Im Rahmen eines Austauschprogramms für Nichtregierungsorganisationen zwischen China und der EU lernt unser Mitarbeiter Werner Bock vier Wochen lang die Arbeit einer chinesischen HIV-Organisation in Hefei kennen. Seine Erlebnisse schildert er in Bock bloggt.
Wie sieht schwules Leben in China aus? Diese Frage hat mich am allermeisten interessiert, als klar war, dass ich für das Austauschprogramm angenommen wurde.
Homosexualität wurde in China 1997 entkriminalisiert
Homosexualität wurde in China 1997 entkriminalisiert, seit 2001 gilt Homosexualität nicht mehr als Geisteskrankheit. Noch nicht so lange her, aber immerhin. In den letzten Jahren hat sich in den Großstädten eine schwule Bar- und Clubszene entwickelt, habe ich vorab im Internet gelesen. Das Ergebnis für Hefei fällt allerdings ernüchternd aus: Es gibt hier nur eine Gay-Bar – und das bei 7 Millionen Einwohner_innen! Im Vergleich zu Peking (22 Millionen) und Shanghai (23 Millionen) lebe ich hier quasi in der Kleinstadt – und somit in der schwulen Diaspora.
Zum Glück gibt es auch in China Internet und schwule Dating-Apps – und die nutzen schwule Männer ausgiebig. „89 % aller Männer, die bei uns einen HIV-Test gemacht haben, gaben in einem Fragebogen an, dass sie ihre Sexpartner im Internet kennengelernt haben“, erzählt mir mein chinesischer Kollege Pan. Und die Auswahl an Männerbekanntschaften dort ist groß: Die angesagteste Dating-App „Blued“ hat über 50 Millionen User – und seit ich hier bin, ja noch einen mehr.
Flirtfaktor? Null!
Schwules Leben findet hauptsächlich im Netz und in den eigenen vier Wänden statt. In Hefei gibt es keine LGBT-Organisation, kein schwules Magazin, kein schwules Leben in der Öffentlichkeit. Mein Eindruck ist, dass die meisten Menschen hier überhaupt nicht auf dem Schirm haben, dass es so etwas wie Schwule, Lesben oder Trans* gibt.
Auf der Straße, im Restaurant, im Hotel ist der Flirtfaktor gleich Null. Man macht sein Ding und nimmt vom anderen wenig Notiz. Augenkontakt gibt es nur äußerst flüchtig, ein Lächeln ist die absolute Ausnahme. Ausnahme ist auch, dass man sich im Fahrstuhl grüßt oder jemanden aus Höflichkeit den Vortritt lässt. Ich glaube, das ist ein kulturelles Ding – und da ist sie wieder, die Gemeinsamkeit: Auch der Berliner ist ja eher für seinen spröden Charme bekannt.
Nicht gutheißen, nicht ablehnen, nicht fördern
Die offizielle Linie von Regierung und Behörden gegenüber LGBT gilt als äußerst ambivalent. Zwar ist Homosexualität nicht illegal, öffentlich sichtbar soll homosexuelles Leben aber auch nicht sein. Im Fernsehen und im Internet ist die Darstellung von Homosexualität oder gleichgeschlechtlichen Beziehungen verboten – so etwas gilt als „abnormal“. Den chinesischen Behörden war es schon zu viel, als beim diesjährigen Eurovision Song Contest ein verliebtes Jungenpaar auf der Bühne zu sehen war, das miteinander tanzte und Händchen hielt. Dieser Teil der Übertragung wurde herausgeschnitten und zensiert. Das ist erst vier Monate her.
In den letzten Jahren wurden in verschiedenen Städten öffentliche Aktionen von LGBT immer wieder verboten. Dabei geht es vielleicht sogar weniger um das Thema Homosexualität an sich, sondern darum, dass jede Form des „organisierten Andersseins“ von den Behörden als mögliche Gefahr betrachtet wird.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Wie können LGBT-Organisationen in einem solchen Klima überhaupt arbeiten? Um darüber mehr zu erfahren, bin ich nach Shanghai gereist, eine faszinierende Stadt, in der das alte Europa und das moderne China aufeinandertreffen. Dort habe ich Robert Bu vom „Shanghai Youth AIDS Health Center“ kennengelernt. Neben der HIV-Prävention und der Unterstützung von Menschen mit HIV ist es der Organisation wichtig, die Lebenssituation von LGBT zu verbessern.
„In Shanghai haben es LGBT nicht so schwer wie andernorts in China“, erzählt Robert. „Es ist weniger traditionell hier, Schwule und Lesben sind weniger dem Druck von Familie und Verwandtschaft ausgesetzt.“ In der chinesischen Gesellschaft ist es extrem wichtig, dass die Söhne und Töchter heiraten, Kinder bekommen und so der Name der Familie an die nächste Generation weitergegeben wird. Passiert das nicht, gilt es als Schande für die ganze erweiterte Familie.
Einen anderen Weg zu gehen und schwules Selbstbewusstsein aufzubauen ist deswegen nicht einfach. „Unsere Organisation bietet einen Freiraum. Jeden Abend finden Gruppen und Aktivitäten für LGBT statt, es gibt Vorträge und Diskussionen“, berichtet Robert. „Wir bauen Netzwerke von LGBT-Aktivist_innen auf, unterstützen sie und vermitteln ihnen, wie sie ihre Arbeit im legalen Rahmen durchführen können.“ Einfach mal demonstrieren? Das kann zu Verhaftungen führen. „Es ist wichtig, die verschiedenen politischen Ebenen zu beachten. Es kommt darauf an, wie man etwas macht“, sagt Robert, der Jura studiert und ein paar Jahre in einer staatlichen Behörde gearbeitet hat. Das ist ein großer Vorteil, weil er weiß, wie die Verwaltung tickt.
Karaoke gegen den Druck
Zurück in Hefei erlebe ich eine Überraschung: Pan und seine Volunteers laden mich zum Karaoke ein, einem beliebten Freizeitvergnügen in China. Ich bin erstaunt: Einige von den Jungs, die ich bisher als eher zurückhaltend erlebt habe, zeigen hier eine ganz andere, lustige, ausgelassene Seite. „Das Singen hilft gegen den großen Druck, dem wir ausgesetzt sind“, sagt mir Rui, einer der Volunteers. Neben chinesischen Sänger_innen, die an Karel Gott oder Helene Fischer erinnern, kennt man hier Lady Gaga genauso wie Celine Dion. Und so singen wir: Laut und schön und falsch. Eine Gruppe von Schwulen, die zusammen viel Spaß hat. Das Normalste der Welt.
Zàijiàn aus China!
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