Seit Frühjahr 2016 betreibt die Schwulenberatung Berlin eine Not- und Gemeinschaftsunterkunft für LSBTI*-Geflüchtete. Jakob Prousalis ist dort für die psychologische Beratung zuständig.
Jakob, du bist seit vielen Jahren Berater und Psychotherapeut und speziell in Traumatologie ausgebildet. Wie neu ist deine jetzige Aufgabe trotz deiner Erfahrung für dich?
Ich arbeite schon länger mit traumatisierten Geflüchteten, aber bislang nur gelegentlich mit LSBTI* (Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und inter* Menschen; Anm. d. Red.). Hier arbeite ich nun in einer Organisation, die diesen geschützten Raum ermöglicht, in dem die Klient_innen offen über Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit reden können. Diese Möglichkeit hatte ich vorher nicht. Sie ist eine wichtige und gute Basis für alles Weitere.
Also die Arbeitsbedingungen sind anders, aber die Geschichten, die du hörst, nicht?
Lebensgeschichten sind immer individuell und unterscheiden sich, und Menschen werden vielfältig geprägt: familiär, soziokulturell, bildungsbedingt und durch vieles mehr. Und selbstverständlich machen auch Geflüchtete unterschiedlichste Erfahrungen. Bei LSBTI*-Geflüchteten spielen neben Krieg und Bürgerkrieg als Fluchtgrund häufig zusätzlich noch homo- und trans*-spezifische Verfolgung eine Rolle.
„Viele mussten jahrelang Ausgrenzung, Folter oder familiäre Gewalt erleben“
Was haben diese Menschen erlebt?
Für die psychosoziale Entwicklung eines Menschen ist die Bindung zur Familie sehr wichtig. LSBTI* erleben häufig schon lange vor ihrem Coming-out eine familiäre oder gesellschaftliche Ablehnung von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit. Das heimliche Wissen um die eigene Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit und die damit befürchtete Stigmatisierung führen schon zu einer emotionalen Störung dieser Bindung. Kommt es später aufgrund dessen zu Beziehungsabbrüchen, psychischer oder physischer Gewalt, kann man von einem ersten Traumaereignis sprechen. Viele mussten leider schon jahrelange gesellschaftliche Ausgrenzung, Kriminalisierung, Inhaftierung und Folter oder familiäre Gewalt erleben – zusätzlich zu den allgemeinen kriegsähnlichen Zuständen in einigen Ländern.
Wie gehst du in der Beratung vor?
Ich versuche erst einmal zu erklären, wie ich arbeite. Viele haben keine Vorstellung von meiner Tätigkeit. In manchen Herkunftsländern ist zum Beispiel psychotherapeutische Beratung verboten oder sie ist nicht LSBTI*-freundlich und -akzeptierend. Bei Psychiatern besteht die reale Gefahr, dass die Eltern oder gleich die Behörden informiert werden. Manche haben daher verständlicherweise zu Beginn Befürchtungen. Gleichzeitig haben viele ein starkes Bedürfnis, über Gefühle und gemachte Erfahrungen endlich in einem geschützten Rahmen zu sprechen. Es geht um den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung – auch, indem ich zeige, dass sie hier so akzeptiert werden, wie sie sind. Die verschiedenen Angebote der Schwulenberatung Berlin mit Treffpunkt, Beratung und Unterkunft für LSBTI*-Geflüchtete helfen dabei, diese Glaubwürdigkeit in der Akzeptanz zu unterstreichen.
„Sobald der Körper Ruhe findet, erinnert sich das Gehirn“
Mit welchen akuten Problemen kommen deine Klient_innen in die Beratung?
Nach den oft traumatisierenden Erfahrungen in ihren Familien und Herkunftsländern, auf der Flucht und auch noch hier in Deutschland erfahren sie endlich ein Stück Sicherheit und kommen langsam mehr und mehr zur Ruhe. Sobald der Körper aber Ruhe findet, erinnert sich das Gehirn. Die Bilder können zurückkommen. In der Psychotraumatologie spricht man von Flashbacks, von Nachhall-Erinnerungen. Als Auslöser braucht es mitunter nur ein Wort, einen Geruch, ein Bild, um sich zu erinnern. Dann werden die schlimmen Erfahrungen wieder real. Und es kann zu Panikattacken oder Angstzuständen kommen.
Wie oft kommt das vor?
Andere psychosoziale Einrichtungen für Geflüchtete und Folteropfer gehen davon aus, dass 50 Prozent der Geflüchteten traumatisiert sind. Bei LSBTI* ist der Anteil möglicherweise deutlich höher wegen der spezifischen Verfolgung, auch wenn es noch nicht viele Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Arbeit gibt. Es geht nicht unbedingt darum, ob sie traumatisiert sind, sondern dass sie komplex traumatisiert sind. Durch diese Komplexität entsteht eine Prädisposition – also eine Anlage, eine Empfänglichkeit – für Folgeerkrankungen.
„Alkohol- und Drogenprävention wird zunehmend wichtiger“
Was für Folgeerkrankungen sind das?
Das können psychosomatische Erkrankungen wie Migräne, Bauchkrämpfe, Lähmungserscheinungen oder psychogene Krampfanfälle bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen sein. Hinzu kommen Selbstheilungsversuche mit Alkohol und anderen illegalisierten Drogen oder selbst beschafften Medikamenten. Diese haben einen hohen Reiz, weil sie anfangs helfen zu vergessen. Alkohol- und Drogenprävention wird hier zunehmend wichtiger, weil die Selbstheilungsversuche auch in eine Suchterkrankung übergehen können. Dies alles sind ziemlich komplexe Herausforderungen, auch für das psychiatrische Versorgungssystem in Berlin.
Ist denn unser psychiatrisches Versorgungssystem darauf eingestellt?
Es ist nicht ausreichend darauf eingestellt, um Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zu verstehen und zu versorgen. Professionelle Sprachmittlung in den flüchtlingsrelevanten Sprachen ist entweder nicht vorhanden oder wird nicht finanziert und ist schon gar nicht LSBTI*-sensibel. Und nach wie vor denken viele Psychotherapeuten, dass mit Sprachmittlung keine wirkliche Psychotherapie möglich sei. Auch müssen Mitarbeitende im Gesundheitssystem sich das Vertrauen von LSBTI*-Geflüchteten in die akzeptierende Haltung gegenüber LSBTI* und die Unterstützungsabsicht häufig aktiv erarbeiten, möglicherweise immer wieder neu. Hintergrund sind die oftmals schlechten Erfahrungen mit den Gesundheitssystemen der Herkunftsländer. Hierzu benötigt es Bereitschaft und Anstrengung. Das kostet Zeit und damit auch Geld.
„Die Komplexität eines Traumas kommt nur langsam zum Vorschein“
Wie lange dauert es, diese Traumata aufzuarbeiten?
Die ganze Komplexität eines Traumas kommt nur sehr langsam zum Vorschein. Es ist sehr individuell, wo und wie es sich manifestiert. Das hängt davon ab, wie vulnerabel die Person ist, wie sie aufgewachsen und sozialisiert ist, welche kulturellen und sozialen Bindungen sie hat. Nach der ersten Stabilisierung und nach Versorgung der Folgekrankheiten, was sehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann, ist es nicht immer so wichtig, ob dann auch noch das eigentliche Trauma ausgiebig behandelt wird. Die traumatherapeutische Versorgung ist nicht ohne die psychosoziale Versorgung zu denken. Zuerst geht es vor allem um Grundbedürfnisse wie Sicherheit, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf. Eine Verselbständigungsmöglichkeit durch Bleiberecht, eine eigene Wohnung und Ausbildung oder Arbeit sind die nächsten wichtigen Schritte, um weitere Stabilität zu erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Neben der Not- und Gemeinschaftsunterkunft mit 122 Plätzen betreibt die Schwulenberatung Berlin mit ihrem Café Kuchus in der Wilhelmstraße 115 einen Treffpunkt für LSBTI*-Geflüchtete. Immer dienstags und freitags von 14 bis 18 Uhr kann man sich dort in gemütlicher Atmosphäre mit anderen austauschen und bei den Mitarbeiter_innen Unterstützung und Beratung holen. Auch Beratung zum Asylverfahren und Migrationsrecht bietet die Schwulenberatung an – in verschiedenen Sprachen und, wenn notwendig, mit Unterstützung von LSBTI*-sensiblen Übersetzer_innen. Jeden Freitag von 15 bis 18 Uhr gibt es im Café Kuchus zudem eine offene Sprechstunde für die psychologische Beratung. Alle Infos hier und über kontakt@sbberlin.info
Weitere Informationen und bundesweite Projekte:
Karte mit bundesweiten Einrichtungen für queere Refugees
Informationsfilm über die Asyl-Anhörung in 14 Sprachen
Mehrsprachige Erläuterungen zu Gesundheitsleistungen für Asylsuchende in Deutschland (mit PDFs zum Download)
Dossier „Asyl/Flucht“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte
Beratung und Projekte in Berlin:
Flüchtlingsrat Berlin – Adressen Flüchtlingsberatung / Rechtsanwälte / Behörden in Berlin
Xenion, psychotherapeutisches Beratungs- und Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge
Refugees bei LesMigraS, Projekt der Lesbenberatung Berlin
Schwulenberatung Berlin, Projekt für queere Geflüchtete
MILES, Projekt „Homosexuelle und transgeschlechtliche Flüchtlinge stärken“ des LSVD Berlin-Brandenburg