Noch schweigt das Wahlprogramm der AfD zum Thema HIV/Aids. Doch immer mehr Stimmen zeigen an, in welche Richtung es gehen könnte, sind die Rechtspopulist_innen erst mal am Zug.
Der Angriff kam schnell, von höchster Stelle und in aller Schärfe. Für einen Anal-Workshop habe die Thüringer Landesregierung Geld, nicht aber für Klassenfahrten, empörte sich im Oktober vergangenen Jahres der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke via Facebook: Das sei „Bildungspolitik für den Arsch!“.
Verdrehung von Fakten
Es ist nicht das erste Mal, dass der Sexualtherapeut Marco Kammholz mit seinem Workshop zur Zielscheibe rechter Demagogen wird. Im Mai 2016 hatte die Kölner Universität seinen Workshop sogar abgesagt, nachdem rechte Medien wie die „Junge Freiheit“ und der Blogger Hadmut Danisch sich darauf eingeschossen hatten.
„Dahinter steckt schlicht und ergreifend Homosexuellenfeindlichkeit“
Doch diesmal bleiben die Veranstalter, unter ihnen auch mehrere thüringische Aidshilfen, standhaft. Der Hauptveranstalter, die Magnus-Hirschfeld-Stiftung, erklärte: „Es gibt ein Recht auf sexuelle Bildung. Die bewusste Verdrehung von Fakten durch Herrn Höcke verwundert nicht: Die AfD versucht erneut, durch Provokation die moderne Vielfalts- und Sexualpädagogik zu diskreditieren. Dahinter steckt schlicht und ergreifend Homosexuellenfeindlichkeit. Der Workshop zum Tabuthema Analverkehr ist ein sexualpädagogischer, außerschulischer Workshop für Erwachsene, der im Rahmen der 3. Hirschfeld-Tage angeboten wird. In dem Seminar geht es auch um die Enttabuisierung von Analverkehr als Teil der HIV- und STI-Prävention.“
Menschen mit HIV im Visier
Der Vorfall aus dem Herbst letzten Jahres wirft ein Schlaglicht auf den Umgang von Rechtspopulist_innen im Allgemeinen und der AfD im Besonderen mit HIV und Aids. Noch steht das Thema allerdings nicht im Zentrum des politischen Kampfs: Das Programm der Partei zur Bundestagswahl beschäftigt sich zwar, im Unterschied zum Grundsatzprogramm der AfD aus dem letzten Jahr, erstmals mit Gesundheitsthemen, doch „HIV“ oder „Aids“ werden kein einziges Mal erwähnt.
Wie schnell Menschen mit HIV zur Zielscheibe der rechten Partei werden können, zeigte sich jedoch im März dieses Jahres im Schweriner Landtag. Ralph Weber, Abgeordneter der AfD in Mecklenburg-Vorpommern, forderte im Parlament eine namentliche Meldung von HIV-Infizierten bei den Landesgesundheitsämtern. Grund: In den vergangenen Jahren seien die HIV-Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern beständig gestiegen, und zwar nach Angaben der Landesregierung von 24 im Jahr 2010 auf landesweit 41 HIV-Neudiagnosen im Jahr 2015.
Derzeit plant Weber, einen Antrag in das Schweriner Parlament einzubringen, um eine Bundesratsinitiative anzuschieben. Ziel ist die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, um die namentliche Meldung zu ermöglichen. Ein Unterfangen ohne jede Aussicht auf Erfolg – noch!
Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Sexualaufklärung
Weber ist bisher ein Einzelfall. Noch instrumentalisiert die AfD das Thema in den Parlamenten vor allem, um gegen Geflüchtete zu hetzen: Im Februar 2015 wollte der AfD-Ratsherr Mohr in Aachen wissen, wie viele Geflüchtete in der Stadt HIV-positiv sind.
„Im Vergleich weisen Flüchtlinge eine niedrigere Prävalenz auf“
In Sachsen fragt die AfD im Landtag, „welche Konsequenzen (…) die Staatsregierung aus der nachgewiesen höheren Prävalenzrate der HIV-Infektion bei Flüchtlingen im Vergleich zur sächsischen Allgemeinbevölkerung für die Auswahl von Risikogruppen für die Ausrichtung der Präventionsstrategie [zieht]“, um sich von der Staatsregierung belehren zu lassen: „Verglichen mit Personen aus Risikogruppen, die in sächsischen Gesundheitsämtern getestet werden, weisen die Flüchtlinge eine niedrigere Prävalenz auf.“
Doch auch Präventionskampagnen wurden schon zur Zielscheibe der Rechten, vor allem, wenn dabei unterschiedliche Sexualitäten als gleichwertig akzeptiert werden oder Safer Sex lebensfroh beworben wird. Die AfD-Jugend Niedersachsen stellte im Mai 2016 „wegen der Verbreitung pornographischer Schriften an Kinder und Jugendliche“ Strafanzeige gegen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Dem rechten Nachwuchs gingen, man will es nicht glauben, die Comiczeichnungen der Liebesleben-Kampagne zu weit!
Der Angriff auf die Präventionskampagne ist vor allem im Zusammenhang mit dem groß angelegten Kampf gegen Bildungspläne und den „Sexualkundeunterricht der Vielfalt“ zu verstehen, der von Organisationen wie zum Beispiel der sogenannten „Demo für alle“ mit Schlagworten wie „Früh-“ oder „Hypersexualisierung“ geführt wird.
„Die Aidshilfen sind alarmiert“
Die AfD reiht sich hier ein und ist auch personell verquickt mit christlich-fundamentalistischen Gruppen, deren Einfluss bis weit ins bürgerliche Lager, in die CDU/CSU und speziell in Nordrhein-Westfalen bis in die FDP hineinreicht.
Mathias von Gersdorff von der „Deutschen Vereinigung für eine christliche Kultur“ zum Beispiel ist verbandelt mit der AfD-Europaabgeordneten und Abtreibungsgegnerin Beatrix von Storch und ihrem Mann Sven und findet: „Obwohl die stark subventionierte Deutsche Aids-Hilfe ständig den Homosexuellen die Verwendung von Kondomen (…) empfiehlt, steigt unter ihnen die Zahl der Aidsinfizierten [sic!] ständig. Es stellt sich die Frage: Sollte die DAH nicht umdenken und den Homosexuellen Enthaltsamkeit als Mittel gegen Aids empfehlen, so wie es Papst Benedikt getan hat?“
Aidshilfe zeigt Haltung gegen Rechts
Die Aidshilfen sind von alledem alarmiert und beteiligen sich immer häufiger an Initiativen gegen Rechts.
Seit Hessen unter Schwarz-Grün zum neuen Kampffeld der „Demo für alle“ erkoren wurde, ist die Wiesbadener Aidshilfe Teil eines breiten Bündnisses, das sowohl gegen einen Kongress der Truppe Anfang Mai, wie auch im letzten Herbst gegen eine „Demo für alle“ mit großem Erfolg unter dem Motto „Wiesbaden bleibt bunt“ demonstrierte. Und auch die Kölner Aidshilfe war erst kürzlich an den Protesten gegen den AfD-Bundesparteitag beteiligt.
„Die Rechten bekämpfen, was wir wie die Luft zum Atmen brauchen“
Zu einer klaren Haltung gegen rechte Gruppen mahnte zum Welt-Aids-Tag in der Frankfurter Paulskirche auch der ehrenamtliche Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Prof. Dr. Ralf Rosenbrock. Auch wenn Menschen mit HIV derzeit noch nicht auf dem Schirm der Rechtspopulist_innen seien, bekämpften sie doch, „was wir wie die Luft zum Atmen brauchen: eine offene, eine bunte, eine tolerante Gesellschaft. Und zum Zweiten, konkreter: Wir können schnell – und ganz ohne unser Zutun – in den Fokus ihrer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit rücken.“
Für viele Beobachter_innen bleibt die Tatsache verstörend, dass sich Schwule und Lesben selbst zum Kampf gegen eine offene Gesellschaft hinreißen lassen.
Die offen lesbische Spitzenkandidatin der AfD zur Bundestagswahl, Alice Weidel, zum Beispiel hat bei dem Anfang 2015 verstorbenen Gesundheitsökonomen Peter Oberender studiert. Dieser trat für eine stärkere marktwirtschaftliche Orientierung im Gesundheitswesen ein, wollte den Arbeitgeberbeitrag abschaffen und hatte zuletzt gefordert, dass man es Menschen mit Geldsorgen doch nicht verbieten solle, ihre Organe zu verkaufen. Weidel selbst hat die Furcht vor Beitragserhöhungen in der Vergangenheit schon genutzt, um Stimmung gegen Geflüchtete, Migrant_innen und Asylsuchende zu machen.
Die rechten Schwulen aus der „Bundesinteressengemeinschaft Homosexuelle in der AfD“ und insbesondere der rechtskatholische Theologe David Berger werden dabei schon konkreter – sie haben die Aidshilfen zum Feindbild erklärt.
„Das klingt gefährlich, und das ist es auch“
Der Vorwurf hier: Die Aidshilfen seien Teil einer „linksgrünversifften“ Szene, unterstützten kondomlosen Sex (dabei geht es vor allem gegen neuere Safer-Sex-Methoden wie PrEP und Schutz durch Therapie) und schlössen Teile der Community aus (gemeint sind wahrscheinlich sie selbst).
Während die „Homosexuellen in der AfD“ den Aidshilfen bis zur Befolgung ihrer Forderungen „nur“ sämtliche staatlichen Zuschüsse streichen wollen, möchte Berger sie gleich am liebsten ganz auflösen.
Das klingt gefährlich, und das ist es auch. Vielleicht liegt in solchen Forderungen aber auch eine Chance, gerade denjenigen Schwulen und Lesben die Augen zu öffnen, die aufgrund von Ressentiments gegen Migrant_innen bisher noch geneigt sind, rechte Parteien zu unterstützen – denn gerade die Aidshilfen genießen mit ihrer Verankerung in den Städten und Regionen großes Vertrauen vor Ort.
Aids-Politik à la Gauweiler?
Was Deutschland in Sachen HIV/Aids tatsächlich zu erwarten hätte, wenn Rechtspopulist_innen, allen voran die AfD, die Chance bekämen, ihre Vorstellungen zu realisieren, ließ sich an den Antworten der Berliner AfD auf die Wahlprüfsteine der Berliner Aids-Hilfe ablesen: Alleiniger Ausbau von „nachweislich effektiven“ Präventionsmethoden – bevorzugt durch staatliche Stellen, keine neuen Angebote zu sexueller Vielfalt, keine Einwegspritzen in Haftanstalten und hohe Hemmschwellen für die Substitutionstherapie, keine Regelversorgung für Geflüchtete und Migrant_innen mit HIV/Aids, keine anonyme Chipkarte, Ablehnung LSBTTIQ*-sensibler Pflegeeinrichtungen, dafür aber Befürwortung der Speicherung der Gesundheitsdaten von Bürger_innen in Polizeidatenbanken.
„Was die AfD vorhat, läuft auf russische Aids-Politik hinaus“
Carsten Schatz (MdA, Linke) nennt diese Form der Aids-Politik in Erinnerung an den CSU-Hardliner der Achtzigerjahre „Gauweiler light“. „Wer von ‚nachweislich effektiven Methoden‘ redet, geht in Richtung einer medizinischen Prävention und ignoriert die soziale Dimension von Aids. Faktisch kann man damit auch Isolation rechtfertigen. Da sie nichts machen wollen, was den Dingen auf den Grund geht, also Abbau von Diskriminierung schwuler Männer oder Ausbau von Harm-Reduction, das sind alles keine Themen, läuft das auf eine russische Aids-Politik hinaus.“
Was das konkret bedeutet, berichtete die Süddeutsche Zeitung im letzten Jahr: Nirgendwo auf der Welt steigen die Infektionsraten so rasant wie dort. Nirgends ist die Versorgung mit Medikamenten so schlecht. Und in russischen Gefängnissen, warnen Epidemiolog_innen der Universität Yale, braue sich gerade ein „perfekter Sturm“ aus multiresistenter Tuberkulose, HIV und Hepatitis C zusammen, der sich auf andere Bevölkerungsteile auszubreiten beginne. Grund genug, sich den HIV-politischen Vorstellungen der deutschen Rechtspopulist_innen schon jetzt mit Vehemenz entgegenzustellen.