Erst flüchtet seine Mutter mit ihm in den Westen, später will er unbedingt zurück in die DDR. Vor 25 Jahren starb der Schriftsteller Ronald M. Schernikau an den Folgen von Aids.
Als sich am 9. November 1989 Menschen aus Ost und West in die Arme fielen, war Ronald M. Schernikau ganz sicher nicht zum Feiern zumute. An diesem Tag, sagte er im März 1990 auf dem Außerordentlichen Schriftstellerkongress der DDR, hatte in Deutschland die Konterrevolution gesiegt.
„Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, das der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt,“ rief Schernikau bei seiner Rede den Kolleg_innen zu und erhielt dafür Buh-Rufe.
Ronald M. Schernikau, 1960 in Magdeburg geboren, war eine männliche Diva, eitel und exzentrisch. Einer, der Schlager liebte und manchmal auch öffentlich vortrug. Der für Marianne Rosenberg den Song „Amerika“ schrieb, sich selbst als „die Milva der deutschen Literatur“ bezeichnete. Ein träumerischer Visionär und überzeugter Kommunist mit einem Lebenslauf, wie ihn sich kein Romancier oder Drehbuchautor ausdenken könnte.
„Die Milva der deutschen Literatur“
Als Sechsjähriger hatte er den Weg von der DDR in die BRD im Kofferraum eines Fluchtautos zurückgelegt. Die Mutter war einem Mann in den Westen gefolgt, doch der war, wie sich herausstellte, nicht nur mittlerweile verheiratet, sondern auch noch Nazi.
So wuchs Ronald in Lehrte bei Hannover auf, trat mit sechzehn in die Deutsche Kommunistische Partei ein und veröffentlichte mit achtzehn sein erstes Buch. „kleinstadtnovelle“, die Geschichte eines schwulen Coming-outs in einer Kleinstadt, wurde ein geachteter Erfolg und sorgte für Aufsehen, nicht nur wegen des Themas, sondern auch wegen der literarisch ambitionierten Form.
Schernikau zog fürs Studium nach West-Berlin, verfolgte weiterhin seine Schriftstellerkarriere und wurde aktives Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins. 1986 gelang es ihm als einzigem Bundesbürger überhaupt, am Johannes-R.-Becher-Institut für Literatur in Leipzig zu studieren.
Drei Jahre später erfüllte sich schließlich ein anderer, langgehegter Wunsch. Während bereits viele DDR-Bürger_innen über den Umweg der bundesdeutschen Botschaften ihr Land verließen, nahm Schernikau im September 1989 die DDR-Staatsbürgerschaft an und siedelte offiziell von Berlin (West) nach Berlin (Ost) über. Er wurde dafür von vielen belächeltet oder mit Unverständnis betrachtetet und zum gefragten Talkshowgast.
Der revolutionäre Romantiker und idealistische Nostalgiker war im Westen wie im Osten ein Exot. Schernikau liebte die DDR, genauer gesagt, seine Idee davon, wie die DDR sein müsste, er war allerdings alles andere als ein linientreuer Kommunist.
Seine Erfahrungen der drei Jahre als West-Stipendiat am Leipziger Literaturinstitut schrieb er in dem Buch „die tage in l.“ nieder. Doch Schernikau saß wieder einmal zwischen den Stühlen. Kein DDR-Verlag wollte das Werk herausbringen. Dafür war seine Sicht auf den real existierenden Sozialismus zu kritisch.
Rückkehr in die geliebte DDR
Im Westen hingegen hatten viele Probleme mit Schernikaus rosaroter Brille beim Blick auf die längst im Umbruch befindliche DDR. Veröffentlicht wurden die essayistischen Aufzeichnungen (mit dem bemerkenswerten Untertitel „darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur“) schließlich vom westdeutschen konkret-Verlag.
Als Schernikau 1991 an den Folgen von Aids starb, waren neben „die tage in l.“ lediglich einige weitere Texte in Zeitschriften oder als Privatdrucke erschienen. Sein sprachlich ambitioniertes Stück „Die Schönheit“, ein Südstaaten-Drama um Waffenhandel, Ost-West-Konflikt und den Widerstreit von Marxismus und Leninismus, wurde zwar 1987 in Berlin von einem Tuntenensemble uraufgeführt, aber nicht nachgespielt. Der groß angelegte und kurz vor seinem Tod beendete Montage-Roman „legende“ konnte erst 1999 posthum veröffentlicht werden.
So ist die seit einigen Jahren anhaltende Wiederentdeckung Schernikaus vor allem der in vielerlei Hinsicht lesenswerten Biografie „Der letzte Kommunist“ zu verdanken. Der Autor Matthias Frings steht dieser schillernden Person mit seinen streitbaren Lebens- und Weltansichten durchaus kritisch gegenüber, vor allem aber wird er seiner Komplexität gerecht.
Herausgekommen ist dabei eine alles andere als trockene biografische Studie, sondern wahrhaft romanhaftes Lesefutter. „Der letzte Kommunist“, 2009 nominiert für den Leipziger Buchpreis, ist eine oft ungemein komische, dann wieder zu Tränen rührende Geschichte von verlorenen wie verkorksten (linken) Träumen.
Das Buch bietet zugleich einen lebendigen Blick in die Westberliner Schwulenszene der Achtzigerjahre und deren Reaktionen auf die aufkommende Aidskrise. Schernikau, der seine Sexualität selbstbewusst und promisk lebte, verweigerte sich der Hysterie dieser Jahre und lehnte die als Einschränkung empfundenen Vorsichtsmaßnahmen ab. Der Gedanke, dass auch er HIV-infiziert sein könnte, schien ihn wenig zu beunruhigen. Auch einen Test lehnte er ab. Im Sommer 1990 war sein linkes Auge mit Blut vollgelaufen, ein befreundeter Arzt riet ihm, sich den HIV-Spezialist_innen im Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum anzuvertrauen.
Nur wenige Menschen wussten von seiner Aidserkrankung
Die spärliche Zahl verbliebener Helferzellen war eindeutig. Nur wenigen Menschen erfuhren von seiner Aidserkrankung, um sich nur nicht zum Opfer machen zu lassen, sich nicht Mitleidsbekundungen und Klatsch auszusetzen.
Selbst die Mutter erfuhr es bis zuletzt nicht. Ihre Fürsorge hätte er nicht ertragen können, noch weniger ihre Trauer. „Als ein Mitarbeiter der Aids-Hilfe seine Hilfe anbietet, schmeißt er ihn hochkant aus dem Zimmer“, schreibt Frings.
Während die Vereinigung der DDR und BRD voranschritt, verschlechterte sich Schernikaus Gesundheitszustand. Die Ärzt_innen verordneten ihm AZT, das einzige Medikament, das damals für die HIV-Behandlung zur Verfügung stand. Schernikau wusste, dass die Zeit knapp wurde.
Die, die ihm aber noch blieb, wollte er nutzen, um seinen Roman „legende“ fertigzustellen. Auch den Nachruhm hatte er bereits im Blick: Er sichtete und ordnete den Nachlass und verfasste ein Testament. Die Erkrankung schritt unerbittlich voran, und in seinen letzten Lebenstagen konnte er die Schmerzen nur mit Morphium ertragen.
Am Vormittag des 20. Oktober 1991 starb Schernikau im Dämmerschlaf. Sein Wunsch, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, also in der Nachbarschaft zu Heiner Müller und Bertold Brecht beigesetzt zu werden, gingt nicht in Erfüllung. Er wurde stattdessen auf dem Friedhof Georgen-Parochial II in Berlin-Friedrichshain bestattet. Dafür aber werden nun seine Manuskripte, Artikel, diverse Fassungen seiner Bücher und andere Papiere am selben Ort wie die Werke seiner verehrten Schriftstellerkollegen verwahrt: im Archiv der Berliner Akademie der Künste. Anlässlich des 25. Todestages wurde das Schernikau-Archiv nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Von Ronald M. Schernikau sind neben „Kleinstadtnovelle“, „die tage in l.“ auch das biografische Buch über das Leben seiner Mutter, „Irene Binz. Eine Befragung“, die schwule Liebesgeschichte „So schön!“ sowie die Aufsatzsammlungen „Königin im Dreck“ lieferbar.
Matthias Frings’ „Der letzte Kommunist“ liegt inzwischen als Taschenbuch vor (Aufbau Verlag, 12,95 Euro). Zum Todestag erscheint im Verbrecher Verlag mit „‘Lieben, was es nicht gibt’: Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau“, eine Sammlung mit Vorträgen der Schernikau-Konferenz 2015.
Mehr Informationen über Schernikau gibt es auf www.schernikau.net