„Es braucht die Bereitschaft, auf Augenhöhe zu arbeiten“

Partizipation als Schlüssel: HIV betrifft alle Menschen, aber nicht alle haben denselben Zugang zu Informationen und Versorgung. Der vor 10 Jahren gegründete Fachbereich „Migration“ der Deutschen AIDS-Hilfe will Migrant_innen nicht nur adressieren, sondern aktiv einbeziehen.

Wenn Migrant_innen zur Beratung in die Aidshilfe Düsseldorf gehen, ist Rufin Kenfack ihr erster Ansprechpartner. „Sie sehen in mir einen Mitarbeiter, der selbst einen Migrationshintergrund hat, das Thema HIV/Aids wichtig findet und es vor allem nicht tabuisiert“, sagt der Gesundheitswissenschaftler, der in Nordrhein-Westfalen auch ein Präventionsprojekt für Menschen aus Subsahara-Afrika mitkoordiniert.

Durch seinen eigenen Migrationshintergrund falle ihm der erste Kontakt zu Migrant_innen leichter, sagt er. „Sie haben nicht das Gefühl, dass ich mit dem Finger auf sie zeige.“ Für viele seiner Klient_innen sei es etwas Besonderes, offen über HIV und Aids sprechen zu können. „Das ist für die meisten eine große Freude, ein Wow-Effekt. In den Heimatländern ist HIV/Aids oft ein Tabu und Stigma.“

Gründung eines eigenen Fachbereichs

Seit Mitte der 1990er-Jahre ist „Migration“ ein Thema des Aidshilfe-Verbands. Immer mehr Migrant_innen suchten damals  Unterstützung und Rat bei den örtlichen Aidshilfen, die wiederum bei der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) ihren dringlichen Bedarf an Infomaterialien und Fortbildungsangeboten anmeldeten. „Aids und Migration“ wurde schließlich als Querschnittsaufgabe aller DAH-Fachbereiche etabliert; ein erstes Handbuch erschien, erste Befragungen und Bestandsaufnahmen wurden durchgeführt.

Im Jahr 2000 wurde der DAH-Fachbereich „Frauen“ mit der Koordination des Arbeitsfeldes „HIV und Migration“ beauftragt. Ein Jahr später fand das erste „Bundesweite Treffen für positive afrikanische Migrantinnen und Migranten“ statt, aus dem sich bald das Selbsthilfenetzwerk „Afro-Leben+“ zu formieren begann – bis heute einer der wichtigsten Kooperationspartner der DAH in diesem Feld.

Vor zehn Jahren dann wurde ein eigener Fachbereich „Migration“ gegründet, nachdem einige lokale Aidshilfen hierfür schon Vorreiter waren. Damit wurde das Thema institutionell noch fester verankert und eine tragfähige Basis für die Koordination und Weiterentwicklung der HIV/Aids-Prävention mit Migrant_innen sowie für die politische Interessenvertretung in diesem Bereich geschaffen.

„Der Bedarf ist immer weiter gewachsen“

Und das ist auch gut so, denn: „Über die Jahre ist der Bedarf immer weiter gewachsen“, sagt Tanja Gangarova, die selbst aus Bulgarien stammt und den Fachbereich seit 2010 leitet. Gerade in den letzten fünf Jahren sei die Arbeit noch wichtiger geworden – vor allem durch den Zuzug von Geflüchteten und neuen EU-Bürger_innen, sagt sie.

Wie wichtig die Arbeit ist, zeigen auch Zahlen des Robert Koch-Instituts: Nach Männern, die Sex mit Männern haben, stellen Migrant_innen in Bezug auf HIV die zweitgrößte epidemiologisch relevante Gruppe dar. Jede dritte HIV-Neuinfektion betrifft eine Person, die zugewandert ist. Rund 40 Prozent der betroffenen Migrant_innen haben sich erst in Deutschland infiziert. Außerdem ist unter Migrant_innen der Anteil jener Menschen sehr hoch, bei denen die Infektion erst spät diagnostiziert wird. „Das ist ein deutliches Signal dafür, dass es Informationslücken gibt“, sagt Gangarova.

Als eine der Ursache sieht sie die strukturelle Ausgrenzung. Vor allem Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung sowie Geflüchtete hätten einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem. Eine Aufgabe des DAH-Fachbereichs ist daher politische Lobbyarbeit. Durch die Gründung der Bundesinitiative „HIV und Migration“ und die aktive Mitarbeit in bundesweiten Gremien zu dem Thema soll hier mehr Öffentlichkeit und politischer Druck erzeugt werden.

Beteiligung als Schlüssel zum Erfolg

Ein weiteres Ziel ist die Förderung von Diversität und Partizipation in der Präventionsarbeit selbst. „Die Beteiligung  von Migrantinnen und Migranten ist der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Gangarova. Das sehe man auch bei anderen Zielgruppen: „Die schwule Prävention ist deshalb so erfolgreich, weil sie einem partizipativen Ansatz folgt.“

„Es ist wichtig, bedarfsorientierte Ansätze zu entwickeln“, betont Idrissa Omer Ouedraogo. Der Psychologe und Sozialarbeiter mit Wurzeln in Burkina Faso arbeitet als freiberuflicher Referent für die DAH und engagiert sich ehrenamtlich für die Aidshilfe Hamburg.

Er hat außerdem als Koordinator im Modellprojekt PaKoMi (Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrantinnen und Migranten) mitgewirkt, das die DAH von 2008 bis 2011 gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Vertreter_innen verschiedener Migranten-Communities durchgeführt hat. Eines der Ziele damals: Angebote der HIV-Prävention zu entwickeln, die besser auf die Bedürfnisse von Migrant_innen zugeschnitten sind und ihnen die Teilhabe ermöglichen.

„Ich kann sagen, wo die Aidshilfe hingucken soll“

PaKoMi habe die spezifische Expertise von Migrant_innen zum Vorschein gebracht, sagt Quedraogo. „Viele von uns bringen die Erfahrungen aus den Heimatländern in die HIV-Prävention  ein.“ Allein schon die vielfältigen Sprachkenntnisse seien hilfreich, um Kontakte zu den Communities zu knüpfen.

Adama Thorlie, Referentin für Migration und Sozialrecht bei der Berliner Aids-Hilfe, nennt noch eine weitere Kompetenz: Menschen mit Migrationshintergrund können innerhalb der Aidshilfen helfen, die Bedürfnisse der Communities zu verstehen. „Ich kann sagen, wo die Aidshilfe hingucken soll. Ich kann ein Auge für die Institution sein und sie strategisch unterstützen.“

Thorlie selbst ist in Sierra Leone aufgewachsen und hat in Deutschland Abitur gemacht. Durch ihre eigenen Erfahrungen könne sie sich in Menschen hineinversetzen, die sich in einem neuen Land zurechtfinden müssen, erläutert die Soziologin, die auch einen Master in Public Health hat. „Ich finde es sehr wichtig, dass sich Migrantinnen und Migranten in der Aidshilfe wiederfinden, weil das ein Stück Empowerment ist“, betont sie.

Für eine bedarfsgerechte und angemessene HIV-Prävention

„PaKoMi“ ist längst nicht das einzige Projekt des DAH-Fachbereichs, das auf Partizipation setzte: Bei „MuMM“ ging es darum, Menschen mit Migrationshintergrund als Multiplikator_innen auszubilden und gemeinsam für und mit den Communities eine bedarfsgerechte und angemessene HIV-Prävention zu entwickeln. „AfroLebenVoice“ hatte zum Ziel, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von HIV-positiven Migrant_innen zu erfassen und eine Antidiskriminierungskampagne zu entwickeln. „Deine Gesundheit, Dein Glaube“ widmet sich der HIV-Prävention in afrikanischen Kirchengemeinden. Bereits zweimal wurden Projekte des Fachbereichs im Rahmen des Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongresses mit dem HIV-Community-Preis ausgezeichnet.

Migrant_innen können helfen, Zugang zu bestimmten Zielgruppen zu bekommen. An dieser Stelle dürfe man aber nicht stehenbleiben, betont Rufin Kenfack. Nachhaltige Arbeit sei nur möglich, wenn Migrant_innen sowohl in die Planung als auch in die Durchführung und Auswertung von Projekten einbezogen werden.

Inzwischen hätten noch weitere lokale Aidshilfen eigene Fachbereiche für „Migration“ aufgebaut. Manche Aidshilfen jedoch seien zu klein oder hätten zu wenig Geld, sagt Kenfack. Trotzdem appelliert er an sie, sich stärker mit Migration zu befassen, Kompetenzen zu bündeln und bei anderen, in dem Bereich bereits erfahrenen Kolleg_innen um Unterstützung zu bitten. Die Einbeziehungen von Migrant_innen erfordere aber auch, Macht abzugeben beziehungsweise sie zu teilen. „Es braucht die Bereitschaft, auf Augenhöhe zu arbeiten“, so Kenfack.

Es tut sich was

Gleichzeitig müsse auch aus den Communitys die Bereitschaft kommen, sich zu engagieren. Vielen Migrant_innen jedoch sei das Konzept ehrenamtlicher Arbeit aus ihren Heimatländern nicht bekannt – oder sie könnten es sich ein einfach nicht leisten, sich unentgeltlich zu engagieren. Zudem hätten viele Migrant_innen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt oder engagierten sich in vielen verschiedenen Projekten.

Deswegen sei es wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, Mitarbeit zu entlohnen, und gleichzeitig Migrant_innen zu ermutigen, ehrenamtliches Engagement nicht komplett auszuschließen, sagt Kenfack. Ersteres sei aber in einigen Fällen schon aus strukturellen Gründen nicht einfach, erläutert Tanja Gangarova. Menschen im Asylverfahren hätten das Problem, dass ihnen Leistungen gekürzt werden, wenn sie Honorare über einer gewissen Summe bekommen.

„Zehn Jahre sind noch jung, da gibt es noch viel zu lernen“

Trotzdem tut sich was. „Es ist toll, dass in der Aidshilfe mittlerweile auch People of Color sitzen“, sagt Adama Thorlie. Auch in den migrantischen Communities sei inzwischen bekannt, dass sie bei der Aidshilfe Ansprechpersonen finden. „Es ist gut, dass es Projekte gibt, die Migrantinnen und Migranten sichtbarer machen.“ Thorlie sagt aber auch: „Zehn Jahre sind noch jung, da gibt es noch viel zu lernen.“

Ihr Traum wäre eine Verstetigung der Projekte des Fachbereichs zu langfristigen Programmen – um nicht immer wieder von Neuem Gelder beantragen zu müssen. Vor allem in der Primärprävention, also der Verhinderung von Infektionen, gäbe es viel zu tun. „MiSSA“, eine Studie des Robert-Koch-Instituts zu sexueller Gesundheit bei Migrant_innen aus Subsahara-Afrika habe gezeigt, wie wichtig gesundheitliche Aufklärung ist. Nun gelte es, diese Ergebnisse auch umzusetzen, so Thorlie. Dabei sei auch das Gesundheitsministerium in der Pflicht.

„Wir müssen uns noch stärker vernetzen“

Potential gäbe es außerdem noch bei der Vernetzungsarbeit. Die Menschen mit Migrationshintergrund, die zu ihr in die Aidshilfe kämen, hätten neben der HIV-Infektion noch andere Probleme: zum Beispiel keine Wohnung oder einen fehlenden Zugang zum Arbeitsmarkt. Da gerate sie als Beraterin schnell an ihre Grenzen. „Wir können nicht für Wohnung und Ausbildung sorgen, aber wir können uns vernetzen. Wir müssen unsere Antennen ausfahren“, sagt sie. Es gehe nie nur um die Infektion, sondern auch um die Integration in die Gesellschaft.

Das große Ganze versucht auch Tanja Gangarova in den Blick zu nehmen. Ein aktuelles Projekt des Fachbereichs „Migration“ widmet sich beispielsweise queeren Geflüchteten. „Sie sind einer mehrfachen Diskriminierung ausgesetzt und brauchen besondere Schutzräume“, sagt sie.

Eine weitere, sehr diverse Gruppe seien Migrant_innen, die Drogen konsumieren. Sucht im Migrationskontext werfe noch mal ganz spezifische, vor allem auch rechtliche Probleme auf. „Da entstehen Fragen, mit denen wir bisher noch nichts zu tun hatten. Doch auch hieran arbeiten wir.“

Von Inga Dreyer