Warum niemand selbst schuld an der HIV-Infektion ist. Eine Anleitung zum Selbstversuch
Der Welt-Aids-Tag 2016 ist vorbei. Für mich als Pressesprecher der Deutschen AIDS-Hilfe bedeutet das: Endlich ausschlafen. Ich habe unzählige Interviews gegeben und Gespräche geführt. Jetzt freue ich mich auf Weihnachten. Nur eines möchte ich vorher noch loswerden. Weil es mir jedes Jahr auffällt. Und weil da etwas schief läuft.
Es geht um Folgendes: Wenn ich Menschen erzähle, dass ich für die Deutsche AIDS-Hilfe arbeite, reagieren sie immer sehr freundlich. Sie erklären, unsere Arbeit sei sehr wichtig. Gerade heutzutage, fahren dann viele fort, wo so viele Leute diese schreckliche Krankheit nicht mehr ernst nehmen und sich nicht mehr schützen würden. Viele würden ja vollkommen leichtsinnig und verantwortungslos durch die Gegend vögeln.
Erkennst du dich wieder?
Könnte von dir sein? Ist völlig okay. Ich möchte dich nur bitten weiterzulesen.
Bitte stell dir jetzt einen Menschen vor, der gerade von seiner HIV-Diagnose erfahren hat. Ein schwerer Moment. Es fühlt sich an, als würde ihm der Teppich unter den Füßen weggezogen. Er hat Angst, krank zu werden. Und er weiß, er wird in Zukunft zu hören bekommen, dass er leichtsinnig und unverantwortlich gehandelt hat.
Das ist der Punkt: Was man über Menschen ohne HIV sagt, die sich (angeblich) nicht schützen, fällt unmittelbar auf diejenigen zurück, die sich infiziert haben. Wer so spricht, wie oben zitiert, ruft HIV-positiven Menschen im Prinzip nichts anderes zu als: „Selbst schuld!“
Gute und böse Infizierte?
Natürlich gibt es immer einige, die einfach Pech hatten. Denen ein Kondom gerissen ist, so wie es bei unserem Björn aus der Welt-Aids-Tags-Kampagne #positivzusammenleben der Fall war. Die positiv wurden, weil ihr Partner oder ihre Partnerin ihnen einen Seitensprung verschwiegen hat, so wie es unserer Alexandra passiert ist. Die sich irgendwie trotz Safer Sex infiziert haben. Ja, so etwas gibt es. Aber wer argumentiert, diese Menschen seien im Gegensatz zu den anderen nicht selbst schuld, der teilt HIV-positive Menschen ein in gute und böse Infizierte.
„Aber so ist es doch nun mal!“ sagst du vielleicht. „Es kann doch jeder einfach ein Kondom nehmen!“
Bist du bereit für einen kleinen Selbstversuch? Ich möchte dir fünf Fragen stellen:
- Hast du in deinem Leben bisher immer nur Sex mit Kondom gehabt, wenn du einen Partner oder eine Partnerin noch nicht gut kanntest? (Und habt ihr immer einen HIV-Test gemacht, bevor ihr die Kondome weggelassen habt?)
- Hast du dein Verhalten immer restlos im Griff (auch beim Sex, beim Essen, in Bezug auf das Rauchen oder Trinken, wenn du wütend auf jemanden bist oder übermütig)?
- Ist dein Verstand der Chef, der alles regelt? (Oder hast du dir schon mal gesagt: „Wird schon gutgehen?“)
- Hast du in deinem Leben bisher immer alles richtig gemacht?
- Bist du schon einmal morgens aufgewacht und hast gedacht: Die Sache gestern Abend hätte besser nicht gemacht?
Die erste Frage genügt in meinem Job meist, um jungdynamische Radiomoderatoren für einen Moment verstummen zu lassen. Danach sind sie meistens ziemlich nachdenklich.
Niemand infiziert sich mit Absicht
Und hier die Auflösung für alle: So gut wie niemand infiziert sich mit Absicht mit HIV. Für die meisten Menschen ist es sogar eine ziemliche Katastrophe, wenn sie von ihrer Infektion erfahren. Manche haben sich infiziert, weil große Leidenschaft die Regie übernommen hat, der Wunsch nach grenzenloser Vereinigung (beim Sex ja nichts Ungewöhnliches). Andere haben sich infiziert, weil sie Angst vor Ablehnung hatten und deswegen nicht auf einem Kondom bestanden haben (beim Sex sind Ängste nicht selten). Wieder andere haben sich infiziert, weil sie Risiken unterschätzt oder verdrängt haben (wenn wir uns etwas sehr wünschen oder etwas sehr fürchten, neigen wir alle manchmal zum Selbstbetrug, oder?). Und nicht wenigen ist es passiert, weil man sich unter Alkoholeinfluss manchmal einfach vergisst. Bei den meisten kamen mehrere dieser Gründe zusammen.
Kein Mensch handelt rein rational
„HIV happens. Das ist einfach nur menschlich.“
Hirnforschung und Psychologie haben schon lange bewiesen: Kein Mensch handelt rein rational. Die meisten unserer Entscheidungen sind stark von Gefühlen und unbewussten Faktoren beeinflusst. Das gilt für alle Lebensbereiche, doch beim Sex sind wir besonders emotional. Wir sind nicht in der Lage, alles zu kontrollieren. Für die meisten Menschen ist das auch nicht erstrebenswert.
Mit anderen Worten: Shit happens. HIV happens. Das ist einfach nur menschlich.
Solidarität statt Anklage
„Wenn dir etwas Beschissenes passiert ist, tut es doppelt weh, dafür auch noch angeklagt zu werden.“
Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir alle möchten, dass sich möglichst wenige Menschen mit HIV infizieren. Die Arbeit der Deutschen AIDS-Hilfe dient diesem Ziel. Und doch werden sich weiterhin Menschen infizieren. Darum kümmert sich die Deutsche AIDS-Hilfe um zwei Dinge: Wir informieren Menschen, wie sie sich schützen können. Und wir unterstützen Menschen, denen das nicht gelungen ist. Unter anderem, wenn sie hören müssen, sie seien selbst schuld. Denn wenn dir etwas Beschissenes passiert ist, tut es doppelt weh, dafür auch noch angeklagt zu werden.
Beim Welt-Aids-Tag geht es vor allem um den zweiten Aspekt: Solidarität. Dafür steht die Rote Schleife. Sie sagt: Menschen mit HIV sind nicht schuldig. Sie sind Menschen einfach wie du und ich.
Ich selbst habe übrigens die ersten vier Fragen mit Nein beantwortet, die fünfte Frage mit „Oft.“
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
Holger Wicht
PS: Das Schutzverhalten in Deutschland ist übrigens weitgehend stabil. Aber das ist eine andere Geschichte.