In der Ukraine sind schätzungsweise 1,1 % der erwachsenen Bevölkerung mit HIV infiziert. Das Land hat damit die am deutlichsten ausgeprägte HIV-Epidemie in Europa. Doch Missstände und Repressalien erschweren die HIV-Prävention und behindern die Versorgung der Betroffenen mit Medikamenten. Ein Bericht von Carolin Vierneisel.
Internationale und ukrainische Akteure bemühen sich schon seit Jahren um eine Eindämmung der HIV-Epidemie in der Ukraine. Doch die hier notwendige Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gestaltet sich von jeher schwierig. Belastet wird sie vor allem durch ideologische Vorbehalte und Vorwürfe, staatliche Stellen würden für Prävention und Versorgung bereitgestellte Gelder unterschlagen. Solche Vorwürfe hatten den Globalen Fond 2004 veranlasst, seine an den Staat geleisteten Zahlungen einzustellen und die Nichtregierungsorganisationen als Hauptempfänger der Hilfsgelder zu bestimmen.
Versorgung mit HIV-Medikamenten: unregelmäßig oder völlig versiegt
In den letzten Wochen und Monaten eskalierte die Situation jedoch. Aus verschiedenen Regionen der Ukraine wurde den NGOs berichtet, dass die Versorgung mit HIV-Medikamenten unregelmäßig oder gar völlig versiegt sei. In der Ukraine kauft der Staat die HIV-Medikamente ein (zum großen Teil mit internationalen Hilfsgeldern) und verteilt sie weiter. Als Gründe für die Versorgungslücken werden mit den Pharma-Herstellern geführte Verhandlungen über „Sonderrabatte“ und – auch hier wieder – Korruption vermutet. Der Global Fond hat wiederholt bemängelt, dass die von der Ukraine bezahlten Preise für HIV-Medikamente vier- bis sechsmal über den sonst üblichen Einkaufspreisen liegen.
Die „Internationale HIV/Aids Alliance in Ukraine“ und das „Ukrainische Netzwerk für Menschen mit HIV“, beides Kooperationspartner der Deutschen AIDS-Hilfe, kritisierten die Versorgungsmissstände nach deren Bekanntwerden. Eine Unterbrechung der antiretroviralen Therapie kann schließlich bedeuten, dass sich der Gesundheitszustand rapide verschlechtert und das Virus gegenüber den Medikamenten resistent wird, sodass die Therapie nicht mehr wirkt. Eine Vertreterin des Gesundheitsministeriums verteidigte die Engpässe mit den Worten, die Gesamtlage habe Vorrang vor dem Schicksal Einzelner, denn die derzeitigen Versorgungslücken seien weniger problematisch, als weiterhin hohe Preise für Medikamente zu zahlen. „Genauso gut könnte man dem Gesundheitsminister sagen, er soll einfach mal für einen Tag nicht atmen“, sagt Dmytro Sherembey, Direktor des Ukrainischen HIV-Netzwerks. „Jeder Mensch weiß, was das heißt: man muss sterben. Genauso verhält es sich bei uns mit den Medikamenten.“
Behörden reagieren auf NGO-Kritik mit Repression
Mitte Januar 2011 wurden die beiden NGOs und andere im HIV-Bereich tätige Organisationen von staatlichen Behörden durchsucht. Aktivisten wurden verhört und Unterlagen beschlagnahmt. Wie das ukrainische HIV-Netzwerk mitteilte, kam die Arbeit im Hauptbüro in Kiew wie auch in allen Niederlassungen in den 24 Verwaltungsbezirken des Landes vollständig zum Erliegen. Man sei nicht mehr in der Lage, für die mehr als 35.000 HIV-betroffenen Erwachsenen und Kinder die zum Teil lebenswichtigen Service-Leistungen bereitzuhalten.
Nach Berichten von Drogenhilfe-Organisationen seien die Polizeibehörden besonders rigoros gegen Drogen Gebrauchende vorgegangen, die an Substitutionsprogrammen teilnehmen: Man habe ihre Personalien erfasst, ihnen den Zutritt zu den Service-Stellen verwehrt und von ihnen verlangt, Auskunft über ihren Gesundheitszustand und eventuelle Vorstrafen zu geben. Vereinzelt seien die Patientinnen und Patienten gezwungen worden, ihren HIV-Status zu offenbaren – ein Vorgehen, das auch in der Ukraine verboten ist. Auch Ärztinnen und Ärzte aus den Service-Stellen habe man bedrängt, vertrauliche Informationen und Unterlagen herauszugeben.
Ideologisch aufgeladener Kampf gegen „westliches Teufelszeug“
In der Ukraine wurde die Substitution erst 2005 eingeführt. Seither steht sie unter dem Dauerbeschuss konservativer Politiker – ungeachtet der breiten Anerkennung, die diese Behandlungsform als wirksames Instrument der HIV-Prävention genießt, und ungeachtet der Erfolge, die sich auch in der Ukraine zeigen. „35% der insgesamt 6.044 Substituierten sind inzwischen erwerbstätig, und 31% haben eine Familie. Seit Einführung der Programme ist außerdem die Rate der HIV-Übertragungen durch Blut gesunken“, führt Kostiantyn Pertsovskyi von der HIV/AIDS Alliance in Ukraine an. „Der Ausbau schadensminimierender Angebote wird durch die Kriminalisierung des Drogenkonsums jedoch weiterhin behindert.“
NGOs wie das Eurasische Harm-Reduction-Netzwerk, das sich für die Rechte von Drogen Gebrauchenden in Osteuropa und Zentralasien einsetzt, vermuten hinter den Repressalien nicht zuletzt auch auf Russland ausgerichtete politische Kräfte, die für den Kampf gegen die als „westliches Teufelszeug“ verunglimpfte Substitution nach Partnern im Nachbarland suchen. Dort nämlich ist die Substitution immer noch verboten. „Derzeit haben Politiker, die eine restriktive Drogenpolitik verfolgen, in der Ukraine großen Einfluss“, sagt Michael Krone, Projektmanager der in Kiew ansässigen Organisation Ruch sa sdorovja („Bewegung für Gesundheit“). „Das ukrainische Gesundheitsministerium bemüht sich derzeit jedoch, an der gesetzlich verankerten Substitutionstherapie festzuhalten.“
Internationale Proteste zeigen erste Erfolge
So unsicher und beängstigend die Situation in der Ukraine derzeit auch ist: Ein weiteres Mal hat sich gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft in ihrem Engagement für die HIV- und Aids-Prävention und für Menschenrechte zusammensteht. So haben zivilgesellschaftliche Akteure mehrerer Ländern inzwischen Protestaktionen gegen die Missstände in der Ukraine gestartet. Das EU-Beratungsgremium “HIV/Aids Civil Society Forum”, dem 40 Netzwerke und Organisationen aus 31 Ländern angehören (darunter auch die Deutsche AIDS-Hilfe), übergab Präsident V. Yanukovich eine Petition. Globale Akteure wie die Vereinten Nationen und deren UNAIDS-Programm forderten die ukrainische Regierung unmissverständlich auf, die Versorgung mit HIV-Medikamenten und die Behandlung mit Substitutionsmitteln unverzüglich wieder sicherzustellen. „Das sind Momente, die uns wie eine große europäische Familie fühlen lassen“, so Hanna Shevchenko vom Ukrainischen Netzwerk für Menschen mit HIV.
Die internationalen Proteste haben bereits einen ersten Erfolg gebracht: Am 22. Februar 2011 forderte der ukrainische Premierminister Mykola Azarov das Gesundheits- und das Innenministerium auf, den Ausbau von Substitutionsprogrammen zu erleichtern.
„Die internationale Gemeinschaft muss weiterhin Druck machen“
Dennoch befürchten die ukrainischen NGOs, der Globale Fond könnte seine für HIV-Medikamente und Substitutionsprogramme bereitgestellten Mittel zurückfahren, sollte die ukrainische Regierung eine reibungslose Versorgung weiterhin behindern. Das hätte katastrophale Folgen für HIV-positive und Drogen gebrauchende Menschen in der Ukraine. Die internationale Gemeinschaft muss deshalb weiterhin Druck auf die ukrainische Regierung ausüben, die Missstände schnellstmöglich zu beheben und dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte eingehalten werden.