Eine Diagnose, schwere Krankheit oder der Verlust geliebter Menschen kann die Psyche schwer belasten. Dirk Ludigs sprach mit dem Psychotherapeuten Stefan Cremer über das Aids-Trauma und Psychotherapie sowie weitere Traumata im Zusammenhang mit HIV.*
Zur Person: Der Berliner Diplom-Psychologe Stefan Cremer hat seit 25 Jahren mit den Themen HIV und Aids zu tun. Von 1990 bis 2003 arbeitete er bei dem Spezialpflegedienst HIV e.V. und wechselte dann ans Zentrum für Infektiologie und HIV im Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum. Seit 2008 arbeitet Cremer freiberuflich als Psychotherapeut.
Herr Cremer, es ist ein bisschen Mode geworden, alle erdenklichen Probleme im Leben als „traumatisch“ zu bezeichnen. Was ist eigentlich ein Trauma?
Anhand der frühen oder kindlichen Traumatisierung lässt sich das am besten erklären: Dabei geht die Traumatisierung meist von einer Bezugsperson aus. Das kann eine emotionale Verwahrlosung sein, oft aber ist es Gewalt. In der Folge kommt es bei dem Kind zu einer Art Erstarrung. Wenn es im Laufe des Erwachsenenlebens eine traumatische Situation gibt, einen Verkehrsunfall zum Beispiel oder eine Geiselnahme, geht der Schockzustand in der Regel in eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung über.
„Die allermeisten Menschen können ein akutes Trauma gut verarbeiten“
Wie macht sich ein Trauma bemerkbar?
Ein Trauma geht nach dem analytischen Modell mit Symptomen wie Todesangst, Lähmung und dem Gefühl der Perspektivlosigkeit einher. Die allermeisten Menschen können so ein Trauma im Laufe des ersten Jahres oder sogar der ersten sechs Monate nach dem Ereignis verarbeiten, oft mithilfe einer Psychotherapie.
Aber nicht alle?
Meine Erfahrung ist – und das zeigt auch die Traumaforschung –, dass bei denjenigen Menschen, denen die Verarbeitung eines akuten Traumas nicht innerhalb des ersten Jahres gelingt, die aktuelle Traumatisierung fast immer eine Retraumatisierung ist. Meist gab es in der Kindheit, in der Zeit bis zum 13. Lebensjahr, eine heftige Erfahrung. Liegt so etwas vor, ist es relativ egal, ob die akute Traumatisierung ein Verkehrsunfall oder eine HIV-Diagnose ist.
Ist Ihnen in der Zeit bis 1996, also vor der hochwirksamen Kombinationstherapie, ein Trauma im klassischen Sinne bei HIV-Patient_innen begegnet?
Natürlich hatten viele durch HIV ein Trauma. Aber wer damals schwerstkrank war, der ist meist auch gestorben. Langfristig traumatisiert waren zum Teil diejenigen, die zum Beispiel mit dem Sterben und Tod vieler Freunde oder Angehöriger konfrontiert waren oder den Partner verloren haben. Doch solch ein Trauma kann in der Regel verarbeitet werden. Etwas anderes ist es, wenn es schon eine frühere Traumatisierung gab. Dann merkt man: Dieser Mensch kommt mit der akuten oder zum Teil auch länger andauernden Situation schlechter klar als andere.
Wie war es denn bei denjenigen, die diesen berühmten „Lazarus-Moment“ erlebt hatten, die quasi vom Totenbett wieder auferstanden sind.
So ein Erlebnis wird immer ein Stück weit bleiben und sich in bestimmten Situationen wieder bemerkbar machen. Die Betroffenen müssen wissen, dass es passieren kann, und brauchen eine Möglichkeit, damit umzugehen und es als Folge des Traumas zu erkennen. Bei Langzeitüberlebenden kommt es vor allem zu Depressionen mit allen bekannten Symptomen. Bei denen, die damals wirklich schwer krank waren, ist teilweise einiges schiefgelaufen, was es in der Folge für die Betroffenen heute schwerer macht. Manches konnte man nicht wissen, anderes hätte man besser wissen können.
„Ihnen ging die Lebensperspektive verloren“
Was ist schiefgelaufen?
Lange dachte man, diese Menschen hätten eine geringere Lebenserwartung, weil sie zum Beispiel schon Toxoplasmose und andere schwere Erkrankungen durchgemacht haben. Heute sagt man hingegen, dass diese Langzeitüberlebenden mehr oder weniger dieselbe Lebenserwartung haben, wenn sie sich gut erholt haben und mit der Therapie gut zurechtkommen.
Viele jedoch wurden früh berentet, weil sie schwer erkrankt waren. Es wurde ihnen auch dazu geraten, in Rente zu gehen. Ich war immer dagegen, auch wenn einige natürlich länger brauchten, um wieder belastbarer zu sein. Dadurch ging ihnen die Lebensperspektive verloren. Das sind die Menschen, die heute Unterstützung, zum Beispiel durch Psychotherapie, benötigen. Sie haben ihr Studium abgebrochen, ihr Berufsleben und ihre Karriere waren verständlicherweise dahin. Danach war es für sie schwierig, wieder Fuß zu fassen. Vielen wird das auch nicht mehr gelingen.
Und dafür ist dann auch eine frühere Traumatisierung die Ursache?
Da bin ich dann trotz meines analytischen Hintergrunds Pragmatiker und sage, was Huhn und was Ei ist, ist zwanzig Jahre später relativ egal. Die Vergangenheit kann man in solchen Fällen zum besseren Verstehen hinzunehmen, aber immer mit dem Fokus auf heute und die Zukunft.
Bei schwerer Traumatisierten gibt es meist eine Bindungsstörung, und Psychotherapie alleine hilft da nicht. Da muss man zusätzlich die Frage stellen, wie ein Mensch wieder Fuß fassen kann, wenn er komplett sozial isoliert ist oder Probleme in aktuellen Beziehungen hat. Das traumatische Erlebnis einer schweren Erkrankung, an der man fast gestorben ist, wird vielleicht nie ganz aufhören, aber das muss es auch nicht. Entscheidender ist zu schauen, ob sich das Erlebte so einbinden lässt, dass jemand damit umgehen kann.
„Das Trauma wird vielleicht nie ganz aufhören, aber das muss es auch nicht“
Wie hoch ist da die Erfolgsquote?
Bei akuten Traumatisierungen gibt es mittlerweile sehr erfolgreiche Therapieformen wie das EMDR, Eye Movement Desensitization and Reprocessing. Man geht heute davon aus, dass es in bestimmten Arealen des Gehirns Bilder gibt, die sich dort quasi festgesetzt haben und zu Flashbacks führen. Beim EMDR zum Beispiel wird versucht, solche eingeprägten Traumabilder aufzulockern und so der Verarbeitung zugänglich zu machen. Das funktioniert gut.
Sind das Bilder, die durch „Trigger“, also durch bestimmte Auslöser hochkommen?
Genau. Trigger kommen von außen und können solche Bilder oder Flashbacks auslösen. Bei einigen meiner Patienten, die wirklich schwer krank waren und fast an Aids gestorben sind, kommen diese Bilder wieder hoch, wenn sie jetzt zum Beispiel in eine Tagesklinik gehen. Ich hatte einen Patienten, der aufgrund eines Lymphoms sehr lange isoliert behandelt wurde. Um das zu überstehen, hat er die Realität ein Stück weit ausgeschaltet. In Flashbacks kamen dann plötzlich Situationen hoch, an die er sich gar nicht mehr erinnerte. Oder ihm fiel wieder ein, wie er verwirrt versucht hatte, aus der Schleuse auszubrechen. All das kam zu ihm zurück.
Wenn es einzelne Vorfälle sind, lässt sich das recht gut bearbeiten. Bei Menschen mit sehr frühen Traumatisierungen gibt es auch Trigger, die ihnen überhaupt nicht bewusst und erschließbar sind, weil in sehr jungem Alter kein Erinnerungsvermögen vorhanden ist. Die Erinnerung kann dann auch im Körper sitzen, dann kommt es zum Beispiel zu psychosomatischen Beschwerden oder vegetativen Symptomen mit Panikattacken.
„Die Erinnerung kann auch im Körper sitzen“
Ist HIV bei schwulen Männern nach Ihrer Erfahrung häufig bereits eine Retraumatisierung? Und haben schwule Männer mit frühen Trauma-Erfahrungen ein höheres Risiko, sich mit HIV zu infizieren?
Bei vielen HIV-Positiven, die bei mir in Behandlung waren, ist HIV tatsächlich eine Form der Retraumatisierung. Im Einzelfall mag es auch sein, dass sich Menschen mit einer Traumatisierung leichter infizieren, aber das lässt sich keinesfalls verallgemeinern.
Gerade bei schwulen Jugendlichen ist eine Form der Pubertätsdepression sehr häufig. Das Wissen darum, anders zu sein, führt zu einem Rückzug, der dann wiederum Mobbingerfahrungen auslösen kann. Der Wunsch, zu einer Gruppe dazuzugehören, kann auch in Einzelfällen dazu führen, HIV-positiv werden zu wollen. Das ist aber selten. Häufiger dagegen kommt es vor, dass Menschen aufgrund eines depressiven Grundgefühls in Zusammenhang mit Alkohol oder anderen Substanzen ihre eigenen Regeln brechen und sich infizieren. Aber da muss man wirklich auf die Einzelfälle gucken, als Psychotherapeut würde ich nicht verallgemeinern.
Ist denn eine HIV-Infektion heute leichter wegzustecken?
Grundsätzlich kann man sagen, dass eine größere Zahl von Patienten, die schon länger infiziert sind, aufgrund der modernen HIV-Therapien gut mit der Infektion zurechtkommen. Waren sie allerdings schon schwer erkrankt, kommt es häufiger zu einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Anpassungsstörung.
Diejenigen, die gerade erst mit HIV diagnostiziert wurden und noch nicht erkrankt waren, aber dennoch schwerste Krisen durchmachten und deshalb zu mir kamen, hatten alle eine frühe Traumatisierung, zum Beispiel durch Gewalt und/oder Heimunterbringung. Oder sie kamen aus einem anderen Kulturkreis, wo sie in puncto Homosexualität sowieso schon einer ganz anderen Dynamik ausgesetzt waren. Sie haben Gewalt erlebt oder aufgrund ihres Glaubens heftige Probleme. Das sind dann Leute, die über lange Zeit Todesangst haben, obwohl sie verstehen, dass sie nicht in der Gefahr sind zu sterben. Und das geht bis hin zu Suizidwünschen. Im Grunde gibt es immer einen persönlichen und nachvollziehbaren Hintergrund, der die manchmal heftige und einschränkende Symptomatik erklärt.
„Je ‚banaler‘ der Auslöser, umso heftiger der Hintergrund“
Also könnte man sagen, HIV ist psychisch überwindbar, wenn nicht schon eine frühere Traumatisierung stattgefunden hat?
Ja. Und auch mit einer frühen Traumatisierung kann HIV verarbeitet werden, es benötigt nur manchmal mehr Zeit. Bei allen meinen Patienten ist das so. Es macht auch keinen Unterschied, ob eine HIV-Diagnose der Auslöser ist, der alles ins Rutschen bringt, oder ein Arbeitsplatzverlust. Wobei die Faustregel gilt: Je „banaler“ der Auslöser, umso heftiger der Hintergrund. Nun ist HIV natürlich nicht banal. Dass man dadurch erst mal ins Schleudern kommt, ist nachvollziehbar. Und natürlich bricht auch nicht jeder oder jede mit einer frühen Traumatisierung irgendwann zusammen.
Viele schwule HIV-Positive berichten, dass sie die Zeit rund um ihr Testergebnis ähnlich erlebt haben wie ihren Coming-out-Prozess inklusive Schuldgefühlen und Selbsthass. Ist denn das Coming-out auch schon eine Art Vortraumatisierung?
Nicht alles, was schwierig ist, ist gleich traumatisch – zum Glück. Das Gefühl von Ausweglosigkeit und Todesangst gehören zu der Definition von Trauma dazu. Das kann allerdings auch bei Coming-out-Erfahrungen der Fall sein. Häufiger ist es aber eher eine depressive Geschichte. Das Selbstwertgefühl kann einbrechen, das kann sich beim HIV-Coming-out wiederholen. Die Frage ist: Wie reagiert die Umgebung? Fühlt man sich schon als schwuler Mann in dem Umfeld aufgehoben? Bei Menschen aus anderen Kulturkreisen ist das oft schwieriger, da gibt es mehr Angst davor, dass die Diagnose oder das Schwulsein bekannt werden, was zur Ächtung oder sogar zu Gewalt führen kann.
Gibt es auch Belastungen durch HIV und Aids bei schwulen Männern, die selbst gar nicht HIV-positiv sind? Sei es, dass das massive Sterben um sie herum sie belastet hat oder auch die jahre- oder jahrzehntelange Angst, sich zu infizieren?
Selbstverständlich gibt es das, da muss ich gar nicht weit gucken. Als ich bei HIV e. V. gearbeitet habe, waren vor allem die Anfangsjahre sehr schwierig, weil man die Patienten oft recht gut kannte oder auch Kollegen erkrankten und starben. Das war eine enorme Belastung.
„Verdrängung ist etwas Gesundes. Es sei denn, sie steht einem im Weg“
Bleibt da langfristig etwas hängen?
Traumatisiert ist man wahrscheinlich nicht, aber natürlich bleibt das in gewisser Weise. Ich weiß noch, als ich nach den Jahren bei HIV e.V. in der Klink anfing und dort wieder junge Menschen sterben sah und dazu noch wusste, …
… die müssten gar nicht?
Aus psychotherapeutischer Sicht ist Verdrängung etwas Gesundes, die Abwehr einer traumatischen Erfahrung hat ja erst mal etwas Positives. Es ist nur dann ein Problem, wenn diese Erfahrung einem im Weg steht oder gefährlich wird. Bei HIV war Verdrängung damals etwas Tödliches, und sie ist es zum Teil auch heute noch.
Müssen solche Erfahrungen denn immer negativ sein?
Ich habe durch die Arbeit damals gelernt, dass man leider nicht immer alle „retten“ kann. Und heute merke ich, dass ich vielleicht dadurch relativ unerschrocken bin in dem Sinn, dass ich mir auch schwierige oder langwierige Behandlungsverläufe zutraue. Es kann zu einer größeren Gelassenheit führen, wenn man weiß, dass man auch aussichtslos erscheinende Situationen meistern kann.
Vielen Dank für das Gespräch.
*Dieser Text ist Teil eines Dossiers zum Trauma Aids. Hier eine Übersicht über die Beiträge:
- Dirk Ludigs: „Ich bin ein HIV-negativer Langzeitüberlebender“ (15. August 2018)
- Wenn HIV traumatisch wird: Interview mit dem Psychotherapeuten Stefan Cremer (16. August 2018)
- Aids-Trauma: Verwundete Seelen – die Selbsthilfegruppe „Let’s kick ASS“ für Aids-Langzeitüberlebende (18. August 2018)
- Respekt und Würde für HIV-Langzeitüberlebende: Interview mit Tez Anderson, Gründer der Selbsthilfegruppe „Let’s kick ASS“ (19. August 2018)
- „Ich möchte mich endlich von den alten Bildern von Aids verabschieden“: Interview mit dem Aktivisten Dennis, Jahrgang 1990 (21. August 2018)
- „Wir können Sex nicht mehr ohne Gesundheit denken“: Interview mit Dr. Martin Dannecker (22. August 2018)