Internet: Geheimbünde fördern Essstörungen

Es kann eine hoffnungslose und herzzerreissende Situation für eine Familie sein, wenn sie versucht eines ihres Mitglieder mit der Tatsache einer Essstörung zu konfrontieren. Was sie in so einem Moment kaum ahnen, ist, dass es im Internet eine verschworene Gemeinschaft gibt, die jeglichen Versuch zur Normalisierung der Störung torpediert.

Kommunikations-Wissenschaftler der University of Cincinnati berichten von einem erschreckenden neuen Phänomen, das sich innerhalb sozialer Gruppen im Internet ausbreitet, der Unterstützungsgruppen für Essstörungen. Diese neue Form negativer sozialer Netzwerke  (die Autoren nennen sie Online Negative Enabling Support Group [ONESG]) dienen in erster Linien dem Zweck ihre Mitglieder sozusagen bei der Stange zu halten und gegen jegliche Versuche der Umwelt, sie von ihrer Krankheit zu befreien, zu immunisieren.

Die Mitglieder der Gesellschaft betrachten ihren Zustand, spezifisch diejenigen der Anorexie, als Wahl und weniger als Krankheit. Die ONESG pro-Anorexie Bewegung deckt vier wichtige Themen der Krankheit ab und benutzt verschiedene Kommunikationsstrategien, um Anorektiker davon zu überzeugen, ihre gefährlichen und schädlichen Impulse anzuerkennen, schreibt Stephen M. Haas, führender Autor der Studie, die in der Fachzeitschrift New Media & Society erschienen ist.

Die vier Themen, auf die sich die ONESG konzentriert, sind

1)      Der Anorexie-Bewegung treu bleiben: Forums und Blogs laden die Mitglieder dazu ein über Themen wie Essen, Runterschlingen („binging“) und Ausdauertraining zu diskutieren. Ausserdem gibt es sowas wie einen „online Beichtstuhl“, auf dem die Mitglieder beichten können, wenn sie zu viel gegessen oder nicht genug Sport getrieben haben, um den „Richtlinien“ der Gemeinschaft zu entsprechen.

2)      Unterstützung von Strategien zur Selbstverachtung: Die Webseiten der Gemeinschaft fördern Beiträge, deren Inhalt nicht nur Verachtung für den eigenen Körper wiederspiegeln, sondern zusätzlich auch den Schreiber dazu bringen sollen, sich selbst und sein Innerstes als wertlos und schwach anzusehen. Solcherart negative Kommunikation wird von den anderen Besuchern der Seite mit positiven Reaktionen quittiert – ein Verhalten, was gemäss den Autoren der Studie einzig bei Unterstützungsgruppen für Essstörungen gefunden wird. Die Botschaften der Mitglieder werden von den andern Mitglieder ausdrücklich gutgeheissen und in keinem Fall in Frage gestellt. Dadurch bildet sich unter den Besuchern der Seite eine gemeinsame Identität in der Anerkennung der gemeinsamen Schwächen und Fehler.

3)      Pro-Anorexie Unterstützung: Zumeist besteht diese Form Unterstützung darin, dem Mitglied der Gemeinschaft Hilfe zu leisten in Bezug auf Diätfragen und wie mit Aussenstehenden umgegangen werden soll, die versuchen das Mitglied mit seinem Zustand zu konfrontieren und zur Abkehr von der Anorexie zu bewegen.

4)      Ermutigung zur Anorexie: Ermutigung ist die vierte Kommunikationsstrategie, die die Autoren innerhalb dieser Gruppe ausmachen konnten. Das kann von mitfühlenden Botschaften, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken sollen, über Tipps und Tricks zu anorektischem Verhalten bis hin zu expliziten Abwehrstrategien gegenüber der ablehnenden Haltung von Nicht-Anorektikern gehen.

In den Mitteilungen der ONESG Gruppe konnten die Forscher eine allgemeine ambivalente Haltung zwischen Selbstverachtung und Selbstaufmunterung feststellen. „Die Ambivalenz zwischen Selbstverachtung und Selbstaufmunterung als Teil der Anorexie anzunehmen ist eine wichtige Strategie innerhalb der Gruppe, weil sie die innere Aufruhr in Anorektikern aufzeigt,“ schreiben die Autoren. „Anorektiker klammern sich unerbittlich an die Idee, dass das Erreichen einer gewissen Schlankheit sie von ihren inneren Gefühlen der Wertlosigkeit und Unerwünschtheit befreien könnte, dass aber die Mittel und Wege durch die sie dieses Gefühl der Zugehörigkeit erlangen könnten, stigmatisiert und als unerwünscht deklariert wird.“

Die Forscher sagen, dass solche geheimen sozialen Netzwerke durch die Anonymität des Internets, in dem auch extreme Meinungen ihren Raum finden, gestärkt werden. Der Austausch ermöglicht es, sich mit potentiell gefährlichen, negativen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen und diese in sein eigenes Verhalten einzubauen und daraus neue, für die Mitglieder positive Verhaltensmuster zu kreieren. Mitfühlende Botschaften bereiten dafür den Boden, indem sie ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl bilden.

Die Autoren schreiben, dass mit dem Entstehen von neuen Social Media Kommunikationsmittel, das Verständnis der Rolle von ONESGs immer wichtiger wird. Sie fügen hinzu, dass das Verständnis solcher Kommunikationsstrategien im Notfall helfen kann, das typische Abwehrverhalten bei potentiell lebensrettenden Massnahmen zu durchbrechen.

Die Forscher haben ihre Daten auf sozialen Netzwerkseiten und spezifischen pro-Anorexie Seiten gesammelt, deren Zugang öffentlich war. Die Websites und Blogs wurden zwischen 2006 und 2007 verfolgt und ausgewertet. Die Blog- und Fourmsbeiträge kamen, soweit dies eruierbar war, von Frauen im Alter von 13 bis 26.

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