Aleksey Lakhov arbeitet für die gemeinnützige Stiftung „Humanitäre Aktion“ in Sankt Petersburg. Auf der Internationalen Aids-Konferenz 2018 in Amsterdam sprach er mit uns über Möglichkeiten und Grenzen der Harm Reduction in Russland
Herr Lakhov, viele Leute sind überrascht, wenn sie hören, dass es in Russland Programme zur Schadensminimierung für Drogengebraucher_innen gibt. Aber es gibt solche Programme nicht überall im Land, oder?
Nein. Aber lassen Sie mich von vorn anfangen, denn in Russland umfasst Schadensminimierung nicht die Opioid-Substitutionstherapie. Die Substitutionsbehandlung ist in unserem Land verboten. Und so gehören zu unseren Angeboten zur Schadensminimierung die Vergabe von Nadeln, der Spritzen- und Nadeltausch, die Beratung, Unterstützung bei der Therapietreue, die Verteilung von Kondomen und all das.
Das ist das Erste. Zweitens: Als der Globale Fonds noch in unserem Land tätig war, gab es in Russland etwa 50 bis 80 Projekte zur Schadensminimierung. Aber dann begann der Globale Fonds, seine Programme in Russland einzustellen.
Die Zahl der Programme zur Harm Reduction in Russland ist stark gesunken
Aus politischen Gründen, richtig?
Aus politischen, aus finanziellen und auch aus anderen Gründen. Heute sind noch etwa 12 bis 15 Projekte zur Schadensminimierung übrig, von denen einige zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden.
Sankt Petersburg ist eine offene, europäische Stadt
Allerdings denke ich nicht, dass dies die Politik unseres Landes insgesamt mit Blick auf Schadensminimierung und die Organisationen in diesem Bereich ist. Vielmehr glaube ich, dass es sich häufig um Maßnahmen der lokalen Verwaltung handelt. Vielleicht wollen die ihren Kollegen in Moskau etwas beweisen oder so.
Deshalb versuchen wir, einen Dialog mit unseren kommunalen Verwaltungsangestellten aufzubauen. Und weil Sankt Petersburg eine sehr offene, eine europäische Stadt ist, sind unsere Verwaltungsangestellten sehr aufgeschlossen. Wir können offen mit ihnen über Programme zur Schadensminimierung diskutieren.
Tatsächlich?
Ja, tatsächlich. Natürlich können wir unseren Klienten keine Opioid-Substitutionstherapie anbieten, weil sie eben immer noch verboten ist. Aber wir glauben, dass sie für bestimmte Gruppen trotzdem möglich ist, zum Beispiel für Drogengebrauchende mit HIV und Tuberkulose, für Schwangere oder für Inhaftierte. Das ist die Botschaft, die wir unseren Verwaltungsangestellten vermitteln wollen. Und sie sind tatsächlich bereit, uns zuzuhören.
Dialog ist der beste Weg, um die Bedingungen zu ändern
Natürlich kennen alle die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, und natürlich versuchen wir, diese Bedingungen irgendwie zu ändern. Aber wir glauben, dass der beste Weg dahin der Dialog ist, nicht Proteste, nicht öffentliche Kritik an unserer Verwaltung, sondern eben dieser effektive Dialog. Denn wenn man Verwaltungsvorschriften oder Ähnliches kritisieren will, sollte man Alternativen anbieten. Und was können wir ihnen anbieten? Wir können ihnen unserer Projekte anbieten, unsere Ideen.
Harm Reduction in Russland ist möglich, aber schwierig
Und Sie glauben, dass die Verwaltung Sie unterstützen wird? Drogenkonsumenten werden doch in Russland häufig nicht als Kranke angesehen werden, sondern als soziale Außenseiter, als Kriminelle, als Menschen, die den Tod verdienen. Wie wollen Sie das ändern?
Ein Weg ist, den Verwaltungsangestellten klarzumachen, dass Drogenabhängigkeit eine Krankheit ist. Nicht alle wollen das hören. Für sie sind Drogenkonsumenten in der Tat keine Kranken, sondern Kriminelle. Und was ist der beste Ort für Kriminelle? Das Gefängnis. Aber wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass das nicht stimmt. Dass es sich um Menschen mit einer Krankheit handelt, denen man helfen kann. Dass Sie uns ihnen einfach helfen lassen sollen. Und dann sagen sie: Okay, wenn ihr ihnen helfen wollt, könnt ihr ihnen helfen.
Drogenabhängige sind Menschen, die Hilfe brauchen
Der zweite Weg ist, verschiedene moderne Kommunikationskanäle wie z. B. Social Media zu nutzen. Wir hoffen, dass wir Social-Media-Kampagnen für die Allgemeinbevölkerung machen und damit um Unterstützung für unsere Arbeit zu werben. Zum Beispiel durch Spenden, damit wir den Drogenkonsumenten helfen. Und wenn die Leute fragen, „Warum wollt ihr den Drogenkonsumenten helfen? Das sind doch Kriminelle!“, dann erklären wir ihnen, dass sie keine Kriminellen sind, sondern einfach nur Menschen mit Problemen, mit einer Krankheit, Menschen, die Hilfe brauchen. Und wir erzählen ihnen von ehemaligen Drogenkonsumenten oder von Menschen, die derzeit Drogen konsumieren und eben nicht straffällig werden, sondern einfach zur Arbeit gehen und genauso behandelt werden wollen wie andere Leute auch.
Der dritte Weg ist die Kooperation mit den Massenmedien. Wir haben eine nette Facebook-Gruppe für Journalisten, die über HIV, Drogengebrauch und Virushepatitis schreiben. Ich glaube, es sind mehr als 160 Journalisten dabei. Über diese Gruppe können wir uns mit ihnen in Verbindung setzen und sie bitten, zum Beispiel ein Interview mit unserem Fallmanager oder mit unseren Klienten oder mit Verwaltungsangestellten zu führen, die offen für den Dialog sind. Ich glaube, das sind die wichtigsten Wege, wie wir die öffentliche Meinung ändern können.
Wichtig ist Aufklärung der Allgemeinbevölkerung
Gibt es denn schon Journalisten, die Sie unterstützen?
Ja. Einige von ihnen sind auch hier in Amsterdam. Sie schreiben wirklich gute Artikel und verurteilen die Drogenkonsumenten nicht, sondern versuchen der Allgemeinbevölkerung zu erklären, dass sie eben nicht verurteilt werden sollten.
Die hohen Infektionsraten in der Schlüsselgruppe der Drogenkonsumenten sind ja auch eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Ist das ein Argument, das Sie in Diskussionen mit Ihrer Verwaltung anbringen können, oder befördert das im Gegenteil vielleicht sogar die Stigmatisierung?
Nein, wir versuchen in der Tat, damit zu argumentieren. Sehen Sie, in den letzten Jahren ist der heterosexuelle Übertragungsweg in Russland sehr viel häufiger geworden. Heterosexuelle stellten im Jahr 2017 rund 31 Prozent aller HIV-Infizierten in St. Petersburg und mehr als 67 Prozent der neuen HIV-Fälle. In unserer Stadt ist der heterosexuelle Übertragungsweg mittlerweile der Hauptübertragungsweg. Aber wie infizieren sich diese Leute? Indem sie mit ehemaligen oder mit aktuellen Drogenkonsumenten schlafen und dabei keine Kondome benutzen. So infizieren sie sich. Und auf diesem Weg gelangte die HIV-Epidemie aus der Gruppe der injizierenden Drogenkonsumenten in die Allgemeinbevölkerung. Und dieser Trend setzt sich seit ein paar Jahren nicht nur in St. Petersburg, sondern in ganz Russland fort.
Die HIV-Epidemie in Russland betrifft auch die Allgemeinbevölkerung
Aber natürlich gibt es immer noch einige Regionen, in denen sich die HIV-Epidemie vor allem unter injizierenden Drogenkonsumenten ausbreitet, zum Beispiel in Sibirien. Eine Studie, die kürzlich in The Lancet HIV veröffentlicht wurde, hat nun herausgefunden, dass sich durch den Ausbau von Schadensminimierungsangeboten in Gebieten mit weiter HIV-Verbreitung wie etwa Omsk und Jekaterinburg sich die Zahl der HIV-Neuinfektionen senken ließe. Das ist ein Beitrag in einer wissenschaftlichen Zeitschrift mit evidenzbasiertem Ansatz. Und wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich diesen Beitrag einigen unserer Verwaltungsangestellten zeigen und ihnen sagen: Wir kommen aus St. Petersburg, wir sind aufgeschlossen und wir können hier Programme zur Schadensminimierung starten.
Aber nur in Ihrer Stadt, nicht im ganzen Land, oder?
Ja. Aber anschließend können wir das ausbauen und anderen Regionen zeigen, wie das geht und warum wir das tun und warum es auch in ihren Regionen gemacht werden muss.
Unterstützung von außen ist weiterhin nötig
Denken Sie, dass sich auch die russische Regierung davon überzeugen lässt? Es ist doch offensichtlich, dass es sonst immer mehr HIV-Infektionen geben wird, und das kann die Regierung doch nicht wollen, oder? Irgendwann sollten sie daher darüber nachdenken, was hilfreich wäre – und nicht darüber, was sie von Drogenkonsumenten halten.
Sie haben völlig recht. Zum Glück bekommen wir auch von anderer Seite Unterstützung für unsere Arbeit. Zum Beispiel von Elton John und seiner Stiftung.
Er unterstützt Ihr Projekt?
Ja, er unterstützt den Ausbau dieses Projekts. Dieses Projekt dauert drei Jahre, und wir wollen in dieser Zeit anderen Regionen zeigen, wie wir arbeiten. Wie wir mit Verwaltungsangestellten zusammenarbeiten, wie wir mit den Massenmedien zusammenarbeiten und wie wir mit unseren Klienten arbeiten.
Wir wollen auch in anderen Regionen mehr öffentliche Mittel für Schadensminimierung
Wir hoffen, dass wir diese Erfahrungen auf andere Regionen übertragen können und dass sie dann in der Lage sein werden, so etwas auch in ihren eigenen Regionen mithilfe öffentlicher Gelder umzusetzen. Einer der Indikatoren dieser Förderung ist daher, dass die kommunalen Mittel für unsere Arbeit erhöht werden und dass wir dieses Geld für die Arbeit mit Drogenkonsumenten und mit Sexarbeitern einsetzen.
Wenn wir dieses Ziel erreichen, ist das nicht nur für uns und unsere Klienten gut, sondern auch für andere NGOs aus anderen Regionen. Die können dann nämlich erkennen, dass auch sie öffentliche Gelder beantragen können und dass die lokale Verwaltung oder die russische Regierung ihnen Geld nicht nur für die Arbeit mit der Allgemeinbevölkerung, sondern auch mit den Drogenkonsumenten zur Verfügung stellen kann.
Was glauben Sie, wie viele Drogenkonsumenten haben in Russland bereits Zugang zu sauberen Spritzen und Nadeln?
Nicht sehr viele. Es ist noch nicht so lange her, seit wir die Harm Reduction Coalition gegründet haben, in der sich nur neun NGOs zusammengeschlossen haben. Mitte 2000 gab es noch mehr als 40 solcher NGOs, die aber hauptsächlich vom Globalen Fonds finanziert wurden. Und als der Globale Fonds seine Arbeit in Russland einstellte, wurden diese NGOs entweder geschlossen oder wandten sich anderen Feldern zu. Heute haben wir in ganz Russland nur noch etwa 10 bis 15 NGOs, die mit Drogenkonsumenten arbeiten. Und drei von ihnen sind zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden.
Das heißt, wie es bei UNAIDS hieß, dass Sie mit Ihrer schwierigen Arbeit noch einen weiten Weg vor sich haben und diesen Weg Schritt für Schritt gehen müssen. Haben Sie vielen Dank!
Danke Ihnen!
1997 begann die Organisation „Médecins du Monde“ (Ärzte der Welt) mit einem mobilen Harm-Reduction-Angebot für Drogengebraucher_innen in St. Petersburg – das erste mobile Projekt dieser Art in Russland.
Bei dieser Arbeit wurden dann Sexarbeiterinnen als weitere gefährdete Gruppe identifiziert. Für sie wurde 2001 ein neues Programm ins Leben gerufen. Im selben Jahr wurde die gemeinnützige Stiftung „Humanitäre Aktion“ in St. Petersburg registriert, die zur Nachfolgerin der Programme von „Médecins du Monde“ wurde.
Die Stiftung bietet unter anderem HIV-Tests für Drogengebraucher_innen, Unterstützung für HIV-positive Frauen (insbesondere Schwangere und Mütter), die Drogen gebrauchen, Unterstützung für Sexarbeiter_innen (Verteilung von Kondomen und Schwangerschaftstests, Förderung der Verhandlungsfähigkeit zur Durchsetzung des Kondomgebrauchs) und HIV-Tests für die Allgemeinbevölkerung an.
Die Stiftung ist heute eine der größten Organisationen in Russland, die sich für die HIV-Prävention in besonders gefährdeten Gruppen einsetzt.
Weitere Informationen
HIV in Russland: „Alles, was wir brauchen, ist der politischer Wille“ (Interview mit Wadim Pokrowskij, Leiter des russischen Aids-Zentrums und eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens in Russland, die offen die Gesundheitspolitik der Regierung kritisieren)
Gefährlich und menschenverachtend: Russlands repressive Drogenpolitik (Beitrag von Alexander Delphinov, der sich von 1998 bis 2014 für eine bessere gesundheitliche Versorgung von Drogengebraucher_innen in Russland eingesetzt hat und seit 2014 in Deutschland aktiv ist)
Leben mit Drogen: Alexey, 35, Kasan, Russland (Teil einer Serie zum Film „Ein Tag im Leben“, der einen Einblick in das Leben von acht Drogengebraucher_innen aus sieben Ländern der Welt bietet)