Entschädigung für Opfer des Paragrafen 175 rückt in greifbare Nähe

Referentenentwurf des Justizministeriums sieht neben Rehabilitierung unbürokratische individuelle Entschädigungen, aber keine Kollektiventschädigung vor

Schätzungsweise 65.000 Männer wurden von 1949 bis zur endgültigen Aufhebung des Paragrafen 175 des Strafgesetzbuchs im Jahr 1994 wegen sexueller Handlungen mit Personen männlichen Geschlechts verurteilt. Ein am 21. Oktober vom Bundesjustizministerium zur Abstimmung versandter Referentenentwurf sieht nun ihre Rehabilitierung und Entschädigung vor.

Mit dem „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ sollen alle in der Bundesrepublik und der DDR wegen homosexueller Handlungen gefällten Urteile kollektiv aufgehoben werden (die DDR bekam 1968 ein eigenes Strafgesetzbuch, dessen Paragraf 151 StGB-DDR nur noch sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen gleichen Geschlechts mit einer Freiheits- oder Bewährungsstrafe bedrohte).

„Ein starkes Signal, auch wenn nicht alle Forderungen erfüllt wurden“

Einzige Voraussetzung: Es handelte sich um einvernehmliche sexuelle Handlungen und es waren keine Jugendlichen unter 14 Jahren beteiligt. Auf eine langwierige Einzelfallprüfung will man verzichten, stattdessen soll die Glaubhaftmachung der Verurteilung genügen.

Laut queer.de sollen Verurteilte bei der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft eine Rehabilitierungsbescheinigung beantragen können, bei Verstorbenen könnten auch Ehegatten, Lebenspartner, Verlobte, Verwandte, Verschwägerte, Geschwister und notfalls Personen mit einem berechtigten Interesse einen solchen Antrag stellen.

Die noch lebenden Opfer dieser grundrechtswidrigen Verurteilungen sollen außerdem individuell entschädigt werden. Auf Antrag soll den Betroffenen pro Urteil 3.000 Euro bezahlt werden, zudem 1.500 Euro für jedes angefangene Jahr erlittenen Freiheitsentzugs.

Das Bundesjustizministerium rechnet Medienberichten zufolge in den kommenden fünf Jahren mit etwa 5.000 Entschädigungsanträgen und einer Summe von 30 Millionen Euro. Der Entwurf soll nun innerhalb der Bundesregierung abgestimmt werden, Rückmeldungen wurden laut queer.de bis zum 2. November erbeten.

Überfällige Rehabilitierung jetzt zügig umsetzen

Henny Engels, Sprecherin des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD), begrüßte, dass Justizminister Heiko Maas den Entwurf in die Ressortabstimmung gegeben habe, und drängte auf eine zügige Beratung der Regierung. „Die Opfer der menschenrechtswidrigen Verfolgung von Homosexualität warten schon viel zu lange darauf, dass ihnen endlich Gerechtigkeit widerfährt“, so Engels.

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann begrüßte den Entwurf ebenfalls. Auch wenn Unrecht sich mit Geld nicht wiedergutmachen lasse, sei es höchste Zeit, dass die mehrheitlich hochbetagten Opfer endlich entschädigt werden. „Ihre Rehabilitierung ist überfällig“, so Hoffmann. „Sie ist wichtig, weil der demokratische Rechtsstaat damit korrigiert, was menschenrechtswidrig und Ausdruck größter Intoleranz war: die Kriminalisierung von Homosexuellen.“

De neu gewählte Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD Petra Nowacki hält es für „richtig und wichtig“, dass der §175 StGB als „Schandfleck unsere Justizgeschichte“ wahrgenommen werde.

Jasper Prigge, stellvertretender Landessprecher der LINKEN in NRW, sieht die Opfer der Schwulenverfolgung durch die geringen Entschädigungszahlungen hingegen erneut entwürdigt. Er verwies darauf, dass zu Unrecht Inhaftierte normalerweise Anspruch auf mindestens 9.125 Euro Entschädigung für die erlittene Haft plus Ansprüche auf Entschädigung für erlittene Vermögensschäden hätten. Prigge hält es deshalb für inakzeptabel, „dass es überhaupt keine Entschädigung für die Folgen eines Arbeitsplatzverlustes durch eine Verurteilung nach Paragraf 175 StGB geben“ solle. Viele der noch lebenden Opfer lebten deshalb von Mini-Renten, weil sie durch ihre Haftzeit und die daran anschließende gesellschaftliche Stigmatisierung keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit fanden.

Auch Volker Beck von den Grünen hält die geplanten Entschädigungsregelungen für unzureichend. „Schon die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens konnte die gesamte bürgerliche Existenz vernichten: Ende der Karriere, Verlust des Arbeitsplatzes oder Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. Eine Entschädigung, die nur verurteilten Opfer dieser Unrechtsurteile zusteht, missachtet das Ausmaß der Wirkung des § 175.“

Offen bleibt eine Kollektiventschädigung

Manuel Izdebski, Mitglied des Vorstands der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) und für die DAH im Facharbeitskreis §175, der von der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e.V. (BISS) einberufen wurde, bezeichnete den Gesetzentwurf in einem Gastkommentar auf queer.de hingeben als „starkes Signal“. Zwar hätten sich alle eine höhere Entschädigung für die Betroffenen gewünscht. Doch die Tatsache, dass unser Rechtsstaat sich selbst korrigiere, sei ein Wert an sich, den man nicht geringschätzen soll.“ Das Gesetz nun abzulehnen, weil es nicht alle Forderungen gleichermaßen erfülle, verkennt laut Izdebski „die historische Dimension des Vorhabens“.

Offen bleibe aber eine angemessene Kollektiventschädigung, wie sie etwa BISS und die Deutsche AIDS-Hilfe gefordert haben. „Es fehlt eine Wiedergutmachung für die Generation, deren Lebensglück durch den Paragrafen 175 beeinträchtigt wurde“, so Idzebski. Eine solche Kollektiventschädigung sei aber offenbar für die Unionsfraktion im Bundestag nicht zu machen gewesen. Hier lohne es sich, „am Ball zu bleiben und für die Zeit nach der Wahl 2017 als Ersatz ein Förderprogramm für schwul-lesbische Altenarbeit einzufordern, um diejenigen kollektiv zu bedenken, die unter dem Schandparagrafen gelitten haben“.