Dr. Kunze hört (nicht) auf 10

April 2009
Ein schöner Morgen
Hausarzt Dr. med. Kunze bog rasant auf den Parkplatz vor seiner Praxis ein. Er hatte es eilig, sehr eilig. Er hatte morgens mit der Tageszeitung am Frühstückstisch gegessen, als das Telefon klingelte. Ein schlechtes Zeichen. Anrufe um sieben Uhr und früher gingen nahezu vollständig auf sein Konto. Er las weiter. Er wusste, seine Frau würde oben im Flur das Gespräch annehmen und versuchen, was möglich war, entweder den Patienten in die Praxis einzubestellen oder falls notwendig, den fälligen Hausbesuch in die Mittagszeit zu verschieben.
Wenig später öffnete sich die Tür zum Esszimmer.
„Frau Wagner hat wieder einen Asthmaanfall.“
Dr. Kunze legte rasch die Zeitung beiseite und eilte ins Bad. Wenigstens noch die Zähne putzen, bevor er zwei Dörfer weiter eine Spritze verabreichen musste. Zwei Dörfer, das machte dreiundzwanzig Kilometer hin und zurück, dazu die Behandlungszeit vor Ort, das war nicht zu schaffen. In zwanzig Minuten saß der erste Patient in seinem Sprechzimmer. Es würde also ein Morgen werden, der mit Verspätung begann. Eine Verspätung, die er, wenn alles gut lief, bis elf wieder eingeholt haben konnte. Wenn es schlecht lief, hing er um elf über eine Stunde hinterher. Er vertrug diesen Zeitdruck nicht mehr, sein Magen rebellierte und er spürte wie sein Blutdruck stieg.
Aber nicht jeder Morgen, der unerfreulich begann, kündete von einem schlechten Tag.
Als Hausarzt Dr. Anselm Kunze von der Patientin Wagner zurückkehrte und auf dem Parkplatz die Autotür hinter sich zuschlug, war er eine Viertelstunde zu spät. Das war nicht allzu schlimm – falls nichts dazwischenkam! Aber kaum hatte er dies zu Ende gedacht, sah er Frau Zeidler auf sich zustürmen. Das fehlte ihm noch, tausend Beschwerden, kein Ende und das alles noch vor der Praxistür.
„Guten Morgen, Herr Doktor! Schön, dass ich Sie hier treffe!“
So schön fand der Hausarzt das nicht.
„Guten Morgen, Frau Zeidler. Was gibt’s? Ich bin in Eile.“
„Gehen Sie ruhig. Ich halte Schritt.“
Wie schön, dachte der Arzt, behielt den Kommentar aber für sich.
„Ich wollte mich nur kurz bedanken. Sie hatten vollkommen Recht. Ich hätte meine Arbeitsstelle schon viel früher kündigen sollen. Hab‘ schon was Neues, und meine Magenschmerzen sind wie weggeblasen. Danke nochmal und einen schönen Tag. Sie sind doch der Beste.“
Dr. Kunze hielt inne, sah die Hand seiner Patientin und drückte sie. Soviel Zeit musste sein.
„Danke für die Blumen. Ihnen auch einen schönen Tag“, erwiderte er.
„Woher wissen Sie das denn schon wieder! Ihnen bleibt aber auch nichts verborgen.“
Dr. Kunze verstand nicht und musste jetzt aber wirklich hinein. Frau Zeidler winkte zum Abschied.
Drinnen standen die Leute am Empfangstresen Schlange. Briefträger Hoffmann grüßte und stellte sich dem eiligen Arzt in den Weg. So früh kam keine Post – Hoffmann war als Patient da. Dr. Kunze seufzte, offenbar eine Spur zu auffällig.
„Keine Angst, ich will nichts von Ihnen. Brauche nur ein neues Rezept. Habe ich Ihren Damen schon gesagt. Wollte mich nur nochmal bedanken. Die Wunde ist wunderbar geheilt. Danke!“
Der Hausarzt drückte die zweite dankbare Hand an diesem Morgen, flog dann den Praxisflur entlang, auf dem ihm vom anderen Ende Frau Wie-hieß-sie-noch? mit ihrer Tochter entgegen kam. Wie-hieß-sie-noch? war inzwischen der häufigste Name unter seinen Patienten und rangierte damit noch vor Wie-hieß-er-noch?, einfach weil mehr Frauen als Männer seine Praxis aufsuchten.
„Morgen, Herr Doktor, habe leider keine Zeit. Wollte nur kurz zur Blutentnahme. Muss die Kleine in die Schule bringen.“
Das Mädchen zog die Mutter Richtung Ausgang.
„Sehen Sie das? Katharina will bloß nicht zu spät kommen! Wie haben Sie das nur gemacht? Auf jeden Fall noch einmal vielen Dank dafür, Herr Doktor. Es ist kaum zu glauben, dass noch vor ein paar Wochen beinahe Polizeigewalt nötig war, um Katharina in die Schule zu kriegen. Sie sind ein toller Arzt!“
Dr. Kunze dankte und grüßte kurz zum Abschied. Er sah auf die Uhr. Nicht, weil er es noch immer eilig hatte, er sah nach dem Datum. Kein 1. April, und es war auch nicht sein Geburtstag. Er sah sich um, ob sich vielleicht irgendjemand über ihn lustig machte. Aber niemand war zu sehen, niemand kicherte hinter einer Ecke. Es waren einfach drei dankbare Patienten an diesem einen Morgen, genau genommen vier, wenn er Frau Wagner in Nienstedt mitzählte, die noch während er ihr die Injektion verabreichte wieder besser atmen konnte und ihn dankbar anlächelte – noch ohne Worte.
Dr. Anselm Kunze schlenderte Richtung Aufenthaltsraum. Dankbarkeit war entspannend. Dankbarkeit war nach all den Jahren der Praxis noch immer etwas Schönes und würde nie zur Routine werden. Welchen Kniff hatte er sich noch für die kleine Katharina ausgedacht, damit sie wieder in die Schule ging? Er würde in der Karteikarte nachsehen müssen. Rasch zog er den Kittel über und verschwand im Sprechzimmer, bevor ihn seine Helferinnen mit Rezepten und Überweisungen zum Unterschreiben abfangen konnten. Trotz aller Dankbarkeit, irgendwann musste er sich seinen wartenden Patienten zuwenden.
In Sprechzimmer 1 stand Herr Klein. Eine Plastiktüte in der linken Hand streckte er dem Hausarzt die rechte Hand entgegen.
„Meine Frau hat überlebt. Dank Ihnen! Dank und nochmals Dank, dass Sie letzte Woche so schnell gekommen sind und gleich richtig gehandelt haben. Hier, für Sie!“ Er reichte ihm die Tüte. „Ein paar Tomaten aus eigener Ernte, mit einem lieben Gruß auch von meiner Frau. Ich will jetzt gleich zu ihr. Sie ist gestern auf eine normale Station gekommen. Auf Wiedersehen.“
„Wiedersehen, Herr Klein und danke. Und schönen Gruß zurück an Ihre Frau.“
Dr. Kunze warf sich in seinen Schreibtischstuhl. Er lehnte sich zurück, legte seinen Hinterkopf in die gefalteten Hände und genoss den Morgen. Was bedeuteten schon ein paar Minuten Verspätung. Hausarzt zu sein, konnte so schön sein.
Sein Blick fiel auf einen Zettel, der am Monitor haftete. Er erkannte die Schrift seiner besten Kraft und las:
„Ihre Frau hat angerufen. Frau Zeidler hat einen riesigen Blumenstrauß vorbeigebracht. Habe einen Vermerk in Frau Zeidlers Karteikarte eingetragen, damit Sie ihr nächstes Mal danken können. Gruß Christine.“
Ein schöner Morgen.
Dann klingelte das Telefon. Christine erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Warum ging es nicht weiter? Auf dem Tresen lag ein Stapel Rezepte und Überweisungen und wartete auf seine Unterschrift. Im Verbandsraum saß Frau Staller, im EKG-Raum Frau Wischnewski, im Infusionsraum Lehrer Wagner. Im Sprechzimmer 2 saß Ehepaar Körner und wartete auf das versprochene Gespräch zu dritt. Außerdem standen der Herr Bürgermeister, das Arbeitsamt, die Kassenärztliche Vereinigung und der Filialleiter von der AOK auf der Rückrufliste. Zu allererst müsse er sich aber die klaffende Wunde am Kinn des kleinen Max ansehen.
Seufzend riss Dr. Kunze den Haftzettel vom Monitor, zerknüllte ihn und wollte ihn eben in den Papierkorb werfen, als er es sich anders überlegte. Er glättete das Stück Papier, faltete es säuberlich und steckte es in seine Kitteltasche. Eine kleine Erinnerung an einen schönen Morgen.

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