September 2008
Formulare, Formulare
Morgens saß Dr. med. Anselm Kunze an seinem Schreibtisch im Sprechzimmer. Der Hausarzt bearbeitete die ersten Anträge des Tages. Er war allein im Raum, die Sprechstunde begann erst in einer Viertelstunde.
Einen Kurantrag, eine Anfrage vom Versorgungsamt, ein Attest für eine Reiserücktrittsversicherung und eine Auskunft für eine private Unfallversicherung, das nannte er einen viel versprechenden Morgen. Papierkram. Er hob das Formular für das Rentengutachten vom Stapel und blätterte es durch, sechs Seiten, zweiundvierzig Fragen. Das konnte warten. Patient Freitag war durchaus noch in der Lage zu arbeiten, wollte aber nicht. Dr. Kunze hob den Papierstapel an und schob das unausgefüllte Rentengutachten darunter. Der Aktenstapel hatte etwas von griechischer Mythologie, je mehr Dr. Kunze sich bemühte ihn abzuarbeiten, umso stärker schien er anzuwachsen.
In der Karteikarte, die jetzt den Stapel bedeckte, lag ein Antrag auf eine Entwöhnungskur. Es ging um Alkoholsucht. Der Hausarzt sah den Patienten vor sich und hörte dessen Beteuerungen im Geiste.
„Diesmal wirklich, Herr Doktor. Nie wieder einen Tropfen. Ich schwöre.“
Dieses Formular auszufüllen war so nutzlos wie das Erschlagen einer Mücke an einem Angelteich im Spätsommer. War es Bertholds vierte oder fünfte Entwöhnung? Dr. Kunze warf die Karteikarte auf den Schreibtisch und drückte missmutig den Knopf der Wechselsprechanlage.
„Holt bitte die Akten ab und stellt mir den Patienten Berthold durch.“
„Jetzt am frühen Morgen kurz vor acht? Glaubst du, der geht ran?“
„Versuch‘s und besetzt bitte Sprechzimmer zwei.“
Seine Frau legte eher auf als er. Dass sie vorn am Tresen seine Angestellte war, wurde immer schwieriger. Natürlich hatte sie Recht, aber er wollte Berthold kontrollieren, der hatte versprochen, keine Alkoholexzesse mehr bis zum Kurantritt. Das war Teil ihrer Abmachung, Berthold schränkte sich ein und sein Hausarzt füllte zum allerletzten Mal einen Antrag auf Entwöhnungskur aus.
Dr. Kunze schob den Kasten mit dem Aktenstapel von sich, verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich zurück. Obwohl er vier Formulare ausgefüllt hatte, bevor sein Arbeitstag richtig begonnen hatte, ahnte er, dass am Ende des Tages der Aktenberg gewachsen sein würde.
Das Telefon klingelte.
„Ja?“
„Ich habe ihn tatsächlich dran, aber er ist schlecht zu verstehen.“
„Danke, stell‘ ihn durch. – Morgen, Herr Berthold.“
„Wassn los? Werisn da? Finnich nich wissig mitten inner Nacht. Ehrlich nich.“
Berthold litt unter schwerer Zungenlähmung. Dr. Kunze hatte genug gehört und legte auf.
Die Azubi betrat das Sprechzimmer und griff nach dem Kasten mit dem Aktenstapel.
„Moment!“
Dr. Kunze schnappte sich Bertholds Karteikarte und entließ Nicole mittels Handzeichen aus dem Zimmer.
Allein im Raum entfaltete der Arzt Bertholds Antrag auf Rehabilitation in einer Spezialklinik für Suchtkranke. Dinge dieser Art ließen ihn ans Aufhören denken, unnütze Anträge ausfüllen und Patienten, die ihn für dumm verkauften.
Vielleicht würde Dr. Kunze seinen Ruhestand doch vorziehen. Vorläufig hielt er das ockergelbe Antragsformular in die Höhe, tat so, als prostete er Berthold damit zu und zerriss es.