Teil 2 – Geschwindigkeit
„Zauberwort Digitalisierung“ – Sie macht vieles einfacher, gleichzeitig verändert sie unser Zusammenleben. Sie verändert vor allem die Art, wie die junge Generation, genannt Digital Natives, aufwächst. Welche Risiken und Nebenwirkungen gibt es schon jetzt? Auf welche Herausforderungen müssen wir uns künftig einstellen?
Diesen und weiteren Fragen geht Professor Dr. Matthias Wildermuth, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, in einer dreiteiligen Interview-Reihe auf den Grund.
Heute geht es um das Thema Geschwindigkeit. Die durch die Digitalisierung beschleunigten Prozesse sparen uns jede Menge Zeit. Doch was macht diese Beschleunigung mit uns? Gewinnen wir wirklich Zeit oder fühlen wir uns mehr und mehr gehetzt?
Sind kritische Wissenschaftler in Bezug auf das durch die Digitalisierung steigende Tempo übertrieben ängstlich?
Professor Wildermuth: Ich glaube nicht, dass die Wissenschaftler zu ängstlich oder überkritisch sind. Als die Eisenbahn gebaut wurde oder die ersten Automobile auftauchten, warnte die Wissenschaft auch damals vor den Folgen, die das für den Menschen haben würde.
Die Eisenbahn hat zwar nicht die schweren Zitterer hervorgebracht, wie von vielen Wissenschaftlern befürchtete wurde. Wohl aber eine andauernde Unruhe und eine gewisse Konzentrationsschwäche. Genauso eine Unfähigkeit, mit reizarmen Situationen umzugehen. Man muss sich nur mal die Unruhe ansehen, die man an in Deutschland an Haltestellen von Bus und Bahn erlebt. In Afrika hingegen warten die Menschen häufig entspannter auf den Bus. Sie reagieren meist weniger hektisch, wenn dieser Verspätung hat. In unseren Breitengraden macht sich bei manch einem ja schon fast Panik breit, wenn die Anzeige zehn Minuten Verspätung vermeldet.
Das Problem sind nicht die Eisenbahn oder der Bus als solches. Das Problem ist, dass sich mit jeder neuen Technik die Geschwindigkeit verändert, die ich jedem Ding zumesse. Ich erwarte als Fußgänger nicht, dass ich durch die Eisenbahn fünf Stunden Zeit am Tag gewinne. Ich plane diese fünf Stunden sofort wieder ein. Kommt die Bahn zu spät, empfinde ich es als persönlichen Affront. Schließlich wird mir kostbare Zeit geraubt.
So geht es immer weiter. Wir optimieren unseren immer schneller werdenden Alltag. Das Problem ist also nicht die jeweilige Technik, sondern dass mit jedem technischen Fortschritt sofort wieder die Erwartung steigt.
Das Entscheidende ist der Stress, der durch die Geschwindigkeit zustande kommt. Das was wir gewinnen, erhalten wir uns nicht, sondern es wird sofort wieder verbraucht. Die Technik als solche ist hilfreich und hervorragend, aber der Mensch muss auch mitkommen.
Meine Devise heißt: Wenn du das, was du kannst, auch ohne Technik kannst, dann kann dir die Technik hilfreich sein. Wenn du es aber nur noch kannst, wenn die Technik dich unterstützt, dann wird es gefährlich. Dann wirst du hilflos, ohnmächtig, dann wirst du entfremdet. Das erleben wir an ganz vielen Stellen. Dating-Apps wie Tinder mögen praktisch sein, um den Bekanntenkreis zu erweitern. Wenn man dadurch aber verlernt, im realen Leben auf Menschen zuzugehen, Kontakte zu knüpfen, zu flirten, ist das ein Problem. Technik ist hervorragend, wenn sie komplementär eingesetzt wird, aber katastrophal, wenn sie kompensatorisch eingesetzt wird.
Wie wirkt sich diese Beschleunigung auf unser Miteinander aus?
Professor Wildermuth: Unser Miteinander muss viel langsamer laufen. Wir müssen uns Zeit füreinander nehmen. Für mich ist das Allerwichtigste: Empathie wird durch tausende von liebevollen Alltagskontakten der Menschen entwickelt – regelmäßig, kleindossiert und verlässlich. Empathie entsteht nicht durch intensivste Feten mit viel Leerlauf drumherum. Sie wird im Gehirn durch die regelmäßige Wiederholung mit kleinen Perspektivenveränderungen verankert. Zu erfahren, dass sich ein anderer Mensch nicht nur um uns kümmert, sondern wir uns verstehen lernen und das abgekoppelt von einer Maschine, das ist das Entscheidende. Diese Zeit nehmen sich viele Menschen gar nicht mehr.
Schon heute können wir die drastischen Auswirkungen der fehlenden Empathie bei vielen Kindern sehen. Das sind Kinder mit einem stark ausgeprägten Egoismus, einem Nur-bei-sich-Sein. Sie sind nur ihren eigenen Bedürfnissen untertan. Das zeigt, dass wir analoge Beziehungszeiten brauchen, fernab der Smartphones und Tablets. Dass wir geduldig miteinander sein müssen. Dass wir nicht das Gefühl haben dürfen, etwas zu verpassen, wenn wir jemand anderem unsere Zeit und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.
Wir müssen uns angucken. In der Zeit, in der wir uns angucken, uns sehen, sind unsere Spiegelneuronen im Gehirn aktiv. Wir müssen beim Blickkontakt im Gesicht des anderen lesen. Kein Organ auf der Welt, kein Computer auf der Welt kann so fein im Gesicht des anderen lesen, wie unser Gehirn. Wenn wir die Mimik des anderen studieren, erleben wir eine Komplexität, die durch kein Computerbild übertroffen werden kann.
Wenn wir komplexe und zwischenmenschliche Werte ermitteln wollen, müssen wir mit dem anderen zwischenmenschlich im Austausch sein. Sind wir das nicht, verkümmern unsere sozialen Kompetenzen. Das heißt, dass wir die Fähigkeit verlieren, andere Menschen zu verstehen. Dann brauchen wir Hilfsprogramme dafür. Wir werden sozial autistischer. Wir werden Programme und Apps mit uns führen müssen, die uns sagen, was unser Gegenüber überhaupt meint. Über Umwege müssen wir uns dann all das zurückholen, was wir früher ganz intuitiv konnten.
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