Heterosexuell und HIV-positiv: Der Fotograf Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2013 erfährt er, dass er mit HIV lebt. Wie er mit der Diagnose und dem Leben danach umgeht, erzählt er in einer fünfteiligen Serie.
Als Kind der Achtzigerjahre ist mein Wissen über HIV von dieser Zeit geprägt – Freddie Mercury, Philadelphia, Aids und der fürchterliche Anblick dürrer, sichtbar sterbender Menschen. Und irgendwo schüttelte Lady Di deren Hände.
Meine Angst lässt meinen Zorn und meine Ignoranz hochbrodeln. Aids haben andere. Homosexuelle, Drogensüchtige. Ich doch nicht, verdammt noch mal. Die haben sicher einen Fehler gemacht. Ich kann unmöglich positiv sein. Wie auch?
Nach der HIV-Diagnose sind Fakten gefragt
Die nächsten 24 Stunden verbringe ich in furchtbarer Ungewissheit. Während die Zeiger der Uhr sich im Zeitlupentempo drehen, habe ich Hausaufgaben zu erledigen.
Gefragt sind jetzt meine journalistischen Fähigkeiten. Ich muss versuchen, die Furcht, die Ignoranz und die Vorurteile auszublenden, und so viel wie möglich über HIV herausfinden. Tatsachen, die Emotionen ausstechen.
Die Angst kommt in Wellen
Ich muss alles wissen. Krankheitsverlauf, Symptome, Inkubationszeit. Alle Fakten, die ich seit meiner Jugend verpasst habe. Ich will mir in den nächsten Stunden Expertenwissen aneignen.
Jedoch kommt Angst in Wellen. Immer und immer wieder. So sehr ich sie auch zeitweise vergraben kann, so sehr brodelt sie immer wieder in mir hoch und übermannt mich. Die Ungewissheit, die Panik und die Fragen umschlingen mich immer und immer wieder. Wie werde ich das meiner Familie erzählen? Was werden sie denken? Wie wird mein Leben aussehen?
Ich habe schon in meiner Jugend gelernt, dass das Leben Situationen bereithält, in denen man alleine einfach nicht mehr weiterkommt.
Alleine komme ich nicht weiter
Das hier ist eine solche Situation. Ich muss mich geschlagen geben. Ich weiß, ich brauche Hilfe, und zwar sofort. Ich bin heillos überfordert und nervlich am Ende.
Ich kalkuliere die Zeitdifferenz nach Europa, suche mir zwei Koordinaten und sende mein Notsignal um die halbe Welt.
„Ich war beim Osho-Zentrum, durfte aber nicht rein. Ich bin anscheinend HIV-positiv. Es gibt noch einen Test, den ich zu Hause machen werde. Kannst du kurz reden?“
Meine beste Freundin und mein Bruder halten mich über Wasser
Mona, meine beste Freundin in Spanien, sowie mein Bruder in den USA sind in den nächsten Minuten die ersten, die auf diese Weise von meiner Diagnose erfahren. Und sie antworten schnell. In dieser langen Nacht halten sie mich über Wasser. Immer wieder bewahren sie mich vor dem Ertrinken in diesem Meer aus Panik, das mich umgibt.
Wir teilen uns die Aufgaben. Sie helfen bei der Recherche. Durchforsten die Informationen deutscher, österreichischer, spanischer und amerikanischer Aidshilfen. Erfassen medizinische Erkenntnisse und geben sie weiter. Ich bin ein Schwamm, der diese Informationen aufsaugt. Begriffe wie ELISA-Test, Viruslast und Nachweisgrenze finden ihren festen Platz in meinem Vokabular.
Ich beschäftige mich mit dem Geschehen kurz nach der Infektion und dem Krankheitsverlauf.
Ich erinnere mich an die Symptome
Und dann erinnere ich mich plötzlich.
Vor einigen Wochen hat mich eine Krankheit niedergestreckt. Malariaartige Symptome, Fieberschübe, schweres Atmen und eine körperliche Schwäche, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Das Gefühl, tatsächlich „todkrank“ zu sein. Jede Bewegung fiel mir schwer. Mein Zahnfleisch war geschwollen, schmerzte und blutete. Und niemand wusste, was es war. Niemand dachte an HIV. Sogar mein damaliger Arzt dachte, es wäre Malaria.
Aber jetzt weiß ich es. Das Rätsel ist gelöst. Der Täter gefunden. Das Virus.
So krank will ich nie wieder sein
Der erste Angriff, der mir die Lebensenergie ausgesaugt und seine ersten Spuren hinterlassen hat.
Der trockene Husten, der nicht weggehen wollte. Das Spannungsgefühl am Solarplexus. Die trockene, rissige Haut. Symptome, die ich auf andere Umstände geschoben hatte, zum Beispiel die verpestete Indische Luft, erscheinen mir plötzlich in neuem Licht.
Die Erinnerung löst eine neue Panikwelle aus – auch weil sie der Diagnose Recht gibt. Auch später empfinde ich Unbehagen, wenn ich an diese Situation zurückdenke aus. So krank will ich nie wieder sein.
Angriffe auf meinen Körper. Verteidigung meines Immunsystems. Aktion und Reaktion. Widerstand gegen den Eindringling. Plötzlich kann ich genau verstehen, was in meinem Körper vor sich geht. Entsetzt und fasziniert zugleich.
Immer wieder kommt Panik auf – und immer wieder besänftigt mich Monas Stimme und wiegt mich über die tausenden Kilometer hinweg in Sicherheit.
Ein normales Leben mit HIV ist möglich
Je mehr Informationen ich aufnehme, desto ruhiger werde ich. Obwohl es noch sehr abstrakt und sehr weit weg ist, scheint mit mit HIV ein normales Leben möglich. Ich muss anfangen, mein aus den Achtzigerjahren stammendes Wissen zu überschreiben.
Alles ergibt Sinn. Und im Laufe der Nacht wird mir klar, dass die Diagnose stimmt. Dass auch das zweite Resultat „HIV-positiv“ sein wird.
Erschöpfung macht sich breit. Ich schlafe ein wenig. Während Andrea sich in der Früh zu einem Meditationsseminar aufmacht, bleibe ich im Hotel und rauche gefühlt 200 Zigaretten.
Erkennen und Akzeptieren sind zwei sehr unterschiedliche Dinge
Ich weiß, was kommen wird, will es aber schriftlich haben. Ich schreibe der Aidshilfe in Wien, was passiert ist und dass ich bald kommen werde. Ich will mich auf mein Leben mit HIV vorbereiten.
Erkennen und Akzeptieren sind allerdings zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich weiß es, will es aber nicht wahrhaben. Im Hinterkopf bleibt der Gedanke: „Das stimmt doch alles gar nicht. Zu Hause wird sich das wieder regeln. Zu Hause wird das Resultat „HIV-negativ“ sein. Das alles ist nur ein großes Missverständnis.“
Mein Bauchgefühl sagt mir jedoch was anderes.
Und am Nachmittag hole ich mir die gefürchtete Bestätigung: HIV-positiv.
Die alte Holländerin sagt mir: „Manche Leute leben nach so einer Diagnose ein viel schöneres, bewussteres Leben.“
Ich antworte erbost: „Fahr doch zur Hölle.“
Da weiß ich noch nicht, dass sie recht hat.
Die schöne Perserin sehe ich nicht wieder. Jetzt nicht und auch später nicht.
Zwölf Tage Aufschub
Andrea und ich treffen uns anschließend zum Essen. Es ist ihr erstes Mal in Indien, und sie fürchtet, dass ich jetzt abhauen werde.
Aber ich bleibe. Ich muss bleiben.
Nicht nur, weil ich mich ihr und unseren Reportagen verpflichtet fühle. Sondern auch, weil wir noch zwölf Tage hier haben. Zwölf Tage Arbeit und Abenteuer – zwölf Tage eines Lebens, das ich in Zukunft so vielleicht nicht mehr führen kann.
Bei wem habe ich mich eigentlich angesteckt?
Es sind die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens. Wo sich noch nicht alles um HIV drehte. Wo HIV noch weit weg war.
Ich weiß: Sobald ich im winterlichen Wien lande, wird HIV zu meiner neuen Realität. Dann wird es echt. Zu echt.
Einen Aufschub will ich mir noch gönnen.
Andrea und ich machen uns am nächsten Tag auf den Weg zurück nach Mumbai, wo wir wieder die NGO treffen wollen.
Dabei kriecht langsam ein Gedanke in meinen Kopf.
Bei wem habe ich mich eigentlich angesteckt?