Heterosexuell und HIV-positiv: Der Fotograf Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2013 erfährt er, dass er mit HIV lebt. Wie er mit der Diagnose und dem Leben danach umgeht, erzählt er in einer fünfteiligen Serie.
Samantha* und ich sitzen uns in dem winzigen Fischrestaurant gegenüber, das sie so liebt. Fantastisches Essen, Kerzenlicht – es ist eines ihrer Lieblingslokale.
Kennengelernt haben wir uns einige Monate zuvor, beim Tanzen zu jazziger Swing-Musik. Verschwitzt und fröhlich. Was folgt, ist eine wunderschöne, intensive Affäre. Sie ist zehn Jahre älter als ich, und wir haben sehr ähnliche Vorstellungen, was unser Liebesleben angeht – einfach genießen, ungebunden, ohne Komplikationen Spaß haben. Mehr wollen wir beide nicht.
Alle paar Wochen guter Wein, gutes Essen und guter Sex. Je öfter wir uns treffen, desto näher kommen wir uns . Langsam, aber stetig hat sich eine Freundschaft entwickelt.
Ich will ihr sagen, dass ich HIV-positiv bin
Heute jedoch ist es anders. Heute will ich ihr von meinen Kunstprojekten erzählen. Und heute will ich ihr sagen, dass ich HIV-positiv bin. Es wird Zeit, dass sie auch diese Seite an mir kennenlernt. Und wie schon so oft zuvor bereite ich mich geistig auf das Einschlagen der „Bombe“ vor – und auf eine lange, emotionale Nacht, in der viel geredet und nachgedacht wird.
Dating mit HIV ist vergleichbar mit einem Schwung am Glücksrad der Emotionen, während man gleichzeitig im Kopf mit mathematischen Variablen jongliert.
Soll ich es sagen? Muss ich?
Wenn ich einer schönen Frau gegenübersitze, die Blicke, Bemerkungen und Gesten Bände sprechen, Körper und Augen mehr sagen als unsere Worte, versuche ich jedes Detail zu interpretieren. Die Gestik, die Mimik. Jeder Satz wird in seine Einzelteile zerpflückt und analysiert – in der Hoffnung, einen Ansatzpunkt zu finden. Einen Hinweis darauf, wie sich das Gegenüber verhalten wird, wenn ich von meinem Virus erzähle.
Durch meinen Kopf rattern dann jede Menge Fragen. Soll ich etwas sagen? Muss ich das? Was kann ich mir mit ihr überhaupt vorstellen? Einen One-Night-Stand? Eine Beziehung?
Dann kommen die persönlichen Einschätzungen: Wird sie es weitererzählen? Kann ich ihr diese Information anvertrauen? Wie wird sie reagieren, wenn ich ihr es erst erzähle, nachdem wir miteinander geschlafen haben?
Und schließlich die emotionalen Tangenten: Kommt Ekel? Verständnis? Ablehnung? Sexuelle Neugier?
Meine HIV-Beichte bringt meist mehr Fragen als Antworten
Meistens ist meine HIV-Beichte für mein Gegenüber ein Paket, das mehr Fragen mit sich bringt als Antworten und eine Vielzahl an Emotionen auslöst. Eine Ur-Angst vor Krankheit und Tod, vor einem Fremdkörper, vor sozialer Isolation.
Ich trinke noch ein Glas, um mir Mut zu machen. Ich war schon viel zu oft in dieser Situation.
Mittlerweile kann ich die Reaktionen sehr gut einschätzen. Aber das hat viele Jahre gedauert – Jahre der Scham, der Beichten, der Übung und Erfahrung – nach Jahren der Einsamkeit.
Am Anfang war das Virus. Dann kam lange Zeit nichts – in Form einer Art von Sextrauma, das ich erst Monate später überwand. Als ich irgendwann mit dem Dating wieder anfing, hatte ich stets das Gefühl, es sei meine Pflicht, von meinem Status zu erzählen. Ich war schon längst unter der Nachweisgrenze, HIV konnte also beim Sex nicht übertragen werden. Trotzdem wusste ich, dass ich mich schuldig fühlen würde, wenn ich nichts sagte.
Meine Ehrlichkeit wurde wieder und wieder bestraft
Ich hoffte, dass meine Ehrlichkeit und Offenheit dankbar angenommen werden und in Vertrauen oder zumindest Respekt münden würden
Doch ich lag falsch.
Wieder und wieder löste ich bei meinem Gegenüber eine Schockstarre aus. Ich infizierte die Frauen mit Angst – als personifiziertes HI-Virus. Ich verschwand als Mensch in ihren panisch aufgerissenen Augen und sah förmlich die Bilder von Leid und Tod aus den 80er-Jahren wieder auftauchen. Immer wieder spürte ich die Angst, gespeist aus dem Halbwissen zur Frage „Was bedeutet das? Wie wird das übertragen? Durchs Küssen? Durch Sex? Blut?“
Ich wurde zum personifizierten HI-Virus
Ich hatte ja selber genauso viel Angst vor diesem Virus und den Reaktionen, dass ich die Antworten auf diese Fragen meist nur herausstottern konnte.
Schnell begriff ich, dass Fakten hier einfach keine Rolle spielen. Ich kann von Schutz durch Therapie erzählen, also davon, dass HIV bei stabiler Therapie sexuell nicht übertragen wird, von der Notfallbehandlung PEP, die eine HIV-Infektion nach einem Risiko meistens noch verhindern kann, von der HIV-Prophylaxe PrEP, die HIV-Negative sicher vor HIV schützt, davon, dass Menschen mit HIV auf natürlichem Weg gesunde Kinder kriegen können …
Sex mit mir ist absolut HIV-sicher. Eigentlich sicherer als mit allen anderen – immerhin kenne ich meinen HIV-Status, und dank Behandlung geht es mir gut und man kann sich nicht bei mir anstecken.
Fakten, Fakten, Fakten. Aber sie ertranken im tosenden Ozean der Panik.
Ich war zu gefährlich
Dann ging ich irgendwann nach Hause. Alleine und einsam. Wütend. Bestraft für meine Ehrlichkeit.
Irgendwann meldeten sie sich noch mal. Aus Schuldgefühl. Aus Mitleid. Aber diese Kontakte verloren sich anschließend ins Nichts. Ich war zu gefährlich. Sie waren der Gefahr zu nah gekommen. Einer Realität, vor der man sich fürchten musste. Sie wollten nichts mit mir zu tun haben.
Meine Frustration und Aggression wuchsen
Wien ist klein. Hin und wieder begegnete ich den Frauen wieder, samt Anhang. Dann begrüßten sie mich immer mit traurigen, mitleidigen Blicken. Schlimmer noch: Ihr Anhang hatte denselben Blick. Sie hatten es weitererzählt. Ihre Freunde wussten von mir und meinem Geheimnis.
Es ist ein sehr spezieller Blick, wenn Menschen von deiner Infektion wissen, es aber nicht wissen sollten. Ein Blick, der mehr verrät, als sie glauben. Ein Blick, den ich mittlerweile sofort erkenne. Ein neugieriger und zugleich mitleidiger Blick: „Seh ich es? Kann ich sehen, dass er infiziert ist, der arme Bastard?“
Meine Frustration wuchs. Die Einsamkeit nagte an meiner Psyche. Ich wurde aggressiv. Und projizierte das auf Frauen, gab ihnen die Schuld für mein zurückgezogenes Leben.
Ein anderer Ansatz: Vertrauen
Das musste sich ändern. Ablehnung aufgrund meiner Ehrlichkeit. Da konnte ich noch so freundlich, charmant oder lustig sein – nichts würde helfen.
Und so wählte ich einen anderen Ansatz. Über die Monate und Jahre machte ich mich mit dem Virus vertraut. Vertraut mit den Vorgängen in meinem Körper, der Wirkweise der Medikamente, den Wechselwirkungen mit anderen Mitteln. Ich lernte zu vertrauen – auf die Medizin, die Therapie und meine Ärzte.
Bei jedem meiner vierteljährlichen Kontrolluntersuchungen fragte ich meinen Arzt: „Was wäre, wenn ein Kondom reißt?“
Jedes Mal kam dieselbe Antwort: „Nichts. Du bist schon so lange unter der Nachweisgrenze, dass nicht einmal eine PEP nötig wäre. Du hast noch nie deine Medikation vergessen. Es gibt nichts, wovor du dir Sorgen machen musst. Höchstens eine ungewollte Schwangerschaft!“
Das musste erst einmal einsickern. Sich festigen. Von der Theorie in die Praxis überführt werden. Nicht, dass ich je auf Kondome verzichteten würde. Aber ich erzählte einfach nicht mehr von meinem Virus.
Rückkehr in die Datingwelt
Und so kehrte ich wieder in eine andere Datingwelt zurück. Ich war charmant, ich flirtete. Ich erzählte von meinen Reisen und meiner Arbeit. Aber nichts vom Virus.
Anfangs war das schwierig – schließlich gab es zu der Zeit nicht viel anderes in meinem Leben. Und die ersten sexuellen Begegnungen waren eher von Gewissensbissen geprägt – unangenehm, verkrampft, und um ehrlich zu sein, war meine Performance ziemlich erbärmlich. Ich hatte zu viele Verunsicherungen im Kopf.
Aber auch das konnte ich ändern. Ich zwang mich zur Auseinandersetzung mit mir selber, meinem Verhalten Frauen gegenüber und meiner Sexualität. Da war ein riesiger versteckter Makel, der irgendwie ausgeglichen werden musste.
Das hieß: Ich musste lustig, interessant und wenigstens halbwegs brauchbar im Bett sein. Und so befasste ich mich mit allem, das mir nur irgendwie helfen könnte – Literatur, Poesie, Geschichtenerzählen, Tantra-Kursen und der weiblichen Anatomie**. Wenn mein Durchhaltevermögen schon so schlecht war, wollte ich doch wenigstens oral befriedigen können!
Ich besiegte meine Angst – vor mir selbst und dem Virus
Langsam, aber stetig hatte ich mehr Erfolg. Ich wurde zuversichtlicher. Selbstbewusster. Und ich besiegte meine Angst – vor mir selbst und dem Virus.
Und somit kam ich in jene Situationen, die eine nächste Stufe darstellten, aber auch mit neuen Ängsten verbunden waren: einer Frau zu sagen, dass ich HIV-positiv bin, nachdem ich mir ihr geschlafen hatte.
Die Reaktionen überraschten mich.
Die Frauen waren weder böse, wütend noch enttäuscht – sie hatten Verständnis. Natürlich waren sie anfangs schockiert, aber auch neugierig und auf eine ganz besondere Art und Weise dankbar. Sie meinten, dass sie mich sonst nie kennengelernt hätten. Dass sie mich genau wie die anderen weggestoßen und mich als „Virus“ gesehen hätten. Nicht als Menschen. Sie waren auch alle über ihre eigenen Reaktionen überrascht, und ich bin bis heute mit ihnen befreundet. Es hat uns eine sehr eigene Verbindung ermöglicht.
Ich sage nicht, dass das eine Lösung für jeden ist. Aber für mich hat sie sehr gut funktioniert. Dazu sei aber auch gesagt, dass ich diese Reaktionen fast ausschließlich in Spanien bekommen habe. Tatsächlich begegnet mir dort auch heute ein offenerer Umgang mit HIV – mittlerweile sage ich es daher fast immer von vornherein und erlebe meist nicht mehr als ein kurzes „Aha …und?“.Weil es egal ist. Weil die Aufklärung um einiges fortgeschrittener scheint. Viruslast und Nachweisgrenze sind dort nicht nur abstrakte Theorie, sondern haben sich im Allgemeinwissen verfestigt.
Heterosexuell und HIV-positiv: Jede Reaktion ist anders
Heute ist es so, dass diese ganzen Variablen in meinem Kopf herumschwirren, wenn ich eine Frau kennenlerne. Ich beobachte im Gespräch, ob ich Hinweise finde – und werfe gelegentlich Kommentare ein, die zu mehr Hinweisen führen könnten. Zum Beispiel „Ich arbeite gerade an einem Projekt, das mit HIV und Heterosexualität zu tun hat“ oder „Ich schreibe über sexuell übertragbare Krankheiten“. Dann beobachte ganz genau. Ich rechne mir schnell aus, ob, was und wie ich es sage. Jede Frau ist natürlich anders. So wie jede Reaktion auf ein HIV–Coming-out auch.
Wie so oft zuvor bereite ich mich also mit Samantha auf meine Rede vor. Aber noch bin ich nicht ganz so weit. Erst einmal stelle ich ihr noch mehr Fragen über ihr Leben, ihre Kindheit.
„Und leben deine Brüder noch in Brasilien, oder sind sie auch nach Europa gekommen?“, frage ich nach einem weiteren Schluck Wein.
„Na ja“, sagt sie schüchtern und ein wenig melancholisch. „Mein jüngerer ja. Aber mein älterer ist schon verstorben. In den 90ern. An Aids…“
* Name von der Redaktion geändert
** „She Comes First“ von Ian Kerner