Als bei Regina gar nichts mehr ging, tippte sie auf Burn-out. Wochenlang konnte die heute 58-Jährige nach ihrem Umzug vom Saarland nach Leipzig die Kartons nicht auspacken, so kraftlos war sie. Dass Aids dahinter stecken könnte, ahnte sie nicht einmal.
Regina, 58, lebt in Leipzig. Sie ist Buchhalterin in Rente und hat drei erwachsene Söhne.
Wie hast du erfahren, dass du HIV-positiv bist?
Ich wurde immer müder und schlapper und hab gedacht, wenn dir der Arzt nicht helfen kann, geh ich einfach mal zum Blutspenden, vielleicht finden die was. Und da hab ich’s dann erfahren.
Du hattest zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich schon viel durchgemacht, oder?
Das kann man wohl sagen, das Virus hatte sich bei mir richtig ausgetobt. Herpes-Zoster im Mittelohr, unmittelbar danach eine Hirnhautentzündung, schwarze Warzen an den Füßen, die operativ entfernt werden mussten, weil ich nicht mehr laufen konnte. Dann hatte ich zwei Operationen an der Wirbelsäule und hab eine künstliche Hüfte bekommen. Auch mein Gehirn war geschädigt, ich hatte Wortfindungsstörungen und konnte nicht mehr logisch denken, das Kurzzeitgedächtnis war gestört. Es ging bergab.
Kein Burn-out, sondern Aids
Das ist eine ganze Menge. Wie ging es dir dabei psychisch?
Ich habe mit der Zeit Depressionen bekommen: ständig beim Arzt und keiner kann einem helfen. Ich war vorher ein Mensch, der ganz viel geschafft hat, 24 Stunden am Tag waren nicht genug für mich, ich hätte 30 Stunden gebraucht. Ich hatte drei Söhne, eine 160-m²-Wohnung, Schule, Job und so weiter…
„Niemand hat etwas gesagt, obwohl die Symptome lehrbuchmäßig waren“
Von hundert auf null.
Ja, ich hab im Büro vor dem Computer gesessen – ich war Buchhalterin – und wusste einfach nicht mehr, wie es geht. Der Arzt hatte mich gesundgeschrieben und dann sitzt du da und fragst dich, was los ist. Ich war total kaputt. Und dann hab ich mir gedacht, vielleicht hab ich ein Burn-out.
Und die Ärzte hatten auch keine Idee, woran es liegt?
Nee, und es hat mich auch keiner angesprochen. Die haben das auf psychische Probleme geschoben. Es ging mir vorher schon mal eine Zeit lang nicht gut. Und dann haben sie mich in die Apotheke geschickt: Holen Sie sich halt was gegen Ihren Durchfall. Und das nach anderthalb Jahren Durchfall!
Was hättest du gesagt, wenn sie dir einen HIV-Test angeboten hätten?
Dann hätte ich den Test natürlich gemacht. Ich wollte ja wissen, was mit mir los war. Aber niemand hat etwas gesagt, obwohl die Symptome lehrbuchmäßig waren. Es ist immer noch in den Köpfen, dass HIV nur schwule Männer betrifft. Aber das stimmt eben nicht.
„HIV betrifft nicht nur schwule Männer“
Und du hast selber gar nicht an HIV gedacht?
Nein, keine Sekunde (lacht). Man setzt sich ja mit HIV nicht auseinander, wenn man nicht davon betroffen ist. Ich war dreimal verheiratet, ich bin nie irgendwie aus der Ehe ausgeschert, hatte keine „Abenteuer“. Wenn das so gewesen wäre, hätte ich vielleicht darüber nachgedacht. Aber so eben nicht. Ich war sehr naiv.
Wie hast du damals über HIV gedacht?
Ich wusste, dass es das gibt, aber mehr auch nicht – und ich habe meinen Jungs gesagt: ‚Passt auf, ihr müsst, euch schützen!‘ Und dann hat’s die Mutter!
Und wie ist es dann herausgekommen?
Das war mein innerer Doktor. In meiner Naivität habe ich gedacht: Wenn die Ärzte nichts finden, dann gehe ich mal Blutspenden, dort werden doch auch einige Tests gemacht. An HIV habe ich dabei immer noch nicht gedacht. Dann haben die mich angerufen und gesagt, ich muss noch mal wiederkommen, weil mein Blut „verunreinigt“ sein könnte. Da wurde ich nervös.
Was hast du gedacht, als du die Diagnose HIV bekommen hast?
Das war ein totaler Schock, so viel Adrenalin hat mein Körper noch nie ausgestoßen. Ich habe gedacht: Jetzt sterbe ich. Ich bin tot. Der Arzt hat mir dann gleich gesagt: Nein, das ist Quatsch, so ist das nicht mehr, die Medikamente sind sehr gut geworden. Aber im ersten Moment denkt man, das war’s jetzt.
Endlich Besserung und neuer Lebensmut
Wie bist du mit dieser neuen Lebenssituation umgegangen?
Die ersten 14 Tage waren schlimm. Ich habe in der Zeit mit niemandem gesprochen und musste das erst einmal mit mir alleine ausmachen. Jeder muss da seinen eigenen Weg finden. Für mich war klar: Ich muss es allen sagen.
„Die Diagnose war eine Lebenshilfe“
Und wie hat sich dein Leben dann entwickelt?
Positiv! (lacht) Ich habe wegen der Krankheit mein Leben umgestellt, darauf geachtet, dass ich nur noch Menschen in meiner Umgebung habe, mit denen ich gut zurechtkomme, die mich nicht stressen. Ich hab gesagt, okay, jetzt gibt’s mich nicht mehr ohne HIV, wer damit nicht klarkommt, hat ein Problem, nicht ich. Ich kann wieder ganz normal leben, habe ganz normale Freundschaften. Ich bin rundum zufrieden, bis auf das, was halt nicht mehr funktioniert, aber damit komme ich auch zurecht. Die Diagnose war eine Lebenshilfe. Ich war mal so ein Mensch, der sich alles gefallen lässt, alles in sich reingefressen hat, Leute konnten mit mir machen, was sie wollten. Das geht seitdem nicht mehr.
Und gesundheitlich?
Ich habe die Medikamente genommen, und nach einem Monat ging’s mir schon richtig gut. Da hab ich wieder neuen Lebensmut gefasst. Ich habe auch überhaupt keine Nebenwirkungen. Allerdings ist was zurückgeblieben, mein Kopf funktioniert nicht mehr so richtig, ich vergesse sehr viel und habe Wortfindungsstörungen. Ich trainiere meine Konzentrationsfähigkeit und mein Denken mit Lerncomputerspielen für Kinder, aber so richtig wird das nicht mehr.
Bereust du, dass du erst so spät einen HIV-Test gemacht hast?
Rückblickend finde ich das schade, aber man kann es halt nicht ändern. Es wäre gut, wenn es anderen erspart bliebe.
Weißt du eigentlich, wie genau du dich infiziert hast?
Nein, das will ich auch nicht. Das ist für mich nicht interessant. Ich habe es und muss damit zurechtkommen. Das ist alles, was zählt. Herauszufinden, wo es herkommt, würde mich zu viel Kraft kosten. Das brauche ich einfach nicht.
Du bist mit deinen beiden Hunden unterwegs. Was bedeuten sie dir?
Sie bedeuten mir alles. Die sorgen dafür, dass ich rauskomme, egal was für Wetter ist, egal wie ich mich fühle. Das sind meine Lebensretter, die retten mir den Tag.
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