Nicht nur das Sprechen über die HIV-Infektion, sondern auch das Schweigen beeinflusst die Bilder von HIV und Aids in der Gesellschaft. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker über den Bann des Stigmas
„Die gesündeste Weise krank zu sein“, so schreibt Susan Sontag in ihrem 1978 publizierten Essay „Krankheit als Metapher“, „besteht (darin), sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen“. Sie, die selbst an Krebs erkrankt war, wollte, wie sie später sagt, mit ihrem Essay „Kranken und ihren Angehörigen (…) ein Instrument an die Hand geben, um diese Metaphern zu durchschauen.“ An Krebs Erkrankte sollten Krebs „einfach als Krankheit betrachten lernen – eine ernste Krankheit, aber eben eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne ‚Bedeutung’“.
Dieses Gesundheitsprogramm bildet auch die Grundlage ihrer zehn Jahre später erfolgten Auseinandersetzung mit Aids. Wie zuvor ging es ihr dabei darum, die wuchernden Fantasien zu beruhigen und Aids von allen seinen Bedeutungen zu befreien, um sich stattdessen, so ihre bezeichnende Formulierung, mit „der physischen Krankheit als solche“ beschäftigen zu können.
Kein körperliches Stigma bei HIV
Eine HIV-Infektion ist heute gut behandelbar, der enge Zusammenhang von HIV und Aids existiert daher nicht mehr. Folglich gibt es für die HIV-Infektion auch keine Bilder, die uns den schrecklichen Unterschied zwischen vorher und nachher vor Augen führen sollen. Und schließlich: Bei einer guten Behandlung sind Menschen mit HIV nicht mehr infektiös.
„Gibt es überhaupt noch gewichtige Gründe, über die Infektion zu sprechen?“
Im Unterschied zu Aids ist eine HIV-Infektion nicht über Bilder körperlicher Stigmata zu vergegenwärtigen. Dank der heutigen medizinischen Möglichkeiten kann sie auch über Jahrzehnte faktisch unsichtbar bleiben. Das bedeutet, dass eine HIV-Infektion nur zur Erscheinung gebracht werden kann, wenn Menschen sich als HIV-infiziert offenbaren.
Gibt es für sie überhaupt noch gewichtige Gründe, über ihre Infektion zu sprechen? Sie können, wenn sie sich unter der Nachweisgrenze befinden, selbst sexuellen Gelegenheitspartner_innen gegenüber die Infektion verschweigen, ohne deshalb in einen Gewissenskonflikt zu geraten – auch dann, wenn es zu kondomlosem Sex gekommen ist. Gleiches gilt auch bei der Anbahnung von Liebesbeziehungen.
Und doch sind nach meiner Erfahrung offenbar alle Menschen mit HIV davon überzeugt, spätestens dann über ihre Infektion sprechen zu müssen, wenn sich eine Begegnung nach mehr als einem flüchtigen Kontakt anfühlt – selbst wenn sie sich unter der Nachweisgrenze befinden.
Ein mit stigmatisierenden Vorstellungen aufgeladener Komplex
Es geht dabei offenbar nicht um die bloße Mitteilung über etwas, das man hat, sondern sehr viel stärker um den Hinweis auf etwas, das man ist. Letztlich also um den Wunsch nach Anerkennung eines wichtigen Teils der Identität. Oder vielleicht genauer: um die Anerkennung der durch HIV beschädigten Identität.
„Du sollst wissen, dass ich HIV habe, aber das ist für mich kein großes Ding“
Es gibt für HIV-Infizierte aber noch ein völlig anderes Motiv, ihre Infektion offenzulegen. Es findet sich vor allem bei aufgeklärten und politisch bewussten Menschen mit HIV. Ihr Sprechen über die Infektion geht mit der Intention einher, sich selbst und anderen die Bedeutungslosigkeit der Infektion vor Augen zu führen. Derartige Sprechakte kann man sich etwa so vergegenwärtigen: „Du sollst wissen, dass ich HIV habe, aber das ist für mich kein großes Ding. Ich muss täglich ein paar Tabletten einnehmen und alle paar Monate zur Kontrolle. Es könnte sein, dass ich irgendwann die HIV-Therapie umstellen muss, aber auch das wird weder mich noch uns tiefgreifend beeinträchtigen. Und außerdem bin ich unter der Nachweisgrenze, also nicht infektiös. Ich spreche mit dir deshalb über meine Infektion, weil ich wissen möchte, welche Vorstellungen du von ihr hast.“
Dass HIV aber nach wie vor mehr als eine physische Erkrankung ist, nämlich ein mit bedrohlichen Fantasien und mit stigmatisierenden individuellen wie kollektiven Vorstellungen aufgeladener Komplex, lässt sich vor allem am Schweigen der HIV-Infizierten über ihre Infektion ablesen. Häufig überlegen sie sich deshalb, ob es für das psychische und soziale Wohlbefinden nicht besser wäre, wenn sie ihr Stigma in bestimmten Situationen – oder auch generell – aktiv verstecken. Denn es macht nun mal einen erheblichen Unterschied, ob man weiß, dass man diskriminiert werden kann, oder ob man aktiv und real diskriminiert wird.
Wegen Stigma zur Täuschung gezwungen
Zwar kann man das Verschweigen der Infektion mit einigem Recht als ein durch das Stigma hervorgetriebenen Zwang zur Täuschung bezeichnen. Allerdings müssen wir uns dann fragen, worüber jemand hinwegtäuschen möchte, der seine HIV-Infektion verschweigt. Ist es nur die HIV-Infektion als solche, die versteckt werden soll? Oder sind es nicht auch fantasierte Annahmen darüber, was die HIV-Infektion über die infizierte Person verrät, die im Verborgenen gehalten werden sollen? Offenbar gelingt es weder den Infizierten noch den anderen, die HIV-Infektion nur als Infektion und nicht mehr zu betrachten. Dies hängt mit unserem ganzheitlichen Verständnis von Krankheit zusammen, das auch nach der gesamten Lebenspraxis sowie nach psychischen Dispositionen und unbewussten Vorgängen fragt.
Dadurch geraten auch persönliche Eigenschaften und Verhaltensweisen in den Blick, was nicht selten zu Normierung und Pathologisierung führt. Es sind vor allem solche vermeintlichen oder tatsächlichen persönlichen Eigenschaften und die damit zusammenhängenden Fantasien, die zu Distanzierung und Ausgrenzung auf der einen und zum Schweigen auf der anderen Seite führen.
„HIV-Infizierte bringen Wünsche nach grenzenloser Sexualität zum Klingen“
Nach langem Nachdenken glaube ich inzwischen, dass es vor allem eine im Nahverhältnis besonders wirksame zentrale Fantasie ist, die zur Distanzierung von Menschen mit HIV führt. In dieser Fantasie sind HIV-Infizierte Verführer. Sie haben es schließlich gewagt, die von der Prävention gezogenen Grenzen und die kulturell verordnete Mäßigung der Sexualität zu überwinden. Für diese Grenzüberschreitung werden HIV-Infizierte bewundert und beneidet. Aber sie sind zugleich gefährlich, weil sie die eigenen Wünsche nach einer grenzenlosen Sexualität zum Klingen bringen können. Und das führt dann unter anderem zu den von vielen HIV-Infizierten beklagten sexuellen Zurückweisungen.
Auf den ersten Blick mag diese Interpretation weit hergeholt erscheinen. Aber suchen wir nicht alle nach Erklärungen dafür, warum sich das Phantasma Ansteckung so hartnäckig hält, auch wenn es zu einer Ansteckung im Sinne einer Infektion gar nicht kommen kann?
Doch auch wenn eine Person mit einem nicht sichtbaren Stigma wie HIV die soziale Umgebung erfolgreich zu täuschen vermag, weiß sie (oder nimmt sie an), dass das stigmatisierende Merkmal mit Missbilligung, Zurückweisung oder sozialer Benachteiligung verbunden ist.
„Nur wer andere mit HIV konfrontiert, erfährt etwas über deren Vorstellungen“
Selbstverständlich stehen nicht nur jene, die über ihre Infektion beharrlich schweigen und sie aktiv verstecken unter dem Gesetz des Stigmas, sondern auch diejenigen, die über ihre Infektion mehr oder weniger offen sprechen. Niemand, der HIV-infiziert ist, kann sich sicher sein, nach der Offenbarung der Infektion nicht diskriminiert und diskreditiert zu werden. Wer jedoch seine Infektion aus Angst vor Diskriminierung beharrlich verschweigt, bleibt nicht nur für immer unter dem Bann des Stigmas. Er nimmt sich auch die Möglichkeit, durch das Sprechen über die Infektion die Diskriminierung und die Stigmatisierung kenntlich zu machen und dadurch die unzeitgemäßen Bilder von HIV und Aids sowohl bei sich, als auch bei anderen zu korrigieren.
Nur wer andere mit HIV konfrontiert, erfährt etwas über deren Vorstellungen von HIV-Infizierten. Zwar kann die Konfrontation zu leidvollen, weil diskreditierenden Erfahrungen führen. Aber die Konfrontation kann auch zu der überraschenden Einsicht führen, dass die Vorstellungen der HIV-Infizierten über die Vorstellung der anderen über HIV nicht zutreffen – und diese möglicherweise weniger diskriminierend und stigmatisierend sind als angenommen.
Der Opferdiskurs hat sich durchgesetzt
Für die Gleichzeitigkeit von Diskriminierung und Stigmatisierung beziehungsweise von verständnisvollen und unterstützenden Reaktionen nach Offenbarung der Infektion liefert die empirische Forschung seit Langem belastbare Daten. In den Befragungen für die Studie „Schwule Männer und HIV/Aids: Lebensstile, Szene, Sex“ (2010) zeigten sich zwar Entwertungen, soziale und sexuelle Distanzierungen und beleidigende Äußerungen über Menschen mit HIV. Zugleich aber berichteten HIV-Infizierte häufig auch über verständnisvolle und unterstützende Reaktionen ihres sozialen Nahfelds.
„Die positiven Reaktionen werden nicht erwähnt“
Bemerkenswert erschien mir beim Wiederlesen dieser Studie, dass bei der Interpretation der Daten nur die negativen Reaktionen nach der Offenbarung der HIV-Infektion hervorgehoben, die weitverbreiteten positiven Reaktionen von Freunden – bis zu 80 Prozent! – jedoch nicht erwähnt wurden. Es ist dies der Opferdiskurs, der sich im Umfeld von Aidshilfen und HIV-Selbsthilfegruppen durchgesetzt hat. Selbstverständlich bin ich mir über die damit verbundenen politischen Absichten im Klaren. Die Betonung der gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Stigmatisierungspotenziale gegenüber HIV-Infizierten verweist auf die Notwendigkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wenn dadurch jedoch ein Bild in die Welt gesetzt wird, demzufolge die Realität für Infizierte vor allem aus Ausgrenzung, Zurückweisung und Stigmatisierung besteht, kommt es unter ihnen zu einem paradoxen Effekt: Das Sprechen über die HIV-Infektion wird zu einem heroischen Akt, und es werden noch mehr Infizierte häufiger ihre Infektion verbergen, als das bislang der Fall ist.
Martin Danneckers Beitrag ist eine gekürzte Version seines bei den Positiven Begegnungen gehaltenen Impulsreferats.
Zur Person:
Der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker arbeitete bis 2005 am Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main und war dort in den letzten Jahren stellvertretender Direktor. Er lebt und arbeitet inzwischen in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Das Recht auf Vielfalt: Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung“ (mit Elisabeth Tuider, Wallstein Verlag 2016).