Gesundheit für alle!

Mit Verabschiedung der Ottawa-Charta vor 30 Jahren trat ein Paradigmenwechsel in der Gesundheitsförderung ein. Was bedeutet dieses Grundlagenpapier heute? Wir haben Akteur_innen im Feld Gesundheit und Prävention gefragt.

Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern beziehungsweise verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel.

So lautet eine zentrale Aussage der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die am 21. November 1986 auf der 1. Internationalen Konferenz für Gesundheitsförderung verabschiedet wurde. Neben Leitprinzipien für ein neues Verständnis von Gesundheit enthält das Papier auch den Aufruf zu aktivem Handeln – mit dem Ziel „‚Gesundheit für alle‘ bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus“.

Prävention durch Stärkung des Individuums

Der Verabschiedung vorausgegangen waren Konferenzen in den sechs Regionen der WHO wie die 1982 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gemeinsam mit dem WHO-Regionalbüro für Europa veranstaltete Tagung zu Lebensweisen und Lebensbedingungen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit. Mit der Ottawa-Charta verbunden war auch der deutliche Hinweis, dass Prävention mit Angst- und Schreckensbildern nicht funktionieren kann, sondern durch Stärkung des Individuums in seinen zu achtenden Lebensbezügen erfolgen muss.

Gundula Barsch, Professorin an der Hochschule Merseburg, Soziologin, Sozialarbeitswissenschaftlerin und Drogenforscherin, sieht durch die Charta einen grundlegenden Wandel in der Betrachtung von Gesundheit und Mensch eingeleitet:

„Der besondere historische Wert der Ottawa-Charta muss wohl vor allem darin gesehen werden, dass sie die zentrale Bedeutung von Emanzipation und Selbstbemächtigung sowohl des Einzelnen als auch sozialer Gruppen und kultureller Milieus für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen herausgestellt hat – ein Ansatz, der zudem durch keine anderen Konzepte und Methoden ersetzt werden kann. Für die Richtigkeit dieser Leitidee spricht, wie schnell und umfassend sie in so ziemlich allen Bereichen sozialen Wirkens aufgegriffen und zu einem tatsächlichen Paradigmenwechsel sowohl in vielen Bereichen der Politik als auch in allen möglichen Feldern von Vor-Ort-Arbeit geführt hat.“

So bedeutsam wie für andere die Bibel

Für Rainer Schilling, ehemaliger Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH), war die Ottawa-Charta, als er 1987 zur DAH kam, so bedeutsam wie für andere die Bibel. Sie stand in seinem Regal, und immer wieder mussten die übrigen im Haus Tätigen dort reinschauen. Er meint gar, er sei der Einzige gewesen, der den Text besaß.

Dem Geist des Lebensweisenkonzepts, wonach gesundheitsbezogenes Verhalten auch durch soziale Faktoren beeinflusst ist, fühlte er sich schon vorher in der Schwulenbewegung verpflichtet, aber mit der Charta gab es endlich die offizielle Bestätigung dafür, dass er mit seinem Gefühl richtig lag. Für seine Arbeit hieß das auch, den unseligen § 175 abzuschaffen, das Coming-out für schwule Männer und andere sexuelle Identitäten zu erleichtern, Räume für Lebensstile zu schaffen, die von denen der Mehrheit abweichen, und die Kommunikation zu fördern.

Der Gesundheitswissenschaftler und derzeitige Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands, Prof. Rolf Rosenbrock, stellte 1998 in seiner Veröffentlichung zur Umsetzung der Charta in Deutschland fest: „Gemessen an den Notwendigkeiten und den Möglichkeiten spielen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland nach wie vor eine nahezu verschwindend geringe Rolle. Dies gilt – cum grano salis – für die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, für die Forschung und Erprobung, für die Qualifizierung, die Bildung von Institutionen und – generell – die Bereitstellung von Ressourcen für diesen Zweck.“

Die erfolgsreichste Umsetzung fand im Aidsbereich statt

Er ruft in Erinnerung, „dass zumindest die alte Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten präventionspolitisch ein Entwicklungsland war“, sagt aber auch, dass die erfolgreichste Umsetzung der Grundgedanken der Charta in der BRD im Aidsbereich stattfand: „In der Anwendung dieses Konzepts erhielten die Aids-Selbshilfeorganisationen wichtige Aufgaben, es bildeten sich völlig neue Akteurskonstellationen, und es wurde mit öffentlichen Mitteln z. B. auch Infrastruktur für die hauptsächlich betroffenen Gruppen, schwule Männer und i.v. Drogenbenutzer, gefördert, um

Kommunikation, soziale Kohärenz und die Herausbildung kollektiver Verhaltensnormen zu fördern. Das erfolgreiche Modell der strukturgestützten, lebensweisebezogenen und zielgruppenspezifischen Verhaltensmodifikation der Aids-Prävention ist bei weitem noch nicht auf seine Verallgemeinerungsmöglichkeiten für andere Risiken ausgelotet.“

Prof. Gundula Barsch macht für den Beginn der Neunzigerjahre einen Aufbruch in der Drogenpolitik aus und sieht diesen auch durch die Ottawa-Charta bewirkt:

„Auch wenn es in diesem Bereich besonders behäbig und schwerfällig voranging, wurde die Leitidee von Emanzipation und Selbstbemächtigung zumindest in den 1990er-Jahren auch zur Orientierung, den Bereich von Drogen- und Suchtkrankenhilfe neu zu durchdenken. Das Menschenbild der akzeptierenden Drogenarbeit und die daraus abgeleiteten Ansätze von Suchtbegleitung und Befähigung zu einem autonomen und damit selbstkontrollierten Konsum können als die Eruptionen in diesem Bereich gelten. Diese grundsätzlich neuen Sichtweisen auf Menschen und deren Gesundheit drohen allerdings auch nach 30 Jahren durch eine sich durchsetzende strikte Medizinalisierung von Hilfen für ‚Abhängigkeitskranke‘ wieder in Frage gestellt zu werden.“

Emanzipation und Selbstbemächtigung – auch im Umgang mit Drogen gefragt

Während eines Forschungssemesters, das sie zurzeit in Kalifornien absolviert, erlebt sie die dortige Legalisierungsdebatte hautnah und sieht Chancen für eine grundlegende Veränderung der amerikanischen Drogenpolitik. Für Deutschland schätzt sie das wesentlich finsterer ein: „Auch wenn es an einigen Stellen bröckelt, wohl eine der letzten Bastionen, die eine tatsächliche Umsetzung der Grundideen der Ottawa-Charta erfolgreich abwehren konnte, ist bis heute die Suchtprävention. Wie auch immer die modernen Labels für bestimmte Projekte und Kampagnen sind, sie alle bedienen noch immer ein Abstinenzideal, aus dem sich ableitet, dass Emanzipation und Selbstbemächtigung in Bezug auf den Umgang mit psychoaktiven Substanzen unerwünscht sind. Die Positionierung zu dem Theorem der Drogenmündigkeit, das herausstellt, dass der Gegensatz von Abhängigkeit nicht Abstinenz, sondern ein autonom kontrollierter, selbstbestimmter Umgang mit psychoaktiven Substanzen ist, der auch die selbstgewählte Abstinenz einschließt, wird insofern zu einer Messlatte dafür, wie die Grundideen der Ottawa-Charta auch in diesem Bereich eine Chance auf Durchsetzung bekommen. Zugelassene Prozesse des Lernens und der Kultivierung werden zu Marksteinen dafür, wie man auf diesem Weg vorangekommen ist.“ Bisher, sagt Barsch, würden Jugendlichen die Erziehung zur Drogenmündigkeit und eine realistische Auseinandersetzung mit den Chancen aber auch den Risiken des Drogenkonsums verwehrt.

Bärbel Knorr, fachliche Leitung des Bereichs Strafvollzug bei der Deutschen AIDS-Hilfe, hat mit noch schwierigeren Problemen zu kämpfen: „Der Bayerische Vollzug und die deutschen Gerichte mussten erst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte darauf hingewiesen werden, dass auch suchtkranke Gefangene Anspruch auf eine Behandlung ihrer Suchterkrankung haben, die den ärztlichen Leitlinien entsprechen“, berichtet sie.

Selbstbestimmung und Lebensweisenakzeptanz = Fremdwörter im Justizvollzug

In einem System, das Gefangene fit für den Alltag in Freiheit machen will, indem es sie einsperrt und teils jahrelang noch nicht einmal eine Tür eigenständig öffnen und schließen lässt, sind Selbstbestimmung und Lebensweisenakzeptanz Fremdwörter. Sie wünscht sich eine grundlegende Änderung der Drogenpolitik und einen radikalen Umbau des Vollzugs. Wie es mit der Einführung des bundesweiten Vollzugsgesetzes 1977 geplant war, das inzwischen jedoch durch einen Flickenteppich länderspezifischer Regeln abgelöst wurde, sollte der offene Vollzug wieder zur Regel sowie Kranken- und Rentenversicherung auch in Haft zur Selbstverständlichkeit werden. Dann wäre auch für Gefangene der Weg offen – im Sinne der Ottawa-Charta –, in einem selbstbestimmten Leben gesundheitsfördernde Ressourcen zu nutzen.

Völlig aus dem Blick geraten sind die Grundsätze der Charta auch beim aktuellen Umgang mit Sexarbeit und bei der Versorgung nicht krankenversicherter Menschen, insbesondere bei Flüchtlingen, die in Deutschland kein Asyl erhalten.

In den dreißig Jahren seit ihrer Verabschiedung hat die Charta nichts von ihrer Aktualität verloren. Seitdem sind durch Erreichung des Rentenalters viele Akteur_innen aus der Gesundheitspolitik ausgeschieden. Es ist an der Zeit, die Ottawa-Charta der nachfolgenden Generation ans Herz zu legen.