Deine Atemnot ist meine Atemnot: wie „Atemnot-Ansteckung“ funktioniert.

 

Angehörige von Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen (wie COPD, Asthma, Lungenfibrose) schildern häufig Beschwerden, die denen der Patienten gleichen: Ängste, depressive Verstimmungen, soziale Isolation, Beziehungsprobleme. Als besonders belastend beschreiben die meisten Kümmerer das Miterleben von Atemnot. Drei aktuelle Studien liefern Hinweise, daß Atemnot „ansteckend“ sein kann.

 

Atemnot findet „im Kopf“ statt

Verursacht wird Atemnot gewöhnlich durch Herz-Kreislauf- oder Lungen-Erkrankungen. Die Ausprägung der Atemnot entspricht allerdings häufig nicht oder nur wenig dem Ausmaß der Funktionsstörung. Offensichtlich spielen neuropsychologische Prozesse eine wichtige Rolle bei der Atemnot-Erfahrung.

Nachweislich verstärken Atemnot-Situations-Verknüpfungen („priors“) und Depressionen die Atemnot-Wahrnehmung von Patienten. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich weitere Forschungsfragen:

  • Bilden neuropsychologische Mechanismen auch die Grundlage für eine „Atemnot-Ansteckung“?
  • Läßt sich dadurch die hohe emotionale Belastung der Kümmerer von Atemnot-Patienten erklären?

 

Wegweiser „Schmerz-Ansteckung“   

Schmerz-Verarbeitung und Atemnot-Verarbeitung weisen viele Ähnlichkeiten auf. Sie teilen zudem gemeinsame Nerven-Netzwerke im Gehirn. Deshalb lohnt zum besseren Verständnis der „Atemnot-Ansteckung“ ein Blick auf die gut begründeten Ergebnisse der Schmerzforschung:

  • Der Anblick von Menschen mit Schmerzen erzeugt im Beobachter unangenehme emotionale Reaktionen (Streß).
  • Er kann sogar Schmerzen im Beobachter hervorrufen – ohne, daß dieser einem Schmerzreiz ausgesetzt wurde (Stellvertreter-Schmerz).
  • Einfühlsamere Beobachter erleben den Schmerz intensiver.
  • Der Stellvertreter-Schmerz führt zu nachweisbaren Veränderungen von Prozessen im Gehirn der Beobachter.

Lassen sich vergleichbare Zusammenhänge auch für eine „Stellvertreter-Atemnot“ nachweisen?

 

Wie Bilder und Videos Atmung, Stimmung und Gehirnaktivität beeinflussen  

Drei Studien (Herzog M et al., 2018) liefern spannende Erkenntnisse zur „Atemnot-Ansteckung“:

  • Der bloße Anblick von Atemnot bei anderen (auf Bildern oder Videos) ruft beim Beobachter milde bis mittlere Atemnot hervor – ohne irgendeine experimentell erzeugte Atemnot-Provokation (durch körperliche Aktivität, Atmen gegen Widerstand, Kohlendioxid-Belastung). –> Atemnot ist „ansteckend“!
  • Gleichsinnig steigen negative Emotionen und Gehirnaktivitäten beim Betrachten von Atemnot-Bildern. –> Der Anblick von Menschen mit Atemnot streßt!
  • Das Ausmaß der „Stellvertreter-Atemnot“ ist abhängig von der Empathie der Beobachter. –> Einfühlsamere Menschen streßt der Anblick von Atemnot mehr!
  • Die „Stellvertreter-Atemnot“ zeigt keinen Zusammenhang mit der objektiven Atemfunktion oder einer ängstlichen Veranlagung. –> Die „Stellvertreter-Atemnot“ findet „im Kopf“ statt!

„Stellvertreter-Atemnot“ zeigt also tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem „Stellvertreter-Schmerz“. Die Ergebnisse der Studien bestätigen die Annahme, daß zentrale Gehirn-Prozesse eine Atemnot-Erfahrung anstoßen oder verstärken können.

 

Was steckt hinter der „Stellvertreter-Atemnot“?      

Die zugrundeliegenden Mechanismen der „Atemnot-Ansteckung“ sind bisher wenig erforscht. Es gibt ein paar Erklärungs-Modelle. Eines davon ist das Wahrnehmungs-Aktions-Modell der Empathie.

Das Wahrnehmungs-Aktions-Modell der Empathie postuliert „Spiegel-Neurone“ im Gehirn. Diese „Spiegel-Neurone“ aktivieren automatisch eine vergleichbare Wahrnehmung beim Beobachter, wenn er beispielsweise einen Menschen mit Schmerzen sieht.

Ob dieser Mechanismus auch für die „Stellvertreter-Atemnot“ verantwortlich ist, müssen zukünftige Studien zeigen.

 

Was bedeutet die „Stellvertreter-Atemnot“ für die psychopneumologische Praxis?  

Die oben beschriebenen Phänomene verweisen auf Gefahren und Chancen für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen, ihre Angehörigen und ihre Behandler.

Zunächst ein Blick auf die Gefahren der „Stellvertreter-Atemnot“:

  • „Stellvertreter-Atemnot“ und der damit verbundene Streß können die Belastung der Angehörigen verstärken und deren Anfälligkeit für psychische Störungen erhöhen.
  • Möglicherweise führt die „Atemnot-Ansteckung“ auch Fehleinschätzungen. Daraus können häufigere Notfallsituationen entstehen, als es dem objektiven Befinden des Patienten entspricht.

Es eröffnen sich jedoch auch Chancen durch die „Stellvertreter-Atemnot“.

  • Für Patienten: Manche Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen vermeiden bestimmte Atemnot-bezogenen Situationen aufgrund von „priors“. Bei ihnen können imaginative Verfahren (auch mittels Bildern oder Videos von Atemnnot-Situationen) zur Desensibilisierung im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie eingesetzt werden.
  • Für Angehörige: Die „Stellvertreter-Atemnot“ kann zum Training einer exakteren Atemnot-Einschätzung genutzt werden. Dadurch können möglicherweise Notfallsituationen und unnötiges Leiden der Patienten verhindert werden.

Eines zeigen die drei Studien deutlich: Psychopneumologische Grundlagenforschung liefert spannende Ergebnisse und eröffnet Spielräume für die Praxis.