„Die Leere steht mitten im Zimmer und wartet auf mich“

Was geht in einer Mutter vor, die ihren drogenabhängigen Sohn verliert? Wiltrud Heimchen über Thorsten, der 1992 mit 22 Jahren nach einem Suizidversuch im Polizeigewahrsam starb

Wiltrud Heimchen und ihr Mann Jürgen haben die Elterninitiative für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik mitbegründet und setzen sich seit vielen Jahren auf vielfältige Weise für die Rechte von Drogen gebrauchnden Menschen ein. Jürgen Heimchen hat 1998 den Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher_innen mitinitiiert, der seither am 21. Juli begannen wird – in diesem Jahr zum 21. Mal.

Dieser Text von Wiltrud Heimchen entstand Ende der 1990er-Jahre im Rahmen eines Seminars der Deutschen AIDS-Hilfe und erschien zuerst unter dem Titel „Aus der Sicht einer Mutter“ im Magazin „DHIVA“. Wir haben ihn leicht redaktionell bearbeitet – dabei an die aktuelle Rechtschreibung angepasst –, und danken Wiltrud und Jürgen Heimchen für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Ich und die Spritze

Ich nehme an einem Seminar zum Thema „Sucht heißt auch Sehnsucht“ teil, ein Thema, zu dem ich eine besondere Beziehung habe. Nach der Vorstellungsrunde geht der „Suchtsack“ herum, aus dem jede_r Teilnehmer_in etwas herauskramt, um dann von der Beziehung zu diesem Gegenstand zu erzählen – beziehungsweise dazu, wie er als Suchtmittel wirken kann.

„Die Worte kommen direkt aus meinem Bauch“

Es werden Tabak, eine Fernbedienung, Alkoholika, CDs, Süßigkeiten und so weiter gezogen.  Dann komme ich an die Reihe. Ich wühle in dem leerer gewordenen Sack – und halte in meiner Hand: eine Spritze. Der Raum um mich herum weitet sich, mein Kopf ist völlig leer. Im Raum sind nur noch ich und die Spritze.

Allmählich nehme ich meine Umgebung wieder wahr und weiß: Die Frauen warten darauf, dass ich etwas sage. Worte kommen aus meinem Mund, doch nicht durch Denkvorgänge gesteuert, sie kommen direkt aus meinem Bauch.

Und dann laufen die Tränen

Ich erzähle von der Wärme, die der „Druck“ erzeugt, und von der Kälte ohne ihn. Vom Wissen, eventuell zu sterben, und davon, doch nicht aufhören zu können. Und dann laufen die Tränen. Lautlos weinend ringe ich um Fassung. Die Erklärung, als man mir Hilfe anbietet: Nicht ich bin drogenabhängig, mein Sohn hat konsumiert. Mein Sohn ist tot.

Ganz nah ist wieder der Tag, an dem ich die erste Spritze zu Hause sehe. Ich habe sie nicht gefunden, Thorsten hat sie mir auf den Tisch geknallt mit den Worten: „Du wolltest doch wissen, was mit mir los ist!“ Auch an jenem Tag war es so, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich war eine Glaskugel, die zu Boden fiel und in tausend Splitter zerbrach. Tränen, Flehen: Bitte lass es sein! Fragen nach dem Warum. Die Suche nach Schuld: Was habe ich falsch gemacht?

„Meine Gedanken kreisen nur noch um ihn“

Die Familie rotiert. Wir wollen helfen, wollen unseren Sohn mit allen Möglichkeiten, die sich bieten, von der Droge wegbekommen. Wir finden einen Therapieplatz, drei Monate später kann er dort hin. Aber Thorsten geht nicht. Unsere Hoffnung stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Das Zusammenleben wird immer schwieriger, schließlich unmöglich.

Doch wir halten Kontakt, bleiben im Gespräch. Essen, Mittel zur Körperpflege, frische Wäsche, Tabak und Ähnliches gibt es für ihn immer. Wenigstens für seinen Körper will ich sorgen.

Meine Gedanken kreisen nur noch um ihn. Wir werden Mitglieder einer Angehörigengruppe. Allmählich lerne ich, zwischen seiner und meiner Person zu trennen, das heißt, mein Wohlbefinden nicht mehr nur davon abhängig zu machen, wie er sich fühlt. Dadurch mache ich ihm weniger Vorwürfe.

Die Vorwürfe, die ich mir mache, werden dagegen nicht weniger: „Ich bin eine schlechte Mutter. Ich habe versagt.“ Und dergleichen mehr. Meine innere Hilflosigkeit versuche ich durch äußere Aktivitäten zu kompensieren: Leserbriefe zum Thema Drogen, Verteilen von Flugblättern (auf denen wir Entgiftungsbetten fordern).

Vom Ende der Hoffnung

August 1992: Es zeichnet sich ab, dass dies das Jahr mit der bisher höchsten Zahl an „Drogentoten“ werden wird. Wir feiern unsere Silberhochzeit, den 50. Geburtstag meines Mannes. Thorsten kommt zu beiden Festen. Ich bin so froh, dass mein Kind lebt. Am 1. September fahren mein Mann und ich ins Sauerland. Noch am gleichen Nachmittag erreicht uns ein Anruf mit der Mitteilung, dass Thorsten im Koma auf der Intensivstation liegt.

„Ich schreie wie ein verletztes Tier, ohne jegliche Tränen“

Ich lasse meinen Mann stehen, laufe in den nahen Wald. Ich schlage auf die Bäume ein, und als die Fäuste schmerzen, fange ich an zu schreien. Ich schreie wie ein verletztes Tier, ohne jegliche Tränen. Danach steige ich ganz ruhig ins Auto. In der Klinik angekommen, bereitet uns der Stationsarzt darauf vor, dass Thorsten eine Strangulationswunde am Hals hat und sein Gehirn durch Sauerstoffmangel schwer geschädigt ist.

Ich bin fassungslos. Wieso Strangulation?

Recherchen ergeben, dass Thorsten am Nachmittag des Vortages festgenommen und am frühen Abend in Polizeigewahrsam genommen wurde. Obwohl völlig „zu“ (dafür gibt es Zeugen), wurde er nicht ins Krankenhaus gebracht.

Die Beamten haben ihn gefilzt, persönliche Sachen weggeschlossen, den Gürtel aus seiner Hose entfernt. Aber die 90 cm langen Schnürsenkel, mit denen er sich erhängte, haben sie in den Turnschuhen gelassen. Thorsten hat immer wieder zu uns und anderen gesagt: „Bevor ich mich einsperren lasse, bringe ich mich um.“ Bei der Aufnahme in den Polizeigewahrsam sei keine Suizidgefährdung festzustellen gewesen, lautet die Aussage der Polizei. Wie auch, wenn jemand völlig zugeknallt ist?

„An jedem Tag des Todeskampfes stirbt ein Stück von mir mit“

An jedem Tag des zehntägigen Todeskampfes stirbt ein Stück von mir mit. Die Leere steht mitten im Zimmer und wartet auf mich. Solange er „drauf“ war, gab es Hoffnung. Hoffen, dass es ihm relativ gutgeht. Hoffen, dass er nicht festgenommen wird. Hoffen, dass er sich keinen Dreck spritzt. Hoffen, dass er eines Tages vielleicht clean sein wird.

Nun ist die Hoffnung weg, weggestorben. 22 Jahre Muttersein liegen hinter mir.

Und vor mir?

Nicht die Droge tötet, sondern die Kriminalisierung

Vor mir liegt das Ziel, Wege zu suchen und Einfluss zu nehmen, damit die repressive Drogenpolitik verändert wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass nicht die Droge tötet, sondern die Kriminalisierung der Drogengebraucher_innen, die Umstände, unter denen konsumiert werden muss, und die damit verbundene soziale Verelendung.

In der Stadt, in der ich lebe, hat der Junkie, der sich erhängte, einen Namen bekommen. Wir, die Eltern, sind an die Öffentlichkeit – an die Presse und zum regionalen Radio – gegangen und haben somit dazu beigetragen, dass zumindest in der kommunalen Drogenpolitik eine Änderung in Richtung Humanisierung erfolgt ist.

 

Weitere Informationen

Informationen zum Gedenktag am 21. Juli bietet ein Faltblatt der Deutschen AIDS-Hilfe.

Die Veranstaltungen zum Gedenktag 2017 dokumentiert der Drogenkurier Nr. 111 vom September 2017.

Das Statement „20 Jahre Gedenktag – ein erfolgreiches Bündnis für akzeptierende Drogenpolitik“ des JES-Bundesverbandes zum Gedenktag 2018 findet sich hier.

Weitere Beiträge zum Thema Leben mit Drogen, Prävention und Drogenpolitik bietet magazin.hiv.