Inklusion im Alltag

Ellen Portrait rundHallo,

ich bin Ellen, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Mein  Sohn Jonas hat das Prader-Willi-Syndrom. Das ist ein zufällig auftretender Gendefekt, der sich unter anderem durch Muskelschwäche, verringertes Sättigungsgefühl, Kleinwuchs und geistige Beeinträchtigung äußert. In einer kleinen Serie berichte ich über mein Leben und meine Erfahrungen mit einem behinderten Kind.

Nachdem wir für Jonas eine Förderschule gewählt hatten (mehr dazu hier), haben mein Mann und ich uns viel mit Inklusion beschäftigt.

Den geschützten Rahmen in der Schule finden wir wichtig, die Teilhabe am alltäglichen Leben aber auch. Spätestens wenn Jonas erwachsen und mit der Schule fertig ist, wünschen wir ihm, dass er seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat.

Das funktioniert, wenn alle mitmachen:

Wir als Eltern müssen unsere Kinder auf diesen Schritt vorbereiten, sie zu möglichst viel Selbstständigkeit erziehen und ihnen die notwendigen Hilfen geben.

Die Gesellschaft hingegen muss sich öffnen, mit Toleranz und Geduld auf die Besonderheiten unserer Kinder Rücksicht nehmen.

Das klingt schwierig? Ist es auch! Aber wie jede Reise beginnt auch diese mit dem ersten, kleinen Schritt.

Hobbies

Gemeinsame Interessen sind ein wunderbarer Anfang für die gegenseitige Annäherung. Falls dein Kind gerne Musik hört/macht, malt, klettert, tanzt oder kocht, kannst du nach inklusiven Vereinen suchen.

Jonas hat jahrelang mit Begeisterung in einem dieser Vereine Fußball gespielt. Und ich muss gestehen, dass sein Ballgefühl schon nach kurzer Zeit deutlich besser war als meins! Natürlich gehörte er nicht zu den Besten, aber im Verein gab es keinen Leistungsdruck (was übrigens auch die gesunden Kinder und deren Eltern klasse fanden!).

Jonas konnte in Ruhe trainieren und mit viel Freude Fußball spielen. Die Teilnahme an Turnieren war jedes Mal ein großes Fest – unabhängig von Sieg oder Niederlage. Jonas hatte einfach Spaß an der Bewegung, was für meinen Mann und mich das Wichtigste war.

Vereine sind eine wunderbare Möglichkeit, beide Seiten einander näher zu bringen. Von ihnen darf und sollte es gerne viel mehr geben!

Die große Welt da draußen

Während inklusive Vereine noch einen recht geschützten Rahmen für Kinder mit Behinderung bieten, ist der Alltag komplexer.

Straßenverkehrsregeln müssen beachtet, die eigenen Bedürfnisse artikuliert, das Gegenüber eingeschätzt werden. Zusätzlich wäre es einfacher, wenn dein Kind (die Uhr) lesen, laufen und sich an Vereinbarungen halten kann.

Mir ist dabei klar, dass einige Dinge je nach Behinderung einfach nicht machbar sind.

Jonas braucht im Straßenverkehr Hilfe, weil er nur selten nach Autos und Ampeln schaut. Aber er kann alleine einkaufen (wenn ich vor dem Geschäft warte) und kurze Strecken mit dem Bus fahren (wenn er gebracht und am Ziel abgeholt wird).

Meinem Mutterherz fällt es oft schwer, Jonas in die große weite Welt zu schicken. Aber diese Schritte sind so wichtig! Und ich hoffe, dass er immer auf hilfsbereite und wohlwollende Menschen trifft.

Doch nicht nur Jonas muss sich an fremde Menschen gewöhnen, auch sie müssen ihn kennenlernen.

Gelegenheiten dafür gibt es viele: Beim Stadtbummel, Kino, Restaurant, Schwimmen usw. Jonas kommt überall hin mit. Und wenn er manchmal komisch angeguckt wird, kann ich damit inzwischen gut umgehen. Sie kennen ihn halt nicht. Viel öfter aber treffen wir auf Menschen, die geduldig hinter ihm auf der Treppe warten und ihn freundlich anlächeln.

Seit zwei Jahren ist Jonas begeisterter Messdiener. Vorher habe ich lange überlegt, ob er diese Aufgabe packt. Kann ich von den Ausbildern, Messdienern und Pfarrern die nötige Geduld und Toleranz erwarten? Es hat prima geklappt und das Wagnis hat sich gelohnt. Wir sind richtig stolz auf Jonas, dass er seinen “Job” so enthusiastisch und klasse macht! Und er hat sich auch dort einen Platz erobert.

Aufeinander zugehen

Die Messdiener-Geschichte hat mir noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderung sich in der “normalen” Welt etwas zutrauen und präsent sind.

Denn wie sollen wir Inklusion ermöglichen, wenn die Betroffenen sich weiter in ihrem geschützten Rahmen aufhalten? Und wie sollen Menschen, die keinen Kontakt zu Behinderten haben, diesen lernen?

Indem Eltern wie wir unsere Kinder der Gesellschaft “zumuten”.

Denn gerade wir Mütter und Väter sind die Schnittstelle zwischen beiden Welten. Wir sind es, die vermitteln, ermutigen, erklären und es wagen müssen. Und irgendwann werden hoffentlich die Berührungsängste auf beiden Seiten verschwinden. Mit Mut und einem gesunden Selbstbewusstsein bei Menschen mit Behinderung. Mit Aufgeschlossenheit, Neugier und Toleranz bei Menschen ohne Behinderung.

Mir ist klar, dass der Weg dahin noch weit ist. Feste in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung werden z. B. kaum von Außenstehenden besucht, was ich sehr schade finde!

Einen leichten Einstieg ermöglichen Cafés und Geschäfte, in denen Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten. Weil hier beide Welten zusammentreffen, ist der „Kulturschock“ nicht allzu groß.

Auch die anfangs erwähnten Vereine sind eine wunderbare Gelegenheit, um sich gegenseitig über gemeinsame Interessen zu beschnuppern. Ich wünsche mir, dass der Unterschied behindert vs. nicht behindert irgendwann keine Rolle mehr spielt.

Familie und Freunde

Die erwähnten Möglichkeiten sind aufgrund der schweren Behinderung deines Kindes nicht umsetzbar? Es gibt trotzdem einen Bereich, in dem ihr Inklusion lebt: zuhause! Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dein Kind nämlich das einzige Familienmitglied mit Behinderung und von lauter gesunden Menschen umgeben!

Auch wenn ihr noch so viel Rücksicht nehmt und ihm die bestmögliche Umgebung bietet, es muss mit euch Gesunden klarkommen.

Jonas hat es regelmäßig mit einer fordernden Schwester und manchmal ungeduldigen Eltern zu tun. Er muss sich unserem Tempo so gut es geht anpassen und natürlich ein wenig im Haushalt mit anpacken.

Auf Familienfeiern wuseln viele fröhliche Cousinen und Cousins um ihn herum, Kinder von Freunden erobern seine Spielsachen. Und Jonas lernt immer besser, mit diesen Situationen umzugehen.

Wir fordern ihn – und er uns. Durch Jonas haben unsere Familie und Freunde einen anderen Blick auf das Leben, Berührungsängste gibt es nicht. Und das ist gut so – für alle!

 

 

Hast du Erfahrungen mit Inklusion? Wo siehst du Probleme und wo Möglichkeiten?

 

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