Rund 50 Metropolen haben sich dem weltweiten Netzwerk „Fast-Track Cities Initiative to End Aids“ angeschlossen, darunter auch Berlin und Paris. Während sich die deutsche Hauptstadt noch in der Planungsphase befindet, ist man in Paris bereits in Aktion getreten.
Von Athen und Brüssel über Buenos Aires und Mexiko-Stadt bis Durban und Jakarta reicht die Liste der Akteure dieses von UNAIDS und UN-Habitat initiierten Städtenetzwerks. Ihr gemeinsames Ziel: Bis 2020 sollen 90 Prozent der Menschen mit HIV von ihrer Infektion wissen, 90 Prozent der HIV-Positiven sollen in Behandlung sein und bei 90 Prozent der Behandelten soll die Viruslast unter der Nachweisgrenze bleiben. Bis 2030 soll es schließlich so gut wie keine Neuinfektionen mehr geben.
Berlin ist der „Fast-Track Cities Initiative to End Aids“ als einzige deutsche Stadt vor einem Jahr beigetreten, zum aktuellen Stand der Planungen informierte uns Senatorin Kolat jüngst in einem Interview. In Paris sind bereits die ersten Aktivitäten als Fast-Track-City angelaufen. Eve Plenel, die lange bei ACT UP Paris aktiv war und später einen HIV-Checkpoint sowie ein HIV-Projekt für Migrantinnen leitete, ist seit gut einem Jahr Projektmanagerin von Paris sans sida (Paris ohne Aids). Alle Fäden der Pariser Fast-Track-City-Kampagne laufen bei ihr zusammen.
Eve Plenel, Sie sind, was manche überraschen wird, direkt der Bürgermeisterin von Paris unterstellt.
Die Fast-Track-City-Programme können meines Erachtens nur dann wirklich gut funktionieren, wenn die Stadtregierungen selbst die Sache in die Hand nehmen. Paris ist genau diesen Weg gegangen. Meine Aufgabe ist es nun, die Stadtverwaltung und die Basis – die HIV-Community und ihre Organisationen – zusammenzubringen und so die Umsetzung des Programms zu unterstützen.
Kam der Anstoß, Paris zur Fast-Track-City zu machen, aus der HIV-Community?
Nein, initiiert hat das Ganze die Bürgermeisterin Anne Hidalgo selbst. Sie hat sich schon vor ihrer politischen Karriere im HIV/Aids-Bereich engagiert, unter anderem als Präsidentin eines lokalen Projekts für Menschen mit HIV. Sie kennt sich mit dem Thema also aus und möchte hier auch etwas bewegen. Ihre Wahl zur Bürgermeisterin erfolgte zeitgleich mit dem Start des UN-Projekts „Fast-Track City“, und sie war sofort mit dabei.
Sehr klug war von ihr, dass sie sich als Erstes mit der Epidemiologin France Lert eine anerkannte HIV-Wissenschaftlerin an ihre Seite holte. Nichtregierungsorganisationen und Aktivist_innen wie auch die Ärzteschaft vertrauen France Lert gleichermaßen und schätzen ihr Fachwissen. Sie war deshalb die ideale Wahl, um 2015 mit den HIV-Organisationen, den lokalen Akteuren sowie Verantwortlichen in der Stadtverwaltung und dem Gesundheitsministerium Gespräche zu führen und ein Kampagnen-Konzept zu erarbeiten. Nach rund acht Monaten stand schließlich ein Programm, das alle Beteiligten ausnahmslos unterstützen.
„Alle Beteiligten stehen dahinter und ziehen an einem Strang“
Das heißt, alle waren sich einig – selbst bei kontrovers diskutierten Themen wie der PrEP?
Diese Debatten hatte es gegeben, aber sie wurden bereits in der Vorbereitungsphase ausgetragen. Mit dem Programm war eine gemeinsame Basis geschaffen, was die Zusammenarbeit ungemein vereinfachte. Alle Beteiligten – ob Gesundheitseinrichtungen, Aids-Organisationen, Aktivisten oder Selbsthilfegruppen – stehen dahinter und ziehen nun an einem Strang. Auch auf politischer Ebene wird das Programm von sämtlichen Parteien unterstützt.
Ein so breites Bündnis zu schließen, ist wichtig, aber sicherlich nicht einfach.
Entscheidend war, dass der eigentliche Impuls von höchster politischer Stelle ausging, in diesem Falle von der Bürgermeisterin. So ist es gelungen, die Akteure aller Ebenen zusammenzubringen. Vorher hatte keiner der Beteiligten seine tägliche Arbeit im Sinne von „Aids beenden“ begriffen. Jeder hatte immer nur seine Organisation und die eigene Arbeit in der HIV-Community im Blick, aber nie das große Ganze, nämlich die Epidemie zu beenden.
Eine grundsätzlich andere Haltung vertritt die Bürgermeisterin einzig in Sachen Sexarbeit: Sie möchte am liebsten, dass es sie überhaupt nicht mehr gibt. Trotzdem haben alle Seiten erkannt, dass wir uns erst einmal auf unser Programm konzentrieren müssen, und dabei gilt es eben auch zu schauen, wie wir bei Sexarbeiterinnen besser für die PrEP und den HIV-Test werben können.
Welche neuen Projekte wurden für „Paris sans sida“ entwickelt, um Aids zu beenden?
Genau genommen geht es gar nicht um neue Projekte, sondern um stärker zielgerichtetes, fokussiertes Arbeiten. In Paris werden beispielsweise pro Jahr rund eine Million HIV-Tests durchgeführt, die meisten sind Routinetests in der Schwangerschaftsberatung und in Krankenhäusern. Den Test der breiten Bevölkerung zu empfehlen, wäre wenig effektiv. Wir wissen sehr genau, auf welche Gruppen und Communitys und in welchen Quartieren und Bezirken sich die HIV-Infektionen in Paris konzentrieren. Wir geben das Geld also dafür aus, die Testangebote exakt in diesen Bereichen und Stadtteilen zu verstärken. Und auch die Krankenkassen und andere Organisationen im Bereich „sexuelle Gesundheit“ haben wir dazu bewegen können, ihre Budgets für Prävention und Öffentlichkeitsarbeit gezielt einzusetzen, so etwa für schwule Männer und Migrant_innen.
„Es geht um stärker zielgerichtetes, fokussiertes Arbeiten“
Wir müssen ganz klar sehen: HIV und Aids betrifft nicht jeden, sondern ganz bestimmte Gruppen. Die sexuelle Orientierung, die Religion, die Herkunft und Ethnie – all das spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, inwieweit jemand von HIV betroffen ist. Diese Sichtweise zu fördern, ist eine große Herausforderung, denn in der französischen Mentalität ist tief verankert, die Bevölkerung als Einheit wahrzunehmen und nicht über Minderheiten zu sprechen.
Und wie wird nun versucht, diese Sichtweise zu fördern?
Wir haben beispielsweise unter dem Motto „Machen wir Liebe. Machen wir Paris, die Stadt der Liebe, zur Stadt ohne Aids” eine Plakatkampagne mit sechs Protagonist_innen gestartet. Ihre Porträts sind überall zu sehen, auf Plakatwänden, in den U-Bahnstationen. Doch anders als bei bisherigen Aids-Kampagnen gibt es hier keinen einzigen heterosexuellen weißen Mann. Stattdessen eine Transgender-Frau, Menschen aus Afrika, schwule Männer. Jede dieser Personen steht für eine Möglichkeit, wie Aids beendet werden kann: durch die PrEP, durch HIV-Selbsttests, mittels Schutz durch Therapie oder durch Kondome.
Die Plakatkampagne hätten ja auch Aids-Organisationen umsetzen können. Inwieweit ist die Beteiligung der Stadt hier von Bedeutung?
Die hier vermittelten Botschaften sind in der Tat nicht neu. Aber es macht einen großen Unterschied, von wem sie kommen. Entscheidend ist, dass auf den Plakaten als Absender „Bürgermeisterin von Paris“ steht, die Botschaften also von höchster Stelle in der Stadt kommen. Diese Kampagne hat wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Wirkung. Und sie ist auch stärker sichtbar: Die Plakate hängen im Großformat überall in der Stadt an zentralen Stellen, die von Aids-Organisationen so weder zu bekommen noch zu finanzieren wären.
Gab es Kritik an der Fokussierung auf die genannten Bevölkerungsgruppen?
Nein, bislang nicht. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Neun von zehn Neuinfektionen in Paris werden bei schwulen Männern oder Menschen mit dunkler Hautfarbe diagnostiziert. Die restlichen Fälle betreffen Trans-Frauen und heterosexuelle weiße Frauen, die sich womöglich bei afrikanischen oder bisexuellen Männern infiziert haben. Zugleich tragen wir mit dieser Plakataktion dazu bei, dass schwule Sexualität oder das Sexualleben von afrikanischen Frauen und anderen Migrant_innen als selbstverständlich wahrgenommen wird.
Gibt es schon Anzeichen dafür, dass die Aktivitäten rund um „Paris sans sida“ die erhoffte Wirkung erzielen?
Dazu ist es noch zu früh. Die Zahl der PrEP-User beispielsweise ist noch nicht in dem von uns erwarteten Maß gestiegen. Wir wissen noch nicht, woran es liegt. Die Medikamente sind kostenfrei und einfach zu bekommen, gerade in Paris. Und die meisten Ärzt_innen, die eine PrEP verordnen, sind selbst PrEP-Aktivisten. Im Grunde also die besten Voraussetzungen.
Die PrEP spielt eine wichtige Rolle in eurem Programm. Von wie vielen Menschen wird sie mittlerweile genutzt?
Für uns war es ein Glücksfall, dass die PrEP rechtzeitig zum Start des Programms landesweit für jeden zugänglich war, und zwar kostenfrei. Eine Aufgabe von „Paris sans sida“ besteht nun darin, die PrEP bekannter zu machen und die Nachfrage zu erhöhen. Wir wollen deutlich machen, dass die PrEP eben nicht nur für einen kleinen Teil der Schwulen-Community eine Möglichkeit der HIV-Prävention darstellt, sondern ebenso für Sexarbeiterinnen oder Frauen aus der afrikanischen Community.
„Wir müssen die PrEP bekannter machen und die Nachfrage erhöhen“
Vor der regulären Zulassung der PrEP im März 2017 gab es rund 300 PrEP-User, seither sind etwa 1.000 hinzugekommen – in ganz Frankreich wohlgemerkt. Wir müssen daran arbeiten, dass die PrEP ganz selbstverständlich als Mittel der Prävention und nicht mehr als stigmatisierend wahrgenommen wird. Sie soll also nicht nur in den Schwulenmedien, sondern zum Beispiel auch in großen Tageszeitungen wie „Le Monde“ thematisiert werden.
Afrikanische Migrant_innen sind, neben schwulen Männern, die Gruppe mit den meisten Neuinfektionen. Wie will man sie besser erreichen?
Dank einer großen Studie gibt es sehr detaillierte wissenschaftliche Daten zu dieser Bevölkerungsgruppe. Die Hälfte der Männer und ein Drittel der Frauen mit HIV haben sich erst in Frankreich infiziert, und zwar innerhalb der ersten sechs Jahre nach ihrer Ankunft. Wir wissen auch, dass viele von ihnen in dieser Zeit arbeitslos, ohne Papiere und oft auch obdachlos sind. Wir haben deshalb die beliebteste afrikanische Radiostation mit ins Boot geholt und ebenso die vier Nichtregierungsorganisationen, die bereits mit der Community arbeiten.
Diese NGOs sind wichtige Partner, weil sie Zugang zu den Menschen haben. Wir unterstützen sie dabei, Partys und andere Events zu veranstalten, die dann dazu genutzt werden können, mit den Anwesenden über HIV zu sprechen. Die NGOs sind allerdings sehr klein, stoßen schnell an ihre Grenzen und treffen oft auch auf Hindernisse. Ein Beispiel: Die Polizei weist dem Bus der mobilen HIV-Test-Station ungünstige Aufstellzeiten zu oder quartiert die Station kurzfristig um. Das ist natürlich unsinnig – und da komme ich dann ins Spiel. Wenn ich als Mitarbeiterin der Bürgermeisterin bei den entsprechenden Stellen anrufe, hat das eine andere Wirkung, als wenn sich die NGOs selbst beschweren.
Eine Kampagne wie „Paris sans sida“ gibt es nicht umsonst. Woher kommt das Geld?
Frankreich ist ein zentralistisch regiertes Land. Das bedeutet, das Gesundheitswesen ist eine staatliche und keine kommunale oder regionale Angelegenheit. Die Städte verfügen deshalb kaum über ein eigenes Gesundheitsbudget und haben auch wenig Kompetenzen in diesem Bereich. Zur Finanzierung von „Paris sans sida“ hat die Stadt selbst Geld in einen Topf geben und zugleich private Geldgeber gebeten, sich zu beteiligen.
„Wir müssen einfache Lösungen auf schnellem Wege anbieten“
Eine der Hauptaufgaben unseres Programms ist, die bereits vorhandenen Mittel gezielter einzusetzen. Zum Beispiel ist es unserer Ansicht nach wenig sinnvoll, auf Schwulenpartys Flyer und Kondome zu verteilen, deshalb finanzieren wir das auch nicht. Wir halten es dagegen für wichtig, schwule Männer über die PrEP zu informieren, sie zu motivieren, sich regelmäßig testen zu lassen, und auch Chem-Sex zum Thema zu machen und ihnen zu sagen, wie sie sich vor körperlichen und psychischen Schäden schützen können – all das aber nicht über Flyer, sondern im Internet und mit Apps auf den Kontaktplattformen. Solche Infos müssen kurz und per Klick zu bekommen sein: Wie kann ich mich testen lassen? Wo krieg ich die PrEP? Ich weiß nicht, was letzte Nacht passiert ist, wo bekomme ich jetzt schnell eine PEP? Wir müssen also einfache Lösungen auf schnellem Wege anbieten.
Kondome spielen in der Kampagne bisher kaum eine Rolle.
Bei schwulen Männern werden Kondome so häufig gebraucht wie in keiner anderen Bevölkerungsgruppe. In der Breite für Kondome zu werben, ist daher nicht sinnvoll. Vielmehr müssen wir einen Weg finden, um ganz gezielt junge Menschen zu erreichen. Das wollen wir im nächsten Jahr angehen.
Wie ist die Situation von Migrant_innen und von Menschen ohne Papiere?
In Frankreich hat jede Person Zugang zur Gesundheitsversorgung, sobald sie mindestens drei Monate im Land lebt – auch zur HIV-Behandlung. Und mit einer HIV-Diagnose ist es für Geflüchtete einfacher, einen Aufenthaltsstatus zu erhalten. Die Rahmenbedingungen sind also nicht so schlecht. Doch neu ankommende afrikanische Migrant_innen wissen das meist nicht und haben erst einmal ganz andere Probleme: Wo schlafe ich heute? Wo bekomme ich etwas zu essen? Sexuell übertragbare Infektionen und entsprechende Schutzmöglichkeiten sind deshalb kein drängendes Thema für sie.
Aber wie können diese Menschen dann erreicht werden?
Eigentlich werden sie ja erreicht, denn alle haben in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft Kontakt zu Ärzt_innen. Aber da gibt es so viel zu untersuchen und zu erklären, dass kaum Zeit bleibt, um auch noch über HIV zu sprechen und den Leuten zu vermitteln, warum sie in besonderem Maß Infektionsrisiken ausgesetzt sind. Deshalb müssen wir dafür andere Wege nutzen, wie etwa das Radio oder Veranstaltungen.
„Es ist nur eine Frage des Willens, diese Menschen zu erreichen“
Auch wenn diese Menschen ums tägliche Überleben kämpfen: Sie haben ein Leben. Sie gehen in die Kirche, in Bars, auf Partys und Feste. Und dieses Leben konzentriert sich in Paris auf einige wenige Quartiere. Wir wissen, wo die Obdachlosen kampieren, wir wissen, welche Gesundheitszentren sie aufsuchen. Es ist also nur eine Frage des Willens, diese Menschen zu erreichen. Zugleich ist dafür zu sorgen, dass die Sozialarbeiter_innen in den Wohnheimen entsprechend geschult sind. Denn auch sie wissen oft kaum über HIV Bescheid. Das ist freilich ziemlich aufwendig.
Fortbildungsmaßnahmen für Tausende Menschen sind nicht zuletzt eine Kostenfrage.
Richtig. Man muss daher genau prüfen, in welchen Einrichtungen sie besonders sinnvoll und dringend sind. Man kann aber auch schon mit kleinen Dingen, die nicht viel kosten, einiges bewegen. Die Bewohner_innen einer Notunterkunft erhalten beim Einzug in der Regel ein Hygiene-Paket, das unter anderem Seife, Zahnbürste und Zahnpasta und für Frauen Monatsbinden enthält. Warum nicht auch einen HIV-Selbsttest mit Anleitung, Infos zu HIV und zur PrEP oder Kondome dazupacken? Die Leute werden vielleicht verwundert sein und es nicht verstehen, aber daraus kann sich dann ein Aufklärungsgespräch ergeben.
Welchen Rat können Sie dem Berliner Senat für sein Fast-Track-City-Programm geben?
Wichtig ist, dass die entscheidenden Impulse von höchster politischer Ebene ausgehen. Und wenn nicht vom Bürgermeister selbst, dann eben von anderen prominenten Regierungsvertreter_innen. Sie können nur gewinnen. Aids ist schon lange kein Schmuddelthema mehr. Im Gegenteil: es bietet sich eine Gelegenheit, Werte und Ideen zu vermitteln. Es geht um Inklusion, die Sichtbarkeit von Minderheiten und darum, das Leben vieler Menschen zu schützen und zu verbessern. Das haben neben Anne Hidalgo auch die Bürgermeister_innen anderer Fast-Track-Städte wie New York, San Francisco oder Amsterdam erkannt. Sie müssen sich nicht um jedes Detail kümmern, sondern nur ihre Verwaltung so organisieren und instruieren, dass die Akteur_innen die Projekte reibungsfrei umsetzen können.
Zum Thema Fast-Track-City Berlin sprachen wir mit Dilek Kolat, der Senatorin für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung.