Gefährlich und menschenverachtend: Russlands repressive Drogenpolitik

Während die Zahl der HIV- und Hepatitis-C-Neuinfektionen in Russland rapide steigt, wird die Präventionsarbeit und Gesundheitsversorgung gerade unter den besonders gefährdeten Drogengebrauchenden immer schwieriger.

Alexander Delphinov engagiert sich seit 1998 für eine bessere gesundheitliche Versorgung von Drogengebraucher_innen in Russland, unter anderem in der Drogenaufklärungsinitiative „Narcophobia“ sowie in der Andrey-Rylkov-Stiftung. Diese setzt sich nicht nur für die Substitution, die Behandlung von Opiatabhängigkeit mit Medikamenten wie Methadon, und für Schadensminimierungsprogramme (Harm Reduction) ein, deren Aktivist_innen sind auch als Streetworker_innen unterwegs, um den Menschen, die Drogen gebrauchen, direkt zu helfen.

2014 hat der Journalist aufgrund der politischen Situation in Russland seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt. Jetzt unterstützt er von hier aus die Harm-Reduction-Initiativen in seiner Heimat durch Kommunikations- und Aufklärungsarbeit.

Axel Schock sprach mit ihm über die Gefahren und Folgen der repressiven Drogenpolitik und die im höchsten Maße schwierige Gesundheitsversorgung von Drogengebrauchenden in Russland.

Herr Delphinov, in den westlichen Medien wurden in jüngster Zeit verstärkt die steigende Zahl der Drogenkonsument_innen und HIV-Fälle in Russland thematisiert. Ist die Dramatik dieser Berichterstattung gerechtfertigt?

Hauptanlass für das besondere mediale Interesse – so beispielsweise auch in Deutschland – war die Nachricht, dass Anfang des Jahres 2017 der einmillionste HIV-Patient Russlands seit Beginn der Aidskrise registriert wurde. Rund 250.000 dieser Menschen sind bereits verstorben. Es gibt allerdings keine wissenschaftlichen Studien dazu, wie viele Menschen im Land leben, die nichts von ihrer HIV-Infektion wissen.

„Über die Hepatitis-C-Epidemie spricht niemand“

In Russland gibt es zudem mittlerweile auch eine Hepatitis-C-Epidemie. Doch darüber spricht niemand, weil es keine internationalen Verpflichtungen gibt, hier offizielle Zahlen zu ermitteln. Die Behörden gehen derzeit von ungefähr 1,7 Millionen Menschen mit Hepatitis C aus, realistisch sind jedoch eher 6 Millionen.

Haben Hepatitis-C-Infizierte Zugang zu einer Behandlung?

Es gibt kein staatliches Behandlungsprogramm, wie es bei HIV der Fall ist. Das liegt sicherlich auch an den weitaus höheren Kosten. Lediglich HIV-Infizierte haben einen Anspruch auf eine kostenfreie Hepatitis-C-Behandlung – allerdings mit Interferon, also einem längst veralteten Medikament. Es kann zudem Wochen, manchmal sogar Monate dauern, bis jemand mit Anspruch auf diese Behandlung die Therapie tatsächlich beginnen kann.

Aber auch Mehrfachinfektionen – zum Beispiel mit Tuberkulose und HIV beziehungsweise mit Tuberkulose, Hepatitis C und HIV – sind keine Seltenheit. Diese Patienten, es handelt sich meist um Drogengebrauchende, landen dann beispielsweise in so einem Krankenhaus, wie ich es in Jekaterinburg besucht habe. Sie werden dort nicht behandelt, sondern dorthin abgeschoben, um zu sterben. Im Volksmund wird diese Klinik deshalb auch „Die letzte Hütte“ genannt.

„Jede Veranstaltung, jede Broschüre kann zu Repressionen führen“

Wie sehen denn die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus, unter denen Drogenhilfe-Projekte wie die Andrey-Rylkov-Stiftung aktuell arbeiten?

Wir sind zum einen mit einer im höchstem Maße repressiven Drogenpolitik konfrontiert, zum anderen mit Gesetzen, die beispielsweise die Verbreitung von Harm-Reduction-Informationen in die Nähe der verbotenen „Propaganda für Drogenkonsum“ rücken. Jede Veranstaltung, jede Broschüre kann so zu Repressionen, Schikanen oder Geldstrafen führen.

In Russland sind derzeit 626.000 Menschen in Haft, ein Drittel davon sind Drogenkonsumenten, die als Dealer verurteilt wurden. Dazu reicht bereits der Besitz kleiner Mengen illegaler Substanzen aus.

Die Drogen-Phobie reicht so weit in die Gesellschaft hinein, dass die Drogengebrauchenden sogar die Unterstützung ihrer eigenen Familie verlieren. Neben dieser „Narcophobia“, wie wir es nennen, dieser durch staatliche Propaganda gezielt geschürten Angst vor Drogenkonsumenten, sind da auch noch all die Verschwörungstheoretiker und Aidsleugner, die die Situation zunehmend erschweren.

„Die Drogen-Phobie reich weit in die Gesellschaft hinein“

In den 90er-Jahren gab es wenigstens noch die Hoffnung, dass sich die Situation verbessern würde. Inzwischen erleben wir, dass sie sich zunehmend verschlechtert. Das zeigt sich auch an anderen Entwicklungen: Wir haben ein Gesetz gegen „Homosexuellenpropaganda“ und eines, das von russischen Nichtregierungsorganisationen wie der Andrey-Rylkov-Stiftung verlangt, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn ihre Projekte mit Geldern aus dem Ausland mitfinanziert werden. (Anm. d. Red.: Das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“ verbietet faktisch jegliche positive oder neutrale öffentliche Darstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen. Organisationen, die als „ausländische Agenten“ registriert sind, müssen strenge Kontrollen über sich ergehen lassen und restriktive Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren oder sogar unmöglich machen.) Und seit Kurzem gibt es ein vergleichbares Gesetz, das sich gegen Medien mit ausländischen Miteigentümern richtet.

Welchen Einfluss hat dieses politische Klima auf den Anstieg der HIV-Zahlen?

Die rapide Zunahme von HIV-Fällen begann 2010. Durch angemessene Präventionsmaßnahmen hätte das verhindert werden können. Doch mit Beginn der Putin-Ära erlebten wir eine weitreichende Veränderung der politischen Agenda. In deren Mittelpunkt steht die Wirtschaft, nicht aber soziale Fragen.

„57 % der neu registrierten HIV-Fälle betreffen Drogenkonsumenten“

57 % der neu registrierten HIV-Fälle betreffen Drogenkonsumenten. Das sind Menschen, die dieses System nicht benötigt – genauso wird auch über Schwule gedacht. Das wird zwar offiziell so nicht gesagt, aber das ist der Grund, warum Schadensminimierungsprogramme und Präventionsmaßnahmen von Staatsseite nicht so gefördert werden, wie es notwendig wäre. Man ist im Grunde froh, wenn diese Leute langsam aussterben. Das ist eine menschenverachtende Politik der Vernichtung der von HIV besonders gefährdeten Gruppen.

Ich bin mir sicher, dass es innerhalb der administrativen Strukturen oder beispielsweise auch in den Krankenhäusern viele Menschen mit Verstand und einer auf Humanität basierenden Weltanschauung gibt. Derzeit aber haben ganz andere Leute die Macht, und deshalb erleben wir in Russland gerade eine von sozialen Rückschritten geprägte, dunkle Zeit.

Die finanzielle Unterstützung der Schadensminimierungsprogramme durch den Globalen Fonds läuft dieses Jahr aus. Was bedeutet das für die betroffenen Einrichtungen und Projekte?

Es gibt aktuell rund 40 funktionierende und gut organisierte Projekte dieser Art, beispielsweise in Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg. Das sind nicht viele für das große Land, aber immerhin gibt es sie. Die Frage ist, wie lange noch. 19 Millionen Dollar werden pro Jahr ungefähr benötigt, um diese Projekte weiterfinanzieren zu können. Derzeit ist aber völlig unsicher, woher das Geld kommen soll. Dass dafür Staatsgelder fließen werden, ist sehr unwahrscheinlich.

„In Haft können HIV-Infizierte ihren Zugang zur Therapie verlieren“

Wie sieht es aktuell bei der Versorgung der HIV-Patient_innen mit den notwendigen Medikamenten aus?

Wer offiziell als HIV-positiv im nationalen oder in einem regionalen Aidszentrum gemeldet ist, erhält die benötigten Medikamente – sofern er oder sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen. In Haft können HIV-Infizierte nämlich ihren Zugang zur Therapie verlieren. Doch auch wer einen Anspruch auf eine HIV-Therapie hat, muss mit ungewollten Behandlungsunterbrechungen rechnen, zum Beispiel, weil es zu Arzneimittel-Engpässen kommt.

Wer hingegen „nur“ mit Hepatitis C infiziert ist, hat keinen Anspruch auf eine staatlich finanzierte Behandlung. Diese Kosten müssen dann privat übernommen werden – anders als beispielswiese in der Ukraine. Dort ist die Behandlungssituation, insbesondere für Drogengebrauchende, weitaus besser.

Was läuft in der Ukraine anders?

Die ukrainische Gesellschaft ist im Gegensatz zu Russland horizontaler organisiert. Dadurch sind ganz andere zivilgesellschaftliche Strukturen möglich. Vor allem den starken Nichtregierungsorganisationen ist es zu verdanken, dass Forderungen durchgesetzt werden konnten. Aber auch der Druck durch die Europäische Union hat dazu beigetragen, dass beispielsweise Substitutionsbehandlungen möglich sind.

„In der Ukraine ist die Behandlungssituation weitaus besser“

Das vom Global Fond finanzierte Hepatitis-C-Behandlungsprogramm ist mittlerweile zwar ausgelaufen, aber man kämpft dafür, es fortsetzen zu können. Vor 2014 kostete die Behandlung pro Patient 50.000 Dollar, dank der erfolgreichen Verhandlungen von NGOs und Regierung mit der Pharmaindustrie sind es inzwischen nur noch 900 Dollar. Solch einen guten Zugang zur Hepatitis-C-Behandlung gibt es wahrscheinlich nirgendwo sonst auf der Welt.

Die Ukraine ist also, insbesondere was die Gesundheitsversorgung der Drogenkonsument_innen angeht, auf einem guten Weg?

Die Lage ist noch lange nicht stabil. Die Ukraine leidet wie viele der postsowjetischen Länder weiterhin unter einer schwachen Verwaltung, Korruption und kriegsähnlichen Zuständen wie etwa in der Donbass-Region. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten gibt es Anlass, optimistisch in die Zukunft zu schauen. So werden Polizisten in der Ausbildung inzwischen auch zu Harm Reduction geschult. In Russland wäre das unvorstellbar. Die Drogenhilfe-Projekte in der Ukraine haben zwar nicht die besten Arbeitsbedingungen, sie sind aber so stark und effektiv, dass sie ihre Aufgaben auch weiter werden erfüllen können.

„Auf der Krim wurde die Substitution nach der Annektierung eingestellt“

In Russland ist die Substitutionstherapie verboten. Was ist aus den Menschen auf der Krim geworden, die vor der Annektierung durch Russland substituiert wurden?

Für den russischen Staat ist die Wirkung der Substitutionstherapie nicht wissenschaftlich bewiesen, deshalb wurden die Programme wenige Monate nach der Annektierung eingestellt. Wir müssen davon ausgehen, dass mehr als 100 Menschen in der Folge gestorben sind – sei es an einer Überdosis oder aufgrund des verschlechterten Gesundheitszustandes infolge des neuerlichen Drogenkonsums.

Einige haben womöglich auch den Weg nach Deutschland geschafft. In Städten wie Berlin wächst die Zahl der russischsprachigen Drogengebrauchenden. 

Wenn wir von der russischsprachigen Community in Berlin sprechen, meinen wir Menschen aus allen ehemaligen sowjetischen Staaten. Sie kommen nicht nur aus Russland und der Ukraine, sondern auch aus Ländern wie Georgien, Armenien, Aserbaidschan und dem Baltikum. Es gibt beispielsweise auch einen sehr großen Anteil von Menschen aus Tschetschenien unter diesen ehemaligen oder noch aktiven Drogengebrauchenden. Russisch ist für sie alle die Lingua franca.

Die Gründe für die Migration sind sehr unterschiedlich. Viele Russen sind vor dem System Putin geflohen, andere sind klassische Arbeitsmigranten. Für andere mag die gute soziale Hilfe ein Anreiz gewesen sein, nach Deutschland zu gehen.

Mit BerLUN hat sich vor Kurzem, mitinitiiert durch die Berliner Aids-Hilfe, eine Selbsthilfegruppe eigens für russischsprachige Drogengebrauchende gegründet. Welche Ziele und Aufgaben verfolgt diese Gruppe?

Zunächst geht es erst einmal darum, ein Netzwerk aufzubauen und Informationsmaterialien in russischer Sprache zu erstellen. Denn viele der Menschen wissen nicht, wo sie Hilfe finden können. Aufgrund der Erfahrungen in ihrer Heimat vertrauen sie auch nur zögerlich den offiziellen Stellen. Die Aktivistinnen und Aktivisten von BerLUN suchen sie deshalb auf der Straße auf.

„BerLUN bietet russischsprechenden Drogengebrauchenden eine Anlaufstelle“

Während einige, die aus Staaten wie Moldawien stammen, ganz legal nach Deutschland kommen konnten, sind andere illegal hier. Sie leben oft auf der Straße und haben auch meist keinen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung. Die Gruppe bietet diesen Menschen nicht nur eine Anlaufstelle, ihre Mitglieder können sich auch bei sozialen Problemen gegenseitig unterstützen. Mittelfristig will man aber auch politisch arbeiten. Der Bedarf ist zweifellos da. Ich schätze, dass derzeit einige Hundert russischsprachige Menschen in Berlin leben, die früher Drogen intravenös konsumiert haben oder es derzeit tun, und ich habe den Eindruck, dass es in den letzten Jahren mehr geworden sind.

Dieses Interview erschien zuerst auf der Website des Aktionsbündnisses gegen AIDS. Axel Schock führte es im Rahmen der Veranstaltung „Das Ende von Aids kommt nicht von allein. 15 Jahre Aktionsbündnis gegen AIDS. Leben ist ein Menschenrecht“ im November 2017 in Berlin. Wir danken für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Weitere Informationen:

„Russische HIV-Politik: Immun gegen Vernunft?“ – Hintergrundbeitrag auf magazin.hiv vom 17. Oktober 2017