„Bei ACT UP ging es nicht um bedauernswerte Opfer“

Auf dem Höhepunkt der Aidskrise fand Robin Campillo für sich einen Weg, mit der Angst und Ohnmacht umzugehen: Er engagierte sich in der Aktionsgruppe ACT UP Paris. Seine Erinnerungen an diese Zeit bündelte er in dem gefeierten Spielfilmdrama „120 BPM“.

Herr Campillo, was hat Sie dazu bewogen, Ihre Zeit bei ACT UP Paris in einem Spielfilm zu thematisieren?

Die Initialzündung gab vor über sieben Jahren ein Gespräch mit meinem Produzenten Hugues Charbonneau. Wir drehten damals „Eastern Boys“ und ich bat ihn um ein paar zusätzliche Drehtagte. Ich sagte: „Die schuldest du mir.“ Und er fragte, warum. „Weil ich für dich damals deinen toten Freund für die Beerdigung angekleidet habe.“ Wir haben beide gelacht, aber alle anderen um uns herum, die Techniker, die Assistenten, haben uns nur entgeistert angestarrt. Es war, als hätten wir in diesem Moment eine Tür aufgestoßen zu all diesen Dingen, wie wir damals erlebt haben und Außenstehenden einfach nur verrückt, grausam oder absurd erscheinen müssen. Diese Erlebnisse haben auf die eine oder andere Weise nun Eingang in den Film gefunden – und so auch das Ankleiden von Hugues’ verstorbenem Lebenspartner.

„Diesen Film hatte ich immer vor Augen“

Ging es also darum, den verstorbenen Freund_innen und Mitstreiter_innen bei ACT UP ein filmisches Denkmal zu setzen?

Ich sehe diesen Film nicht als Hommage oder dergleichen. Als ich 1981 zum ersten Mal in den französischen Zeitungen über diese neue Krankheit in den USA las, war ich zwanzig Jahre alt. Von da an hat diese Epidemie mein Leben beeinflusst. Diese grauenvolle Angst, dass auch ich mich infizieren und sterben könnte, hatte mich völlig paralysiert. Sie hat mich letztlich auch daran gehindert, Filme zu machen. 1992 bin ich dann zu ACT UP gestoßen und war für viele Jahre aktives Mitglied. Erst danach habe ich zum Film gefunden. Vor wenigen Jahren wurde mir schlagartig bewusst, dass dies der Film ist, den ich gewissermaßen immer vor Augen hatte, und ich fühlte mich nun auch handwerklich so weit, ihn genau so umsetzen zu können, wie er mir vorschwebte.

Was war Ihnen dabei besonders wichtig?

Ich wollte auf jeden Fall nicht noch einen Film drehen, der sich um Schwule als Opfer der Aids-Epidemie dreht. Bei ACT UP ging es eben nicht um bedauernswerte Opfer, sondern darum, böse, kämpferische Schwuchteln und Dykes zu sein! Das war eine ungemein kraftvolle Erfahrung. Mir war wichtig, diese Metamorphose zu zeigen und die Power spürbar zu machen, mit der wir gegen die Ausgrenzung von Schwulen und anderen Minderheiten, gegen die Stigmatisierung von Aidskranken und gegen die Pharmaindustrie ankämpften.

„Böse, kämpferische Schwuchteln und Dykes“

Um noch mal auf die erste Frage zurückzukommen: Ein bewusst als Hommage konzipierter Film wäre ein Film über Geister gewesen. Ein Historienfilm, wenn man so will. Mir lag aber sehr daran, die Verbindung zum Jetzt und zu den jungen Menschen heute aufzubauen. Dies war sicherlich die größte Herausforderung – eine viel größere, als die Ereignisse zu rekonstruieren und die Stimmungen und Gefühle von damals lebendig werden zu lassen.

Wie nehmen die jüngeren Zuschauer den Film denn wahr?

Was überraschen mag: Sie sind vor allem sehr bewegt von den Debatten bei den ACT-UP-Meetings. Sie stellen dabei fest, dass ihnen solche Räume für politische Diskussionen heute fehlen. Für diese Mittzwanziger erscheinen die ACT-UP-Sitzungen wie ein Utopia. Sie leben im Zeitalter des Internets, in dem man zwar jede Menge Möglichkeiten hat, seine Meinung zu veröffentlichen – sei es auf Facebook oder auf einem Blog. Aber es kommt keine wirkliche Diskussion, kein Austausch zustande, wie das bei einem persönlichen Gespräch der Fall ist, bei dem man sich ins Gesicht schaut.

Szene aus dem FIlm „120 BPM“ über ACT UP Paris

Szene aus „120 BPM“

Haben sie sich mit ehemaligen ACT-UP-Mitgliedern getroffen, um diese Erinnerungen hervorzuholen?

Ich habe diesen Film mehr oder weniger aus meinen Erinnerungen zusammengesetzt. Während meiner Zeit als Aktivist habe ich alles abgespeichert wie ein Aufnahmegerät, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Mir war wichtig, dass ich das Geschehen, die Atmosphäre, die Energie aus unserer Perspektive von damals zeige und nicht mit dem Abstand von heute. Ich wollte verständlich machen – gerade auch den jüngeren Zuschauern –, was uns umgetrieben und angetrieben hat, um dadurch auch zu ermöglichen, sich besser in alles hineinversetzen zu können. Ich habe mich aber glücklicherweise nicht allein auf meine Erinnerungen verlassen müssen, denn auch mein Produzent und mein Ko-Autor waren damals Mitglied bei ACT UP Paris.

Wirklich erstaunlich fand ich, wie es Ihnen gelungen ist, all die Konflikte und Debatten innerhalb der Bewegung zusammenzufassen und einem breiten Publikum verständlich zu machen und dabei zugleich die Bandbreite der Menschen bei ACT UP – deren Beweggründe, Lebensgeschichten und Schicksale – zu skizzieren.

Das hat mich auch sehr viel Zeit gekostet! (lacht) Ich habe deshalb mit den Hauptfiguren Nathan und Sean beziehungsweise Sean und Thibaut konträre Positionen im Kampf um einen besseren Zugang zu den noch in der Erforschung befindlichen Medikamenten und gegen die Stigmatisierung der Erkrankten herausgestellt. Zugleich war mir wichtig, auch die vielen anderen Aspekte zu berücksichtigen und zumindest anzureißen, worüber wir damals alles gesprochen haben – und zu zeigen, wie fruchtbar diese Diskussionen waren. Man kann es vielleicht „kollektive Intelligenz“ nennen. Heute ist es ein Leichtes, einen radikalen Text im Internet zu veröffentlichen. Aber was bringt das, wenn man nicht mit anderen darüber streitet und sich austauscht?

Szene aus dem FIlm "120 BPM" über ACT UP Paris

Szene aus „120 BPM“

Nicht nur die Debatteninhalte machen diese Szenen spannend, bemerkenswert ist auch die Debattenkultur. Die Zustimmung zu Redebeiträgen wird durch leises Fingerschnipsen bekundet. Es gibt Redenerlisten, eine strenge Tagesordnung und Moderation. Verliefen diese Treffen und Diskussionen tatsächlich so diszipliniert?

Wenn man in Frankreich die Leute einfach reden lässt, endet das zwangsläufig im Chaos. Deshalb waren diese strikten Regeln für uns so wichtig. Wir haben sie aber nicht selbst erfunden, sondern uns von ACT UP New York abgeguckt. Das hat sehr geholfen, um effektiv und zielführend zu debattieren und zu arbeiten. Wir waren selbst beeindruckt, dass es wirklich funktionierte, und wurden deshalb später auch immer wieder gebeten, Meetings mit LGBT- oder HIV-Organisationen zu moderieren.

„Wir waren voller Hoffnungen und Sehnsucht“

„120 BPM“ ist dennoch ein Spielfilm und keine Dokumentation. Wie haben Sie die Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen erfundenen Szenen und tatsächlichen Ereignissen gezogen? Ich denke zum Beispiel an die Szene, als Seans Asche von ACT-UP-Mitgliedern auf dem Empfang einer Versicherungsgesellschaft verstreut wird. Das erinnerte mich an eine Aktion von 1996 in Washington, als Aids-Aktivist_innen aus Protest die Urnen ihrer verstorbenen Freund_innen und Lebensgefährt_innen über den Zaun des Weißen Hauses geschüttet hatten.

Die Aktion in Washington ist durch die Dokumentarbilder bekannter geworden, aber wir haben damals bei dieser Feierlichkeit der Versicherung tatsächlich Asche über das kalte Büffet verstreut. Ich war mir mit meinem Ko-Autor Philippe Mangeot – er war damals Leiter der Pariser ACT-UP-Gruppe – allerdings nicht einig, ob es tatsächlich die echte Asche eines Verstorbenen war oder wir nur so getan haben. Das ist zugleich auch die Antwort auf die Frage nach Fiktion und Realität. Dieser Film zeigt die Wirklichkeit, wie wir sie in unserem Gedächtnis behalten haben. Mir fiel es viel leichter, diese Erinnerungen als Ausgangsmaterial zu verwenden. Und zugleich haben wir in gewisser Weise einigen damals verstorbenen Menschen ein zweites Leben schenken können, wenn auch nur auf der Leinwand.

Im Film gleiten immer wieder Sex- und Sterbezenen mit solchen aus Clubs und von Protestaktionen ineinander. Das mag im ersten Moment verstören, erzeugt aber auch eine enorme Dynamik. Welche Absicht steht hinter dieser Montage?

Ich habe mich manches Mal gefragt, warum wir damals angesichts der Situation und dem Sterben unserer Freunde nicht alle verrückt oder depressiv geworden sind. Ich glaube, es lag daran, dass wir noch jung waren.

Als ich mir bei der Vorbereitung des Films diese Zeit noch mal ganz intensiv vergegenwärtig habe, spürte ich auch wieder das Lebensgefühl, das uns damals einte. In den 80ern war jeder für sich allein, isoliert, vielleicht auch einsam. Durch ACT UP und den politischen Aktivismus aber wurden wir zu einer großen, dynamischen Gemeinschaft. Zusammen bildeten wir einen kraftvollen Strom, der sich bewegte und der etwas bewegen konnte. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich das gemeinsam mit anderen erleben durfte. Es war, als ob jemand ein Fenster aufgerissen hätte: Es war tatsächlich möglich, etwas zu verändern und Politik zu betreiben.

„Wir fanden, dass wir ein Recht hatten auf Sex, Drogen, Spaß, Tanzen und Party“

Gerade, weil um uns herum die Freunde nacheinander starben, fühlten wir uns „bigger than life“. Wir waren so voller Hoffnungen und Sehnsucht. Wir wollten überleben und wir wollten leben. Wir wussten, dass Kondome funktionieren. Safer Sex ermöglichte uns eine zweite sexuelle Befreiung – auch mir persönlich. Wir fanden, dass wir ein Recht hatten auf Sex, Drogen, Spaß, Tanzen und Party, weil wir all das so gut beherrschten wie sonst niemand und wir uns das auch von niemandem nehmen lassen wollten.

ACT UP Paris ist die einzige Gruppe in Europa, die immer noch aktiv ist. Ansonsten scheint, abgesehen von einer kleinen Neugründung in Dublin, ACT UP Geschichte zu sein. Aids aber ist noch lange nicht vorbei. Sind Sie überrascht, dass wir heute keine ACT-UP-Gruppen oder vergleichbare Organisationen mehr haben?

Keine Aktivistengruppe kann länger als fünf Jahre existieren. Danach hat sie ihren Zenit überschritten, die Energie ist verbraucht. Bei ACT UP kommt hinzu, dass die wirksame HIV-Therapie Mitte der 90er-Jahre alles verändert und auch die Gesellschaft im Umgang mit HIV und HIV-Infizierten dazugelernt hat.

Szene aus dem Film "120 BPM" über ACT UP Paris

Szene aus „120 BPM“

Die Epidemie ist zwar noch lange nicht Geschichte, aber wir befinden uns in einer Situation, in der ein Ende von Aids tatsächlich möglich ist. Vor drei, vier Jahren hätte ich das noch nicht gedacht. Wir träumten von der Heilung und einem Impfstoff. Beides gibt es immer noch nicht. Dafür aber ist es heute durch die Therapie möglich, dass HIV-Positive nicht mehr infektiös sind und man sich mit der PrEP vor einer Infektion schützen kann. An solche Möglichkeiten haben wir nicht einmal im Traum gedacht, inzwischen aber sind sie Realität.

Abgesehen davon hätte es ACT UP mit den ureigenen Formen des Protests heute weitaus schwerer. Damals konnte man mit spektakulären Aktionen und Bildern Aufmerksamkeit erzeugen. Heute aber fällt es zunehmend schwerer, gegen die stete Bilderflut in den Medien anzukommen. Deshalb finde ich es umso wichtiger, solche Themen auch auf die Leinwand zu bringen.

Aids ist ein Thema, vor dem Produzent_innen in der Regel zurückschrecken und das keineswegs die Kinokasse klingeln lässt. Teilen Sie diese Erfahrung?

In Frankreich haben mittlerweile über 800.000 Menschen den Film gesehen. Das ist großartig! Dazu hat sicherlich auch der Erfolg in Cannes beigetragen.

 Dort wurde der Film mit dem Preis der Jury und mit dem queeren Filmpreis, der Queer Palm, ausgezeichnet.

Erwartet haben wir das nicht. Überaschenderweise gehören in Frankreich sehr viele Heteros, vor allem Frauen, zum Publikum.

Es war alles andere als leicht, mit diesem Skript in der Hand Geldgeber zu finden. Es geht um Politik, um Medikamente und die Behandlung von Aids. Es gibt eine schwule Liebesgeschichte, ausgedehnte schwule Sexszenen und dazu auch noch eine lange Sterbeszene. Es ist genau genommen alles drin, was Produzenten abschreckt. Aber irgendwie hat es dann doch geklappt, und das erleichtert es vielleicht auch anderen Filmemachern, Geschichten über Minderheiten und jenseits des Mainstreams zu erzählen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen:

Filmbesprechung zu „120 BPM“