oktober 2013 vom Versagen der Wissenschaft berichtete – und dabei auf Probleme verwies, die vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bekannt sind; jedenfalls denen, die über das Diplom hinaus aktiv waren und vor allem schon einmal selbst in wissenschaftlichen Fachzeitschriften publizieren und Forschungsgelder beantragen mussten.
Teutonen zugänglicher war vielleicht der Aufschrei in der ZEIT nur wenige Monate später: »Rettet die Wissenschaft!« Doch, liebe Leserinnen und Leser, bisher kam kein Supermann und auch keine Superfrau, um die Wissenschaft zu retten. Das war auch nicht anders zu erwarten.
Zu viele profitieren
Schließlich sitzen diejenigen, die vom Status quo profitieren, immer noch auf ihren privilegierten Plätzen; einem Status quo, um es einmal mit den Worten einiger renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu sagen, der vor allem den Nachwuchs auf der Suche nach festen Stellen korrumpiert; einem Status quo, das von Konkurrenzdenken und Hyperwettbewerb zugrunde gerichtet wird.
Wozu das alles? Im Namen von Effizienz und Qualitätssicherung.
Doch sehen wir es einmal positiv: Es ist ein Zustand, der Komikern wie John Oliver inzwischen genügend Stoff liefert, mit Auswüchsen der Wissenschaftskommunikation sein Publikum zu unterhalten. Die allseits beliebten TED-Talks bekommen dabei übrigens auch ihr Fett weg.
Tja, mit Idealen kann man eben keine Stellen finanzieren und auch die immer weiter wachsenden Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation der Forschungseinrichtungen können damit wenig anfangen.
Kritik ist nicht schwer – aber langweilig
Man muss auch nicht überdurchschnittlich intelligent sein, um zu verstehen, warum die Wissenschaft heute so ist; man muss es nur wollen. Es gibt Leute, die darüber schon vor Jahren bloggten – die Texte wurden nicht gelesen und auch nicht kommentiert (Die Größe der Wissenschaft, 2008). Das Publikum will lieber unterhalten werden.
Wie wir gelesen haben, ist ein Grundwert der Wissenschaft der Zweifel. Der Zweifel endet aber dort, wo Ergebnisse publiziert werden müssen, um die Karriere aufzubauen oder auch nur zu erhalten (publish or perish). Es ist weithin bekannt, dass die meisten Fachzeitschriften keine negativen Ergebnisse akzeptieren; in der Medizin kostet das sogar Tier- und Menschenleben – und die meisten publizierten Ergebnisse sind wahrscheinlich falsch.
Selbsternannte Zweifler
Man begegnet im Internet selbsternannten Skeptikern und Aufklärern. Vielleicht retten sie die Wissenschaft? Eher nicht. Lieber belegen sie zum hunderttausendsten Mal den Unsinn irgendwelcher homöopathischer Verfahren. (Tipp: Studien der Wissenschaftskommunikation erklären, warum das ein Kampf gegen Windmühlen ist.) Das macht eben mehr Spaß als echter Zweifel, der bei sich selbst anfängt und vor allem auf das zielt, was dem eigenen Herzen naheliegt; das tut weh.
Die Philosophiegeschichte kennt natürlich eine große Anzahl an Zweiflern und viele Varianten des Skeptizismus (Achtung! Nicht lesen, weil langweilig). Ich kann auch daran zweifeln, dass nun beispielsweise vor mir ein Computer steht, auf dem ich einen Text schreibe. Dann gibt es eben keinen Blogbeitrag. Vielleicht wäre das sogar ein angenehmer Mittag. In jedem Fall wäre es auch nicht das Ende der Welt.
Man kann an allem zweifeln – und am Ende verzweifelt man daran vielleicht. Dem ein oder anderen täte das sogar einmal ganz gut: fallen, kein Ikaros sein, stattdessen aufstehend ein Loblied auf den Phönix singen.
Nützlicher Zweifel
Wenn wir vom Zweifel in der Wissenschaft sprechen, dann muss dieser Zweifel natürlich zweckdienlich sein: Er muss der Suche nach neuen Erkenntnissen dienen. Besagten Skeptikern und Aufklärern werden sich die Fußnägel krümmen, wenn ich daran erinnere, dass nicht erst die DFG auf diese Idee gekommen ist: So stellte etwa auch die christliche Literatur der mittel- und frühneuhochdeutschen Zeit den Zweifel zentral.
Damit kommen wir in die Zeit von Descartes (1596-1650), der bekanntlich ein großer Zweifler war und schließlich im Jahr 1641 auf das Fundament kam, dass selbst wenn an allem gezweifelt wird, die Existenz des Zweiflers doch stets evident ist: cogito ergo sum. Zweifelsfreier Geschichtsblindheit ist es übrigens zu verdanken, dass Descartes heute vor allem als dualistischer Strohmann abgebrannt und sein Beitrag zur Mathematik, Physiologie und Hirnforschung übersehen wird.
Berufszweifler
Doch selbst Descartes kann mangels Wiederauferstehung die Wissenschaft nicht retten. Man könnte es ja mit der Schaffung von Stellen einiger Berufszweifler versuchen. Bislang scheitert diese Initiative aber an Vorgaben zur vermeintlichen Produktivität und Qualitätssicherung. (Hinweis zum Interessenkonflikt: Dem Autor dieser Zeilen konnte man nach fünfzehn Jahren harter Arbeit die Festanstellung gesetzlich nicht länger verweigern.)
Da Berufszweifler über keine nennenswerte Lobby verfügen, ist kurz- bis mittelfristig keine Abhilfe in Sicht. Wie schon vor bald zehn Jahren, ziehe ich mich einstweilen auf die weisen Worte eines verstorbenen Biologen und Philosophen zurück, auch bekannt als »Darwins Bulldogge«. Die Rede ist von Thomas Huxley (1825-1895), übrigens Descarts-Kenner und -Bewunderer.
Agnostizismus
Dieser beschrieb in einem Aufsatz über Agnostizismus das Vernunftprinzip, einerseits gedanklich so weit zu gehen, wie der Verstand einen trägt (heute will ich Erfahrung und Gefühl ergänzen), dabei andererseits aber voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden. Oder viel besser in seinen eigenen Worten:
Agnosticism, in fact, is not a creed, but a method […]. Positively the principle may be expressed: In matters of the intellect, follow your reason as far as it will take you, without regard to any other consideration. And negatively: In matters of the intellect do not pretend that conclusions are certain which are not demonstrated or demonstrable. (Huxley, 1893, Collected Essays, Vol. V, p. 245f.)
(Agnostizismus ist tatsächlich kein Glaube, sondern eine Methode […]. Positiv formuliert kann das Prinzip so ausgedrückt werden: Folge in Sachen des Intellekts so weit deiner Vernunft, wie sie dich tragen wird, ohne Rücksicht auf andere Überlegungen. Und negativ: Gebe in Sachen des Intellekts nicht vor, dass Schlussfolgerungen sicher sind, die nicht bewiesen wurden oder nicht beweisbar sind.)
Sollte das nicht der kleinste gemeinsame Nenner jeglicher Wissenschaftskommunikation sein?
Man wird doch wohl noch träumen dürfen.
Hinweis: Dieser Beitrag entstand in Reaktion auf den Hinweis von Prof. Dr. Timm Grams auf seine Diskussion von Skeptikern und Agnostikern in seinem Blog Hoppla!.
Bildquelle: Phönix von Friedrich Justin Bertuch (1806).