HIV-PrEP und sexuelle Gesundheit

Männer aus Seattle (USA), die Sex mit Männern haben (MSM) und vor kurzem mit einer Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) begonnen haben, beschreiben tiefgreifende Auswirkungen der PrEP auf ihre sexuelle Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Diese gehen weit über die primäre Funktion der PrEP, die Verhinderung von HIV-Infektionen, hinaus. Nachzulesen ist dies in einer qualitativen Studie, die im International Journal of Sexual Health veröffentlicht wurde.

Von Roger Pebody

„Indem sie das HIV-Risiko senkt und MSM, die selten oder nicht durchgängig Kondome verwenden, eine alternative Schutzmöglichkeit bietet, half die PrEP den Studienteilnehmern dabei, Angst- und Schamgefühle rund um ihre Sexualität zu mildern, und ermöglichte ihnen größere sexuelle Befriedigung, Intimität und Selbstwirksamkeit“, schreiben Shane Collins und seine Kolleg_innen. Andererseits setzt die PrEP die Männer auch dem PrEP-Stigma aus. Sowohl die positiven als auch die negativen Auswirkungen der PrEP dürften entscheidend für ihre Akzeptanz, die Nachfrage nach ihr und die Anwendungsmuster sein.

Die PrEP mildert Angst- und Schamgefühle

Wichtig anzumerken ist dabei, dass sexuelle Gesundheit nicht einfach die Abwesenheit von Krankheiten bedeutet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sie wie folgt: „Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität.“ Mediziner_innen und Praktiker_innen, die die sexuelle Gesundheit schwuler Männer fördern wollen, sollten die gesamte Bandbreite möglicher Auswirkungen der PrEP in den Blick nehmen, so die Empfehlung der Forscher_innen.

Die Studie

2014 führten die Forscher_innen Tiefeninterviews mit 14 PrEP-Nutzern in Seattle (Bundesstaat Washington) durch. Die Teilnehmer erhielten die PrEP von verschiedenen öffentlichen oder privaten Anbietern im Rahmen früher Implementierungsmaßnahmen, nachdem der Staat die finanziellen und bürokratischen Hürden für den PrEP-Zugang abgesenkt hatte.

Die meisten der Männer waren weiß; ein Teilnehmer war schwarz, einer ein Latino, einer ein trans* Mann. Die meisten Männer waren in den Dreißigern oder Vierzigern; der jüngste war 26, der älteste 66. Zum Zeitpunkt des Interviews nahm die Hälfte der Männer die PrEP seit maximal drei Monaten. Nur zwei Teilnehmer nutzten sie länger als ein Jahr.

Die Forscher_innen setzten eine qualitative Forschungsmethode mit der Bezeichnung „interpretative phänomenologische Analyse (IPA)“ ein. Statt auf verallgemeinerbare Ergebnisse fokussiert dieser Ansatz auf die besonderen Erfahrungen kleiner Stichproben von Menschen in vergleichbaren Umständen. Mithilfe der Methode versucht man zu erforschen, wie Menschen ihre Erfahrungen einordnen, indem man die Gedanken und Gefühle analysiert, die die Interviewten bestimmten Situationen zuordnen.

Wunsch nach weniger riskantem kondomlosem Sex

Das wichtigste Motiv für den PrEP-Gebrauch unter den Teilnehmern war der Wunsch nach weniger riskantem kondomlosem Sex. Die meisten Männer waren zur PrEP gekommen, weil sie Kondome gar nicht oder nur sporadisch verwendeten und erkannt hatten, dass sich daran wahrscheinlich auch nichts ändern würde – und zwar unabhängig von ihren Vorsätzen, wie dieser Mann erläuterte:

„Dies ist die beste Option für das Verhalten, das ich nun einmal als mein Verhalten erkannt habe. Auch wenn ich mich nicht immer schütze, will ich trotzdem HIV-negativ bleiben.“

Viele Teilnehmer beschrieben eine starke Abneigung Kondomen gegenüber. Sie beklagten eine Einschränkung des Empfindens, weniger Spontaneität, Erektionsschwierigkeiten und einen Verlust an Intimität.

„Auch wenn ich mich nicht immer schütze, will ich trotzdem HIV-negativ bleiben“

Die meisten Männer fühlten sich durch die PrEP gut vor HIV geschützt. Auf der anderen Seite erkannten sie aber auch an, dass die PrEP anders als Kondome keinen Schutz vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen bietet. Einige Männer berichteten, dass sie je nachdem, wie sie ihre Partner einschätzten, in bestimmten Situationen weiterhin Kondome verwendeten, während andere das Risiko anderer sexuell übertragbarer Infektionen für vertretbar hielten.

Angst, Scham und Schuldgefühle

„Manchmal denke ich: Okay, auch wenn ich die PrEP nehme, sollte ich vielleicht doch keinen ungeschützten Sex haben, weil ich mir dabei etwas anderes einfangen kann. Aber dann ist da die andere Stimme in mir. Sie sagt: Nun, die anderen Geschlechtskrankheiten sind nicht so endgültig wie HIV. Wenn ich mir eine einfange, kann man sie leicht heilen.“

Weil die PrEP das HIV-Risiko senkt und den Männern eine Präventionsmethode bot, die für sie akzeptabler war, führte sie zum Abbau von Gefühlen der Verletzlichkeit, Angst und Scham, die mit ihrem bisherigen Sexualverhalten verbunden waren.

Die Männer beschrieben die Angstgefühle, die sie vor der PrEP-Nutzung beim Sex hatten, und ihre negativen Auswirkungen auf ihr mentales und emotionales Wohlbefinden:

„Ich tat, was ich konnte, und hatte trotzdem immer das Gefühl, damit langfristig nicht über die Runden kommen zu können. Als müsste ich jeden Tag neu gegen dieses unsichtbare Etwas kämpfen. Ich fühlte mich ohnmächtig. Und das Ganze nicht nur dann, wenn ich mich testen ließ, und nicht nur, wenn ich Sex hatte, sondern noch eine ganze Woche nach dem Sex. Durfte ich das tun? Oder hätte ich das besser sein lassen sollen? Das habe ich mich immer wieder gefragt.“

„Ich konnte nur noch denken, dass ich mich irgendwann mit HIV infizieren würde“

Diese intensiven Emotionen führten allerdings normalerweise nicht zu einer nachhaltigen Änderung des Sexualverhaltens, sondern nur zu noch mehr Schamgefühlen und Selbstvorwürfen wegen ihres Sexualverhaltens – und häufig zu der fatalistischen Haltung, dass sie sich früher oder später sowieso mit HIV infizieren würden. Der im vorherigen Absatz zitierte Mann fuhr folgendermaßen fort:

„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich in punkto Sex nur noch denken konnte, dass ich mich irgendwann mit HIV infizieren würde. Es musste einfach passieren, denn die Alternative wäre gewesen, mit niemandem mehr intim zu werden.“

Angstfreiheit fördert die sexuelle Gesundheit

Die PrEP ermöglichte es den Männern, ihre Sexualität auf neue Art und Weise zu erleben. Der Interviewpartner mit der größten PrEP-Erfahrung (19 Monate PrEP-Nutzung) beschrieb dies wie folgt:

„Wenn du schwul bist – und insbesondere, wenn du so promisk lebst wie ich –, besteht immer ein reales Risiko, dass du dich infizierst. Und auch wenn die PrEP vielleicht nicht zu 100 Prozent schützt, ist ihre Schutzwirkung doch sehr hoch. Und ohne diesen Stress und diese Angst zu leben, das hat etwas sehr Befreiendes.“

Viele Männer beschrieben auch, dass sich durch die PrEP ihre Selbstwirksamkeits-Erwartung verbesserte. Sie fühlten sich durch ihre Nutzung gestärkt und pro-aktiv, im Gegensatz zu der vorher von ihnen empfundenen eingeschränkten Handlungsfähigkeit.

„Ohne Stress und Angst zu leben, hat etwas sehr Befreiendes“

„Ich würde sagen, dass sie einen enormen Einfluss auf mich hat. Es gibt nur wenige Situationen, in denen ich mich noch als Opfer fühle …  Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass mir etwas von außen widerfährt, ohne dass ich selbst es will.“

Positive Auswirkungen auf Beziehungen

Der Abbau von Angst und Scham führte zu befriedigenderen sexuellen Begegnungen:

„Wenn ich früher Sex ohne Kondom hatte, war das zwar wahnsinnig aufregend und fühlte sich auch sehr geil an. Aber zur gleichen Zeit tobte in mir das Chaos, und ich fühlte mich schrecklich … Dank Truvada kann ich nun einen Teil dieser von Furcht geprägten Gedanken verstummen lassen, und ich fühle mich viel stärker mit dem verbunden, was ich tue, fühle mich gut dabei.“

Die Teilnehmer sahen die PrEP als „sexuell befreiend“ in dem Sinn, dass sie nun sexuelle Wünsche ausleben konnten, die sie zuvor unterdrückt hatten. Vielen ermöglichte die PrEP zum Beispiel, beim Sex der aufnehmende Partner zu sein.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal ohne Angst erlebten könnte. Aber weil ich jetzt die PrEP nehme, wurde passiver Sex für mich zu einer Option. Und nachdem ich das dann zum ersten Mal erlebt hatte, dachte ich: Wow, das gefällt mir!“

Andere sprachen davon, dass sie sich nun Beziehungen mit HIV-positiven Männern vorstellen könnten. Und Männern, die bereits seit langem in Beziehungen mit HIV-positiven Partnern lebten, ermöglichte die PrEP ein befriedigenderes Sexualleben, weil sie ihnen die Angst nahm und die Möglichkeit bot, auf Kondome zu verzichten.

„[Mein Partner] sah sich in der Verantwortung, mich zu schützen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um mich nicht zu infizieren. Und auch wenn das immer noch möglich ist, ist die Angst verschwunden. Und das hat unseren Sex verbessert, unsere Intimität vertieft und sich positiv auf unsere Beziehung ausgewirkt.“

Es kann auch negative Auswirkungen der PrEP geben

Neben den positiven Auswirkungen der PrEP gab es aber auch negative. So wurden Interviewpartner wegen ihrer PrEP-Nutzung stigmatisiert (oder befürchteten Stigmatisierung).

„Wenn man online auf Dating-Websites chattet und sagt, dass man die PrEP nimmt, bekommt man manchmal Sachen zu hören à la: Oh, du nimmst die PrEP, dann musst du ja eine Schlampe sein, verantwortungslos sein, dann musst du ja es ja wohl ziemlich bunt treiben, wenn du denkst, dass du das nötig hast.“

An den Berichten einiger Männer wurde deutlich, dass sie dieses Stigma verinnerlicht hatten. Dies zeigte sich an Äußerungen über Scham, Reue und innere Konflikte bezüglich ihres Sexualverhaltens unter PrEP. Auch von Beschäftigten im Gesundheitswesen fühlten einige Männer sich stigmatisiert, weil sie die PREP nahmen oder sich danach erkundigten. Und den ärztlichen Rat, trotz PrEP weiterhin Kondome zu verwenden, empfanden viele Männer als lebensfremd und bevormundend; häufig führte dies auch dazu, dass sie falsche Angaben zu ihrem Kondomgebrauch machten.

Fazit zum Thema HIV-PrEP und sexuelle Gesundheit

Die Berichte der Studienteilnehmer werfen ein Licht auf die Bandbreite der Prioritäten aus dem Bereich sexuelle Gesundheit, welche zur Entscheidung für die PrEP-Nutzung führen können. Dazu gehört etwa, HIV-negativ bleiben zu wollen, die sexuelle Funktionsfähigkeit zu bewahren, die sexuelle Befriedigung zu erhalten und größere Intimität mit den Partnern zu erleben. Die erheblichen Auswirkungen, die der Abbau von Scham- und Angstgefühlen rund um die Sexualität hat, machen die psychologische Belastung deutlich, die das Leben mit einem erhöhten HIV-Risiko mit sich bringt, so Shane Collins und seine Kolleg_innen.

Der durch die Angst vor HIV verursachte Stress ist unterschätzt worden

Ähnliche Themen finden sich auch in einer weiteren qualitativen Studie mit PrEP-Nutzern, die von Kimberley Koester und ihren Kolleg_innen in Culture, Health and Sexuality veröffentlicht wurde (erste Ergebnisse von Teilnehmern der iPrEx-OLE-Studie waren 2014 berichtet worden).

In ihrem Beitrag schreibt Koester, dass der durch die Angst vor HIV verursachte Stress vor Einführung der PrEP unterschätzt worden sei. Die PrEP habe die Ängste der von ihr Interviewten abgebaut und ihnen zugleich die Möglichkeit geboten, diese Ängste zu äußern.

Beide Autor_innen kritisieren, dass die meisten Forschungsbeiträge zu PrEP und zum Sexualverhalten sich auf die befürchtete „Risikokompensierung“ konzentrieren. Gemeint ist die Sorge, dass PrEP-Nutzer_innen seltener Kondome verwenden oder mehr Sexpartner_innen haben als vorher. Wer von „Risikokompensierung“ spreche, werde aber den Erfahrungen der PrEP-Nutzer nicht gerecht, so Koester. Die von den Männern beschriebenen Veränderungen seien eher emotionaler Art und lägen weniger auf der Verhaltensebene. Die PrEP habe ihren inneren Umgang mit der Angst vor HIV verändert, sodass sie sich beim Sex wohler und entspannter fühlten.

„Männer, die die PrEP nahmen, empfanden die Freiheit, Sex so zu praktizieren, dass er ihnen größere emotionale, körperliche oder sonstige Erfüllung bot“, so Koester. „Dies als Risikokompensierung zu bezeichnen, läuft den Berichten und Empfindungen der Männer zuwider.“

Literatur

Collins SP et al. The Impact of HIV Pre-exposure Prophylaxis (PrEP) Use on the Sexual Health of Men Who Have Sex with Men: A Qualitative Study in Seattle, WA. International Journal of Sexual Health 29: 55-68, 2017. (Abstract).

Koester K et al. Risk, safety and sex among male PrEP users: time for a new understanding. Culture, Health & Sexuality, online ahead of print, 2017. (Abstract).

* Original: Taking PrEP has a profound impact on gay men’s sexual health and wellbeing, veröffentlicht am 9. Juni 2017 auf aidsmap.com; Übersetzung: Literaturtest. Vielen Dank an NAM/aidsmap.com für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!