Medizin aus der Matrix: Prof. Hans Lehrach spricht beim „Innovators Summit – Digital Health“ über den virtuellen Patienten

Innovators Summit Digital Health

Ob seine Ideen schon in der nahen Zukunft Realität werden, ist ungewiss. Fest steht aber: Prof. Hans Lehrach hat die Digitalisierung zu Ende gedacht. Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin arbeitet an computergestützten Simulationen von Patienten, die Therapie und Vorsorge revolutionieren könnten. Das ist mehr als bloße Zukunftsmusik: In der Krebstherapie kann Lehrach schon jetzt Erfolge vorweisen. Auf dem „Innovators Summit – Digital Health“ von Technology Review spricht er über seine Forschungen. Der Digital-Health-Gipfel, unterstützt von SAP sowie Boehringer Ingelheim und in Partnerschaft mit der Stiftung Gesundheit, dem Medizin-Management-Verband sowie den Healthcare Shapers, führt am 30. November Experten und Entscheider aus Gesundheit und IT in Berlin zusammen.

 

Der Genetiker Prof. Hans Lehrach spricht auf dem Innovators Summit - Digital Health. © MPI

Der österreichische Genetiker Prof. Hans Lehrach spricht auf dem Innovators Summit – Digital Health. © MPI

Herr Lehrach, wie würden Sie Ihre Vision von der Medizin der Zukunft auf den Punkt bringen?

Idealerweise steht Ärzten in Zukunft ein virtueller Zwilling jedes Patienten zur Verfügung, an dem er seine Behandlung ausprobieren kann. Das Konzept ist einfach: Wir müssen in der Medizin so weit kommen, dass wir in immer größeren Bereichen der Therapie und Prävention systematisch alle möglichen Behandlungen an virtuellen Patienten erproben können. Wenn wir beispielsweise 90 bis 95 Prozent der adverse drug reactions, also unerwünschten Nebenwirkungen, vermeiden könnten, wäre das schon ein großer Gewinn für die Betroffenen. In der Krebstherapie haben wir mit der Modellierung von Tumoren schon sehr gute Ergebnisse erzielt.

 

Wenn man diese Idee mit der Behandlungs-Realität vergleicht, scheint der Weg dahin noch weit zu sein.

Dabei versuchen wir schon heute in fast allen Bereichen unseres Lebens, Fehler nicht in Wirklichkeit, sondern an Computermodellen zu begehen. Wir bauen doch keine Hochhäuser und warten dann gespannt, ob sie beim ersten Herbststurm zusammenkrachen – sondern wir simulieren sie vorher am Computer und setzen sie spezifischen Wetterlagen aus; allem, was in Mitteleuropa auch nur denkbar ist. Wir können durch alle Bereiche gehen, im Autobau gibt es virtuelle Crashtests, selbst elektrische Zahnbürsten werden zuerst am Computer getestet. Die einzigen Bereiche, in denen das nicht passiert, sind die Medizin und die Medikamentenentwicklung. Dort machen wir unsere Fehler, die natürlich unvermeidbar sind, noch immer in der Realität.

„Das Problem ist, dass unsere Gesundheitssysteme gewisse Ähnlichkeiten mit der Titanic haben“

Viele Bereiche der Medizin sind natürlich hochpersonalisiert. Wenn Sie einen komplizierten Bruch am Arm haben, kann der Arzt mithilfe der Magnetresonanztomographie genau anschauen, was das Problem ist und seine Therapie daran anpassen. Wenn Sie aber eine medikamentöse Behandlung bekommen, dann passiert Ihnen das Äquivalent dazu, dass Sie sich den linken Arm brechen und einen Gips am rechten bekommen – einfach weil sich in einem klinischen Versuch die meisten Leute den rechten Arm gebrochen haben. Diese Situation ist aus Sicht der Patienten sehr unbefriedigend. Aber auch aus Sicht der Gesellschaft: Wir geben enorme Beträge aus, die Gesundheitskosten belaufen sich allein in Europa auf rund vier Milliarden Euro pro Tag. Und davon entfällt ein nicht unbeträchtlicher Teil auf Medikamente, die bei den Patienten nicht wirken oder sogar massive Folgeschäden und -kosten verursachen. Adverse drug reactions sind allein in Europa jedes Jahr für rund 200.000 Todesfälle verantwortlich. In Krebstoten definiert landen wir da knapp unter Lungenkrebs und oberhalb von Darmkrebs.

Das Problem ist, dass unsere Gesundheitssysteme gewisse Ähnlichkeiten mit der Titanic haben und sich niemand den Kopf darüber zu zerbrechen scheint. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das kosten- und personalintensive Gesundheitswesen in seiner jetzigen Form auf Dauer nicht durchzuhalten sein wird. Massive Rationierungen werden die Folge sein. Wenn wir das vermeiden wollen, sollten wir überlegen, wie wir das Gesundheitssystem anders organisieren können.

 

Wie genau möchten Sie den Eisberg denn umschiffen?

Wir müssen einerseits versuchen, auch die medikamentöse Therapie zu personalisieren, also jedem Patienten die Medikamente zu geben, die bei ihm die beste Wirkung und die geringsten Nebenwirkungen zeigen. Wir sequenzieren zum Beispiel bei Patienten den Tumorgenom/Exom und Transkriptom, sowie das Genom des Patienten. So erhalten wir Hinweise, welche Medikamente verwendbar sind und steigern so die wirtschaftliche und medizinische Effizienz der Therapie. Je mehr wir imstande sind, Modelle des Patienten zu entwickeln, an denen wir alle möglichen Therapien und Präventionsmaßnahmen testen können, desto gezielter, besser und kostengünstiger werden Therapie und Prävention, und desto besser und kostengünstiger wird die medizinische Versorgung. Wir würden Ärzten gerne die Möglichkeit an die Hand geben, interaktiv mit einem Bild der Signalwege im Patienten, im Tumor und in anderen Geweben zu arbeiten, mit dem sie dann bestimmte Medikamente in bestimmen Dosen testen können. Jeder Patient ist verschieden, kein Tumor ist gleich. Und selbst die einzelnen Zellen eines Tumors können unterschiedlich auf ein und dasselbe Medikament ansprechen. Das Ziel ist, den Tumor nicht im Mittel, sondern tatsächlich als Gruppe von einzelnen Zellen simulieren zu können. Wir müssen also noch viel mehr in die Komplexität einsteigen, die wir derzeit nur auf Kosten der Patienten und der Gesellschaft ignorieren können. Wir sind weit davon entfernt, die vorhandenen technologischen Möglichkeiten ausgereizt zu haben. Also müssen wir nur das, was wir in der Medizin als naturnotwendigen Goldstandard akzeptieren, mit dem vergleichen, was wir in anderen Bereichen akzeptieren oder nicht akzeptieren würden.

Wir haben aber auch enorme Möglichkeiten zu Effizienzgewinnen in der Entwicklung neuer Medikamente. Zum Beispiel durch ‚virtuelle klinische Versuche’, die bereits vor Beginn der präklinischen Entwicklung eine weit gezieltere Auswahl von Entwicklungskandidaten erlauben könnten.

 

Dafür sind aber der Austausch und die Speicherung hochsensibler Patientendaten notwendig, was in Deutschland ja schon bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für viel Skepsis gesorgt hat. Sehen Sie diese Mentalität als Problem?

(lacht) Natürlich! Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen in Deutschland schon am Datenschutz gestorben sind. Die Sache ist doch ziemlich verrückt. Der Grund, warum der Datenschutz so wichtig genommen wird, ist doch vor allem die Haltung der Gesunden. Nur: Wenn sie dann plötzlich Krebs haben, bringt sie das um. Ich weiß nicht, ob das auf Dauer eine vernünftige Strategie sein kann. Den Krebspatienten ist der Datenschutz unwichtig. Die wissen nämlich, was wichtig ist: ihr Überleben.

 

Wir haben viel über Krebs gesprochen. Ihr Ansatz ist aber natürlich für alle möglichen Krankheitsbilder denkbar. Dafür wären auch weitere Daten relevant, wie sie beispielsweise Wearables schon jetzt über das Herz-Kreislauf-System erzeugen. Sind Wearables und Health-Apps für Sie mehr als bloße Spielzeuge?

Na unbedingt! Die Sensortechniken und das Imaging werden immer besser. Das heißt, wir können je nach Therapiebereich die entsprechenden Werkzeuge einsetzen. Gerade die Herz-Kreislauf-Medizin ist extrem sensorlastig. Aber auch bei Krebspatienten können wir anhand der Pulsfrequenz sehen, wann ein Patient schwächer wird. Das ist für den Arzt natürlich relevant. Außerdem untersuchen wir zum Beispiel gerade das Immunsystem von eineiigen Zwillingen, von denen einer Typ I Diabetes oder Lupus hat, um die nicht-genetischen Komponenten dieser Krankheiten besser zu verstehen und modellieren zu können. Krebs ist also wirklich nur der erste Schritt. Alles, was wir detailliert messen und in ein Modell des Patienten übersetzen können, ist extrem nützlich. Ich würde als langfristige Entwicklung gerne sehen, dass jeder von Geburt an bis ins hohe Alter ein individuelles Modell von sich selbst als eine Art Schutzengel zur Verfügung hat. So könnte beispielsweise die Apotheke checken, ob ein neues Medikament auch zur restlichen Medikation des Patienten passt. So ein Modell kann dem Menschen aber auch außerhalb medizinischer Anwendungen ganz neue Möglichkeiten geben, rationaler mit seinem Körper umzugehen. Zum Beispiel, um seine körperliche Leistungsfähigkeit im Fitnessstudio gezielter steigern zu können.

 

Wie weit sind wir denn auf dem Weg zum digitalen Patienten?

In der Onkologie sind wir bereits sehr weit. Momentan liegt noch sehr viel Betonung auf der Modellierung des eigentlichen Tumors. Wir müssen aber natürlich auch die Normalgewebe modellieren, solange es von den Ressourcen möglich ist. Ich schreibe gerade einen Antrag zur Modellierung des menschlichen Immunsystems, um die Immuntherapie  auch über solche mechanistischen Modelle zu optimieren. Es ist eigentlich völlig klar, was gemacht werden muss. Es ist einfach eine Frage der Mittel, die dafür zur Verfügung stehen.

 

Und eine verbesserte Medizin kostet zuerst mal Geld, bevor sie hilft, Geld zu sparen?

Genau. In vielen anderen Bereichen investiert der Staat, direkt oder indirekt, große Beträge als Anschubfinanzierung, um neue Technologien wie Solarzellen oder Elektroautos ausreichend leistungsfähig und kostengünstig zu machen, damit sie sich auf dem Markt durchsetzen können. Es ist bedauerlich, dass die detaillierte molekulare Analyse von Krebspatienten, die bereits imstande wäre, die Patientenbehandlung sehr signifikant zu verbessern, nicht ebenfalls im Rahmen einer solchen Anschubfinanzierung allen Patienten zugänglich gemacht wird. Auch hier gilt, dass die momentan noch relativ hohen Kosten durch eine breite Anwendung rasch sinken würden, während parallel dazu diese Verfahren in der Anwendung immer besser werden würden – also der gleiche Effekt, der auch bei Solarzellen oder Elektroautos erwartet wird. Sind uns Elektroautos wirklich wichtiger als Krebspatienten, sind uns Solarzellen wichtiger als die Zukunft unserer Gesundheitssysteme? Man fragt sich, ob die Prioritäten richtig gesetzt werden. Aber das betrifft auch die Patienten, die oft nicht auf die Idee kommen, etwas selbst zu finanzieren, das die Krankenkasse nicht trägt – selbst, wenn es ihnen das Leben retten könnte.

Die Entwicklung des Gesundheitssystems auf den Abgrund zu sollte also durch den vollen Einsatz der neuen Analyse- und Computertechniken gebremst werden. Wir sequenzieren mittlerweile nahezu millionenfach günstiger als zur Zeit des Human-Genom-Projekts. In 20 Jahren ändert sich die Kapazität der Supercomputer ebenfalls um rund eine Million. Es erscheint nicht besonders vernünftig, diese rasanten Entwicklungen nicht für die Gesundheit einzusetzen – auch wenn das mit anfänglichen Investitionen verbunden ist. Es ist aber leider so, dass alle Missstände, die lange genug existieren, als normal empfunden werden. Dass jedes Jahr rund 250.000 Menschen in Deutschland an Krebs sterben, muss doch keine Normalität bleiben.

 

Weitere Informationen und das Anmelde-Formular zum „Innovators Summit – Digital Health“ gibt es hier.