In dem Aufsatzband „Selbsthass & Emanzipation“ gehen 15 Autor_innen der Frage nach, welche Folgen der Druck der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft auf sexuelle Minderheiten wie Lesben, Schwule und trans* Menschen hat.
„Kehrt jetzt der schwule Selbsthass zurück?“, fragte die Tageszeitung „Die Welt“ im Juni dieses Jahres anlässlich des Attentats auf einen queeren Nachtclub in Orlando. Aber war der schwule Selbsthass denn je verschwunden?
Die Autor_innen, die dieses Phänomen für den Aufsatzband „Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität“ aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Herangehensweisen beleuchten, sind sich einig: Der Hass auf Schwule, Lesben und trans* Menschen mag zwar weniger offen gezeigt werden, dennoch ist er in unserer Gesellschaft weiterhin allgegenwärtig. Und damit auch der daraus resultierende Selbsthass von LGBTIQ (Lesben, Schwulen, trans*, inter* und queeren Menschen), der meist ganz unbewusst ausagiert wird.
Die Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung nährt die Sehnsucht nach einer vermeintlichen Normalität. „Das Gefühl, normal zu sein, ist nur zu dem Preis zu haben, sich den gängigen Vorstellungen von Normalität anzupassen“, schreibt die Herausgeberin Patsy L’Amour laLove in ihrem Einleitungskapitel. „Eine solche Rechnung aber geht nicht auf.“ Dieser Druck der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft führe so beispielsweise zu Hass auf Tunten und allem, was für effeminiert beziehungsweise „weibisch“ gehalten wird.
Diskriminierungen und Beleidigungen in den eigenen Reihen
Der Selbsthass zeigt sich aber auch „in einer Art Überkompensation“ mit demonstrativ zur Schau gestelltem, übersteigertem Gebaren von „Männlichkeit“ – und wirkt zugleich wie ein Ventil für den Haas auf die eigenen unliebsamen, vermeintlich unnormalen Anteile.
Die lassen sich womöglich verleugnen, aber nie ganz zum Verschwinden bringen – weder durch einen antrainierten, besonders breitbeinigen Gang noch durch ein martialisches Lederoutfit.
Der Selbsthass unter Schwulen zeigt sich aber nicht nur in einem verzerrten, weil letztlich unauthentischen Männerbild, er führt auch zu Diskriminierungen und Beleidigungen in den eigenen Reihen.
Exemplarisch machen das sowohl Patsy L’Amour laLove als auch Marco Ebert in ihren Beiträgen anhand des Dating-Portals PlanetRomeo deutlich: In der Hoffnung auf Nähe, Zuspruch und Sex reduzieren sich die Nutzer selbst auf suchfunktionstaugliche Äußerlichkeiten und grenzen sich häufig in aggressivem und beleidigendem Ton gegen andere ab: „Tunten und Spinner“ stehen als „No-Gos“ in einer Reihe mit „Dicken“, „Asiaten“, „Brillenträgern“ und „Ungesunden“, also HIV-Positiven.
Dirk Sander, Referent der Deutschen AIDS-Hilfe für Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), macht in seinem Aufsatz „Bewegung für Gesundheit!“ deutlich, wie die spezifischen gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen von MSM verwundbar machen und damit anfällig für psychische und physische Erkrankungen.
Gesundheitliche Auswirkungen
Was eine spezifische Prävention und Gesundheitsförderung für sexuelle Minderheiten angehe, so Sander, stehe man in der Bundesrepublik Deutschland noch ganz am Anfang. Dabei sind die gesundheitlichen Auswirkungen von Ausgrenzung und Ächtung keineswegs eine brandneue Erkenntnis, und auch die Auseinandersetzung der Schwulenbewegung mit Selbsthass ist nicht neu.
Immer wieder wird in den verschiedenen Beiträgen des Aufsatzbandes auf die Diskurse der Siebzigerjahre zurückgegriffen: Polittunte und Genderwissenschaftlerin Patsy L’Amour laLove, die derzeit an einer Dissertation über die damals neu entstandene Schwulenbewegung arbeitet, zieht die Debatten jener Zeit vergleichend heran. An den Grundkonflikten hat sich, so scheint es, nicht wirklich viel geändert.
Neu sind freilich die Ansätze, mit denen das Phänomen erklärt und analysiert wird – psychoanalytisch und gesellschaftswissenschaftlich – oder mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der Queer Theory und Verweisen auf Michel Foucault und Judith Butler.
Wer in diesen Diskursen und der dazugehörigen Sprache nicht ganz so bewandert ist, wird sich mit dem einen oder anderen Text vielleicht etwas schwer tun. Dafür werden andere umso mehr Spaß machen. Denn nicht nur, dass in diesem Band der Selbsthass gleichermaßen aus schwuler, lesbischer und trans* Sicht reflektiert wird, auch die Formen sind recht vielfältig – vom wissenschaftlichen Aufsatz bis hin zur autobiografischen Reminiszenz.
Wie etwa Lukas Winklers alias Polly Pullers Rückschau auf seine Coming-out-Jahre, als die Selbstbezeichnung „bisexuell“ ein Weg schien, um ein besserer, weil gesellschaftskompatibler Homosexueller zu sein. Der Blogger fink hingegen erzählt in seinem Beitrag „Selbstbildnis im Fummel (unvollendet)“, welche allseitige Verwirrung es auslöste, als er einmal zum Spaß in ein Kleid schlüpfte.
Manuela Kay wiederum, Verlegerin des Berliner queeren Stadtmagazins „Siegessäule“, zerpflückt nicht nur pointiert und mit Furor die Aus- und Abgrenzung von Lesben untereinander, die beispielsweise an der idealen Haarlänge ausgemacht werde. Sie registriert auch mit großem Unbehagen, wie das Wort „lesbisch“ mehr und mehr verschwindet und durch „queer“ ersetzt wird. „Queer“ ist für Manuela Kay „das neue Wischiwaschi“. Dieses Zauberwort grenze zwar vom „heterosexuellen Einheitsmief“ ab, bedeute aber zugleich „alles und nichts“.
Patsy L’Amour laLove und die anderen 14 Autor_innen des Buches wissen kein verlässliches Patentrezept, wie der Selbsthass zum Verschwinden gebracht und die Emanzipation zu einer Selbstverständlichkeit gemacht werden kann. Egal, aus welcher Position heraus man sich mit diesen Themen aber beschäftigt, das Buch bietet den Leser_innen Anstöße, streitbare Thesen und eine Grundlage für eine weitere Auseinandersetzung. Anlass und Notwendigkeit dazu bestehen zweifellos.
Patsy L’Amour laLove (Hrsg.): „Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität“. Querverlag Berlin, 263 Seiten, 16.50 Euro. Mit Beiträgen u.a. von Patsy L’Amour LaLove, Dirk Sander, Panne Pepper, Daria Majewski, Erik Meyer, Til Amelung, Andrea Trumann, Benedikt Wolf, Martin Dannecker, Polly Puller, Manuela Kay.