In den 80ern entstand in San Francisco ein beispielloses Versorgungsmodell für Menschen mit HIV/Aids. Heute fokussiert es vor allem auf Prävention und die frühe Therapie von Neuinfizierten. Langzeitpositive werden übersehen.
Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.
Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).
Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.
Teil 7
Die Letzten ihrer Generation
In einem tristen Eck-Konferenzraum in einem Gebäude an der Van Ness Avenue und der Market Street haben Jesus Guillen und ein Dutzend andere Aids-Langzeitüberlebende in verblichenen Sesseln Platz genommen.
Jesus hat auf diesen Nachmittag im Dezember seit Monaten gewartet. Seine Gruppe war dort, um sich mit San Franciscos Koordinierungsrat für Langzeitversorgung zu treffen, einem Beratergremium für Bürgermeister Ed Lee zur Versorgung älterer und behinderter Menschen der Stadt. Es war ihre erste Chance, beim Bürgermeister Gehör zu finden.
„Warum verlangen Sie nicht mehr?“
Das Meeting begann und Mitglieder der Gruppe legten eine Liste mit Forderungen vor: Sie brauchen Hilfe im Bereich Wohnen, bessere Angebote für seelische Gesundheit, besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung und Unterstützung bei Dienstleistungen in den Bereichen Recht, Finanzen und Beschäftigung. Bemisst man die Bedarfe von älteren Langzeitüberlebenden und stockt die Hilfen im Bereich der seelischen Gesundheit auf, würde das für den Anfang 175.000 $ kosten, sagten sie.
Die Ratsmitglieder hatten einige Nachfragen, es gab ein paar höfliche Diskussionen und dann eine Abstimmung. Der Rat beschloss einstimmig, ihre Forderungen zu befürworten.
Aber dann fragten die Ratsmitglieder: „Warum verlangen Sie nicht mehr?“ Was sie gefordert hatten, belief sich auf gerade mal 29 $ für jeden der 6.000 Langzeitüberlebenden der Stadt. Das war sicherlich bei weitem nicht genug.
Die Männer am Tisch nickten. Einige murmelten, sie würden ihre Ziele zu niedrig setzen. Jesus saß ruhig da. Er war überrascht von der Reaktion des Rats, zeigte es aber nicht.
Der Mann, der die Präsentation leitete, Vince Crisostomo, erhob das Wort. Bald würden sie sich höhere Ziele stecken, sagte er; tatsächlich sollte die Gruppe ein paar Wochen später ihre Forderung auf 1 Million $ erhöhen. Doch zuallererst, teilte er dem Rat mit, müssen sie sich sicher sein können, dass ihnen wirklich jemand zuhört.
„Ja, ihr zählt“
Er sagte, dass es nicht einfach war, die anderen Langzeitüberlebenden zu überzeugen. Bei der San Francisco AIDS Foundation, wo er eine informelle Selbsthilfegruppe leitet, wird er manchmal gefragt, ob jemand glaubt, dass sie die Mühe wert sind. Ob es nicht einfacher wäre, sie zu ignorieren und sterben zu lassen.
„Ja, ihr zählt“, sagt er ihnen. „Ihr seid die Letzten eurer Generation. Ihr tragt all ihre Erinnerungen, ihre ganze Geschichte mit euch.“
„Ich mache ihnen klar, dass sie das Wort ergreifen müssen”, sagte er dem Rat. „Was hat das Überleben genützt, wenn man bloß herumsitzt und das Leben an sich vorbeiziehen lässt?”
Einige dieser Männer haben bei den Aids-Kämpfen der 80er- und 90er-Jahre mitgemacht. Sie protestierten in San Francisco und in Washington D.C. und schrieen nach Beachtung, Behandlung, Ressourcen und Unterstützung.
San Francisco übersieht Langzeitüberlebende
In den ersten Jahren der Epidemie ließ die Regierung Homophobie die Politik bestimmen und tat wenig für die Aufklärung der Öffentlichkeit oder die Förderung von Grundlagenforschung. In San Francisco jedoch wurden Hilfegesuche mit der Unterstützung durch Verantwortliche der Stadtverwaltung und des öffentlichen Gesundheitsdienstes honoriert. So konnte ein Community-basiertes Versorgungsnetzwerk geschaffen werden, das als „San-Francisco-Modell“ bezeichnet wurde und heute weltweit Nachahmung findet.
Das Modell verknüpfte Gesundheits- und Unterstützungsangebote, um für Patient_innen, die anderswo wie Unberührbare behandelt wurden, eine menschenwürdige Versorgung sicherzustellen. Im San Francisco General Hospital wurden Stationen speziell für die Aids-Behandlung eröffnet – die ersten ihrer Art im Land. Um sie herum entstand ein Netz gemeinnütziger Einrichtungen, die zum großen Teil von der Schwulen-Community selbst geschaffen wurden.
„Wir stehen noch am Anfang und hinken definitiv hinterher“
In den seither vergangenen Jahrzehnten haben sich die Bedarfe und Bedürfnisse dieser frühen Patient_innen verändert, und so auch das Versorgungsmodell der Stadt: Es fokussiert heute auf Prävention und die frühe Behandlung von jüngeren Menschen und Neuinfizierten und zielt letztlich auf die Beendigung der Epidemie.
Langzeitüberlebende haben den Eindruck, dass man sie abermals übersieht. Erst seit etwa einem Jahr versuchen Verantwortliche der Stadtverwaltung und des Gesundheitswesens, auf die Anliegen dieser Menschen einzugehen.
„Als Gemeinschaft werden wir jetzt stärker wahrgenommen. Es wird mehr passieren”, sagte Stadtrat Scott Wiener, zu dessen Bezirk auch das Castro-Viertel gehört. „Aber wir stehen noch am Anfang und hinken definitiv hinterher.”
In den Anfängen der Epidemie war Jesus kein Aktivist. Aber in den letzten Jahren, als er so viele seiner Freunde hat kämpfen sehen, wurde auch er zum Handeln bewegt.
Im mittleren Lebensalter begann er, an seine Großeltern und andere ältere Menschen zu denken und daran, wie sehr er sie bewundert und respektiert hatte, als er jung war. Diese Wertschätzung nimmt er seitens der Schwulen-Community nicht wahr, nicht einmal in San Francisco. Zu sehen, dass sich Männer, die schon so viel gekämpft haben, ins Abseits gestoßen fühlen, kann er nicht ertragen.
Die Forderungen für die Berater_innen des Bürgermeisters zu erstellen, war eine wichtig Arbeit, doch oft erschien sie auch aussichtslos. Jesus und die anderen Langzeitüberlebenden hatten monatelang voller Leidenschaft miteinander darüber gesprochen, aber niemand sonst – niemand, der tatsächlich etwas hätte bewegen können – schien zuzuhören. Das Meeting mit dem Beratergremium des Bürgermeisters war ein entscheidender Schritt. Aber er fragt sich, was, wenn überhaupt, als nächstes passieren wird.
„Einige Dinge, die wir jetzt zur Sprache bringen, haben wir bereits vor fünf Jahren vorgebracht”, sagte er. „Und es hat zu nichts geführt.”
Teil 8 erscheint am 19.1.2018 auf magazin.hiv.
Bisher erschienen:
Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“
Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“
Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“
Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“
Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“
Die letzten Überlebenden – Teil 6: „Du wirst okay sein, du wirst leben“