„Aus eigener Kraft!“

Forum Heilpädagogik Idstein

Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln: die Marte-Meo-Methode und ihre Anwendung in den Einrichtungen von Vitos Teilhabe

Im April war es wieder so weit. Meine mittlerweile sechste Hospitation bei Maria Aarts und Marte Meo International in Eindhoven, Niederlande, stand an. Und wie jedes Mal brauchte es nicht viel für die zwei Tage. Das Wichtigste waren ohnehin der Laptop und die aktuellsten Filme aus der Arbeit in unseren Projekten, die ich Maria Aarts zur Supervision (Beratungsform, die Menschen bei der Reflexion ihres beruflichen Tuns unterstützt) mitbrachte. Und die persönliche Supervision unserer Projekte durch Maria Aarts ist jedes Mal wieder ein besonderes Highlight für mich. Aber der Reihe nach.

Was ist Marte Meo?

„Marte Meo“ ist eine videobasierte Methode zur Entwicklungsunterstützung und Beratung, die von der Niederländerin Maria Aarts entwickelt wurde. Der Name der Methode wurde aus dem Lateinischen abgeleitet. Sinngemäß bedeutet er: „Aus eigener Kraft“.

Den Anstoß zur Entwicklung der Methode erhielt Maria Aarts bereits Ende der 1970er Jahre. Unter anderem in ihrer Arbeit mit autistischen Kindern in einem Tagesbehandlungszentrum in den Niederlanden. In den Folgejahren entwickelte Maria Aarts, zunächst gemeinsam mit Kollegen, das videogestützte „Orion Home-Trainingsprogramm“. Und ab 1987 schließlich ihre eigene Methode, die sie „Marte Meo“ nannte.

Wie arbeitet und was bewirkt Marte Meo?

Marte Meo konzentriert sich auf die grundlegenden Bausteine der gelingenden Interaktion und Kommunikation von Menschen.

Durch Marte Meo werden Eltern, Angehörige und Fachleute befähigt, unterstützende Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten bildgestützt wahrzunehmen, zu trainieren und weiterzuentwickeln.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Die Bezugspersonen eines sehr isoliert wirkenden, kaum sprechenden und sehr wenig Kontakt suchenden Kindes lernen durch „aufmerksames Warten“ kleinste „Initiativen“ des Kindes in einer freien Spielsituation zunächst nur wahrzunehmen, ihnen zu „folgen“ und sie mit freundlicher Stimme, „gutem Gesicht“ und „guten Tönen“ zu „benennen“. Die „Initiativen“ des Kindes sind zunächst nur leise Töne, kurze Blicke, kleine Bewegungs- und Kontaktimpulse. Durch das „Wahrnehmen-Folgen-Benennen“ vermitteln seine Bezugspersonen dem Kind nun verstärkt, dass es von ihnen gesehen wird, dass sein Handeln bedeutsam ist und beantwortet wird. Gleichzeitig bekommt das Kind durch das „Benennen“ seiner Initiativen immer mehr Worte für sein Tun. Schon nach wenigen Wochen werden die Initiativen des Kindes größer und deutlicher für andere wahrnehmbar. Und es beginnt, sie von sich aus zu benennen. Hierdurch macht das Kind die Erfahrung, wie es „aus eigener Kraft“ in Kontakt mit anderen kommen und sie für sich interessieren kann.

Seine unmittelbaren Bezugspersonen hatten zuvor den Eindruck, dass das Kind kaum Interesse an seiner Umwelt hat. Es lebte bei Eltern, die sich im ersten Lebensjahr des Kindes getrennt hatten. Die Mutter des Kindes war mit dessen Erziehung oft überfordert. Unterstützung hatte sie kaum. Und wegen einer psychischen Erkrankung musste sie sich regelmäßig in Behandlung begeben. Nun lernt sie, gemeinsam mit anderen, ihr Kind ganz neu kennen und es „aus eigener Kraft“ in seiner Entwicklung zu unterstützen.

Wo kommt Marte Meo zum Einsatz?

Aktuell wird Marte Meo in mehr als 40 Ländern der Welt in unterschiedlichsten psychosozialen, pädagogischen und pflegerischen Arbeitsfeldern sowie im Gesundheitswesen und in therapeutischen Settings erfolgreich eingesetzt und genutzt. So zum Beispiel in Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe, in Kindertagesstätten und Kinderkrippen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Altenhilfe, in der Arbeit mit an Demenz erkrankten Menschen. In Schulen, Heimen, Kliniken, in der Frühförderung, in Pflegefamilien und Beratungsstellen.

Bei Vitos Teilhabe setzen wir Marte Meo sowohl in der Jugendhilfe als auch in den Einrichtungen der Behindertenhilfe ein. Mehr als 100 geschulte Mitarbeiter nutzen Marte Meo bereits täglich zur Verbesserung der Lebens- und Betreuungsqualität.

Praktikerkurs

Marte Meo Praktikerkurs 2017 bei den ambulanten Diensten in Groß-Gerau der Vitos Behindertenhilfe

Wofür steht der Begriff und was sind die Ziele von Marte Meo?

In ihrem Handbuch schreibt Maria Aarts zu Marte Meo: „Ich habe den Begriff Marte Meo (lat.: „Aus eigener Kraft“) mit Bedacht gewählt, um das zentrale Anliegen des Programms zu nutzen, nämlich Fähigkeiten aufzuzeigen, zu aktivieren und zu entwickeln, die zu konstruktiver Interaktion und Entwicklung beitragen. Das Ziel von Marte Meo ist es, auf allen Ebenen Menschen zu ermutigen, ihre eigene Kraft zu nutzen, um Entwicklungsprozesse (…) voranzubringen und anzuregen. Auf diese Weise lernen sie, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, ihr Leben zu verbessern.“

Die Stärkung der positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen im alltäglichen Miteinander ist bei Marte Meo Programm. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch bei Betreuern, Fachleuten, Eltern und Angehörigen. Maria Aarts nennt diese Aktivierung auch ein „goldenes Geschenk“. Ein Geschenk, das Menschen befähigen will, „aus eigener Kraft ein besseres Leben haben zu können.“ Und genau darum geht es ihr und Marte Meo im Kern.

Das Erleben des eigenen Wirkens im alltäglichen Tun ist darüber hinaus auch für Fachleute, Angehörige und professionell Betreuende ein wirksames Mittel, um psychischer Erschöpfung oder Burnout vorzubeugen.

In der Betreuung von Menschen mit schwersten Behinderungen, herausforderndem Verhalten, fortschreitend verlaufenden, demenziellen und anderen gerontopsychiatrischen Erkrankungen will Marte Meo eine Atmosphäre schaffen, in der es möglich wird, schwer erkennbare oder nur noch in Ansätzen verbliebene Ressourcen und Fähigkeiten in einem größtmöglichen Maß zu nutzen. Betreute sollen sich hierdurch, trotz aller Einschränkungen, positiv und wertgeschätzt wahrgenommen und sich in ihrer „eigenen Kraft“ unterstützt fühlen.

Was macht Marte Meo so besonders?

Persönlich habe ich Maria Aarts und Marte Meo erstmals 2010 bei einer Tagung in Hanau kennengelernt. Und war sofort überzeugt von dem besonderen Potenzial der Methode. Weil sie überall dort, wo es um die Unterstützung der Entwicklung von Menschen und um die Aktivierung ihrer Potenziale geht, anwendbar ist. Und das ganz unmittelbar, mit überschaubarem Aufwand und sehr schnell, sowohl von Eltern, Angehörigen, Fachkräften und Nichtfachkräften.

Und weil sich Marte Meo unkompliziert mit anderen, fachspezifischen Methoden und Konzepten in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen und -feldern verbinden und kombinieren lässt.

Im Fokus steht immer die Verbesserung der Qualität vonzwischenmenschlichem Miteinander. Und die Qualität der Interaktion ist in der Regel das tragende Element in der Begegnung von Menschen.

Marte Meo haben wir zunächst 2010 in den Einrichtungen der Vitos Behindertenhilfe in Riedstadt eingeführt. Und seit Gründung von Vitos Teilhabe 2016 haben wir mit der Einführung in allen Einrichtungen begonnen. Ein ehrgeiziges Projekt. Aber ein Lohnendes. Die Rückmeldungen unserer Mitarbeiter sind jedenfalls durchweg äußerst positiv. Marte Meo wird als besonderer Gewinn für die tägliche Arbeit angesehen.

Wie kann Marte Meo in den Alltag integriert werden?

Marte Meo arbeitet videobasiert. Und das führt zunächst zu Zweifeln. Wie kann eine solche Methode in den ohnehin schon gut gefüllten Arbeitsalltag eingebunden werden? Bereits nach den ersten Schulungstagen wird jedoch deutlich, dass man Marte Meo ohne großen Aufwand in die Arbeit integrieren kann. Das liegt daran, dass jeweils Alltagssituationen gefilmt werden.

Gefilmt, wird der ganz normale Alltag

Gefilmt, wird der ganz normale Alltag

Gearbeitet, wird mit dem was ohnehin geschieht. Und es bedarf keiner großen Vorbereitung zur Erstellung eines kurzen Videoclips von wenigen Minuten Dauer. Auch das Review (die gemeinsame Analyse und Besprechung der Aufnahme mit einem Marte Meo Professional) dauert nur 15 bis 30 Minuten. Im Review betrachten wir insbesondere diejenigen Kommunikationselemente genau, die für ein wirkungsvolles „Miteinander-in-Beziehung-treten“ wichtig sind. Wir machen, auf die jeweilige Situation angepasste „Arbeitspunkte“ zur Verbesserung der Interaktion und des unterstützenden Verhaltens ausfindig. Die Umsetzung und Wirkung der „Arbeitspunkte“ veranschaulichen wir in Folgefilmen und weiteren Reviews und entwickeln sie weiter. So ein Arbeitspunkt kann beispielsweise lauten: “Achte in strukturierten Situationen (wenn ein bestimmtes Ergebnis oder Ziel erreicht werden soll), darauf, dass du positiv leitest.“

Mit „Positiv Leiten“ meint Marte Meo, für Struktur und Beziehung gleichzeitig zu sorgen: Mit einem Kontaktmoment beginnen, für guten Anschluss sorgen, einen klaren Anfang machen, Schritt-für Schritt anleiten. Genau sagen, wie man es haben will, auf einen angemessenen Wechsel von Kontakt- und Aktionsmomenten achten, nicht den Fokus  verlieren, für ein klares Ende  sorgen und schließlich den Erfolg miteinander teilen. Für den Anfang wären das natürlich zu viele Arbeitspunkte auf einmal. Daher verdeutlichen wir einzelne Aspekte des positiven Leitens passgenau anhand der Videoaufnahme im Review. Diese sind konkret in den Bildern und Sequenzen erkennbar und können von uns gemeinsam „gelesen“ werden: In welchen Momenten gelingt es der Bezugsperson bereits gut, Kontakt- und Aktionsmomente angemessen zu variieren? Wann genau könnte ein weiterer Kontaktmoment für den Klienten unterstützend sein? Und wozu wäre dies gut?

Marte Meo nennt diese Form der Beratung das „3-W-Beratungssystem“: Wann-was-wozu? Wann genau, in welchem Moment, kannst du was tun und wozu ist es gut?

Tagungen, Schulungen und Projekte

Gemeinsam mit Maria Aarts und der Vitos Akademie haben wir 2014 die erste Tagung zu Marte Meo in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Hessen durchgeführt.

2016 folgte die zweite Tagung, bei der wir auch vielfältige Anwendungsbeispiele aus den Einrichtungen von Vitos Teilhabe vorgestellt haben. „Ich bin begeistert von eurer Marte Meo Qualität!“, sagte mir Maria Aarts nach der Tagung und lud mich im Anschluss zu regelmäßigen Hospitationen bei Marte Meo International nach Eindhoven ein.

Fachtag Forum Heilpädagogik in Idstein 2016

Maria Aarts auf dem Fachtag Forum Heilpädagogik in Idstein 2016

Am 24.Oktober 2018 veranstalten wir die nächste Tagung mit Maria Aarts und Dr. Michael Hipp in der Stadthalle in Idstein. Diesmal zum Schwerpunktthema „Bindung, Bindungsstörungen und Möglichkeiten der Bindungsunterstützung durch Marte Meo“ (hier geht´s zum Flyer). Veranstalter der Tagung ist wiederum Vitos Teilhabe in Kooperation mit der Vitos Akademie.

Bei Vitos Teilhabe schule ich Marte Meo gemeinsam mit Andreas Volke in unseren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Behindertenhilfe. In stationären, teilstationären und ambulanten sowie in beratenden Settings.

Die Teilnehmer können in unseren Schulungen die international anerkannten Zertifikate zum „Marte Meo Practitioner“, „Marte Meo Colleague Trainer“ oder „Marte Meo Therapist“ erwerben, die mit einem Eintrag in die Datenbank der Marte Meo Professionals in Eindhoven verbunden sind. 112 Teilnehmer haben bisher unsere Schulungen absolviert. Und damit das Wissen frisch bleibt, treffen sich die ausgebildeten Marte Meo Professionals drei bis vier mal im Jahr mit uns zu halbtägigen Marte Meo Workshops und sogenannten Brush-Ups (Auffrischungen) in Idstein.

Auf Einladung von Maria Aarts hospitiere ich seit 2016 regelmäßig bei ihr persönlich bei „Marte Meo International“ in Eindhoven. Maria Aarts gibt mir dort die Möglichkeit, meine Anwendungs- und Ausbildungskompetenz und mein Marte-Meo-Wissen weiter zu vertiefen. Zudem treffe ich dort Kollegen, die in verschiedensten Arbeitsbereichen in ganz Deutschland, in Österreich und in der Schweiz tätig sind.

Supervision mit Maria Aarts

Supervision mit Maria Aarts

Darüber hinaus supervidiert Maria Aarts meine Tätigkeit in besonderen Anwendungsfeldern.

So zum Beispiel in unserer „Heilpädagogisch-therapeutischen-Intensivgruppe (HTI)“ in Riedstadt, einem Wohnprojekt für traumatisierte Menschen mit geistiger Behinderung und schweren Verhaltensauffälligkeiten mit besonders stark ausgeprägten Auto- und Fremdaggressionen. Die Marte Meo Methode erweist sich auch in diesem Projekt als überaus hilfreich in der Entwicklungsunterstützung der Bewohner und in der stetigen Anleitung und Schulung der dort tätigen Mitarbeiter.

Internationales Netzwerk

Maria Aarts hat Marte Meo mittlerweile zu einem internationalen Netzwerk weiterentwickelt. Wir sind Teil dieses Netzwerks geworden. Und laden alle interessierten Kollegen bei Vitos ein, Marte Meo und das besondere Potenzial dieser Methode, auch für die Kliniken, kennenzulernen.

Sie sind an weiteren Informationen interessiert? Dann rufen Sie mich gerne an!

Bildquelle: Dennis Möbus; Vitos