Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stärkt die Substitutionsbehandlung in Haft und bezeichnet deren Verweigerung als unmenschlich.
Einem heroinabhängigen Häftling kann nicht grundsätzlich eine Substitution mit Ersatzstoffen wie Methadon verweigert werden. Im Falle eines früheren Insassen der Justizvollzugsanstalt Kaisheim sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg deshalb die Menschenrechte verletzt.
Der ehemalige Häftling ist bereits seit rund 40 Jahren von Heroin abhängig, zudem HIV-positiv und an Hepatitis C erkrankt. Vor Antritt seiner Haftstrafe 2008 war er bereits seit den 1980er Jahren als erster Heroinabhängiger in Bayern überhaupt substituiert worden. Die JVA Kaisheim hatte ihm eine Behandlung mit einem Ersatzstoff jedoch verweigert. Der Insasse litt dadurch nicht nur unter chronischen Schmerzen. Durch den schlechten mentalen und physischen Gesundheitszustand war es auch nicht möglich, eine notwendige Interferon-Therapie zur Behandlung seiner Hepatitis C durchzuführen. Er entschied sich, gegen die Verweigerung der Substitution in Haft zu klagen. Die deutschen Gerichte gaben der bayrischen Justiz in allen Instanzen – bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht – recht. Der ehemalige Häftling reichte daraufhin Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Der Europäische Gerichtshof hat mit seiner heute veröffentlichten Urteilsbegründung gegenüber der deutschen Rechtsprechung eine klare Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention beanstandet, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Für Johannes Feest, emeritierter Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen, stellt das Urteil „eine schallende Ohrfeige für den bayrischen Vollzug“ dar.
Das Gericht hatte sich nicht auf die Frage eingelassen, ob die Substitution zwingend erforderlich ist. Allein die Unterlassung der zuständigen Behörden, die Notwendigkeit einer Substitution hinreichend zu prüfen, sei rechtswidrig. Die JVA hätte unabhängige Fachleute hinzuziehen müssen. Die Richter hoben auch den Grundsatz hervor, dass Gefangenen eine gleichwertige medizinische Behandlung wie Menschen in Freiheit zusteht. Sie verwiesen auf eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums, die ergeben hatte, dass die Behandlung mit einem Erstatzstoff die beste Therapie für Opiatabhängige sei.
Künftig wird nicht mehr eigenmächtig im Vollzug entschieden werden können, ob eine Ersatzbehandlung mit Methadon angemessen ist oder nicht. Stattdessen müssen solche Fälle genauer geprüft und auch Außengutachten mit einbezogen werden.
(ascho)
Urteilsbegründung (in englischer Sprache)