Belarus ist ein autoritär regiertes, politisch stark isoliertes Land – und das einzige in Europa, in dem es noch die Todesstrafe gibt. Seine Zivilgesellschaft unterliegt strenger staatlicher Kontrolle. Umso wichtiger ist es, sie durch internationale Kooperation zu unterstützen und ihr Engagement in der HIV/Aids-Prävention zu stärken.
Die Deutsche AIDS-Hilfe arbeitet seit 2010 eng mit dem Belarussischen Aids-Netzwerk zusammen, dem alle im HIV-Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) des Landes angehören. Alle gemeinsamen Projekte werden ausschließlich vom Global Fonds finanziert. Vom 11. bis zum 13. April traf man sich in Berlin zum Erfahrungs- und Wissensaustausch. Mit dabei war Oleg Eryomin, Geschäftsführer des Belarussischen Aids-Netzwerks und Gründer von „Vstrecha“, der einzigen Nichtregierungsorganisation (NGO) Weißrusslands, die sich ausdrücklich in der HIV/Aids-Prävention und Interessenvertretung für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), engagiert. Im Gespräch mit DAH-Mitarbeiter Sergiu Grimalschi berichtet er über die Situation der Zivilgesellschaft in Belarus.
Oleg, wie viele HIV-Positive gibt es derzeit in Belarus?
Nach offiziellen Angaben vom März 2011 leben bei uns etwa 11.900 Menschen mit HIV und Aids. Die inoffiziellen Schätzzahlen sind jedoch zwei- bis dreimal so hoch. Laut offizieller Statistik entfallen zwei bis vier Prozent der HIV-Infektionen auf MSM, das sind rund 1.100 Fälle. Man geht davon aus, dass etwa drei Prozent aller MSM in Belarus HIV-positiv sind. Erschreckend in dieser Gruppe ist der Anstieg der HIV-Neudiagnosen: Hier sind die Zahlen in den letzten Jahren um ein Fünffaches gestiegen. Bei den intravenös Drogen Gebrauchenden, der größten Betroffenengruppe, sinken die Zahlen dagegen.
Auch in Belarus spielen NGOs in der HIV- und Aids-Prävention eine wichtige Rolle. Kannst du in kurzen Zügen den Zustand der Zivilgesellschaft in deinem Land beschreiben?
In ganz Belarus gibt es insgesamt 14 Nichtregierungsorganisationen, die sich explizit in der HIV- und Aids-Prävention engagieren. Zählt man diejenigen dazu, die ausschließlich Rechtsberatung anbieten, sind es 22 NGOs – nicht allzu viele also. Das liegt einerseits daran, dass es in Belarus sehr schwierig ist, eine NGO anzumelden. Ein anderer Grund ist, dass der Global Fonds keine Gelder für den Auf- und Ausbau zivilgesellschaftlicher Akteure bereitstellt. Er finanziert einzig die Arbeit der NGO’s, gibt ihnen aber keine Sachmittel und erlaubt keine zusätzlichen Stellen. Das Hauptproblem ist, dass die Zivilgesellschaft in Belarus – anders als in Deutschland – keinen staatlichen Auftrag für die HIV- und Aids-Prävention hat.
Wer finanziert dann die Personalstellen und die Ausstattung der NGOs?
Die Mittel hierfür kommen von internationalen Akteuren, in erster Linie vom Global Fonds, aber auch über kleinere Programme wie der schwedisch-belarussischen Zusammenarbeit – und irgendwann einmal vielleicht auch über eine Kooperation mit Deutschland. Wir hoffen auch auf eine Unterstützung durch die EU; einen Antrag haben wir bereits eingereicht. Wenn er bewilligt wird, wäre das ein Novum, denn bisher hat es in Belarus noch kein einziges EU-finanziertes Programm gegeben.
Das Geld aus internationalen Töpfen ist allerdings knapp bemessen. Entsprechend niedrig ist deshalb auch die Bezahlung der NGO-Mitarbeiter. Zum Beispiel bekomme ich als Geschäftsführer des nationalen Aids-Netzwerks ca. 200 $ monatlich – der Durchschnittsverdienst in Belarus liegt dagegen bei 500 $. Ich kann auch keine neuen Stellen ausschreiben. Mit dem Geld, das man uns zur Verfügung stellt, müssen wir auskommen – wachsen können wir nicht.
Wie steht es um die Menschen- und Bürgerrechte der von HIV betroffenen Gruppen?
Die Menschen- und Bürgerrechte in Belarus sind eingeschränkt. Zwar gibt es keine Gesetze, die den Sex zwischen Männern unter Strafe stellen, aber die Gesellschaft ist sehr homophob. Die Prostitution wird als Ordnungswidrigkeit geahndet, und wer erwischt wird, muss eine Geldstrafe zahlen. Drogengebrauch ist zwar nicht strafbar, aber der Besitz von Drogen. Faktisch heißt das, dass sich jeder, der Drogen konsumiert, strafbar macht.
An dieser Stelle sollte noch erwähnt werden, dass bei uns jeder Behandlungsbedürftige Zugang zur HIV-Behandlung hat. Finanziert wird sie derzeit noch ausschließlich vom Global Fonds. Aber 2012 muss der belarussische Staat bereits ein Viertel der Behandlungskosten selbst tragen.
Wir haben gehört, dass in Belarus die Zwangsbehandlung eingeführt werden soll. Stimmt das?
Leider ja. Vor kurzem, am 4. April, wurde dem Parlament ein Gesetzesentwurf zu „sozial gefährlichen Krankheiten“ vorgelegt. Diese erste Kammer der Legislative hat das Gesetz ohne Gegenstimme angenommen – keinerlei Veränderungen wurden gefordert. Das Gesetz sieht vor, dass die HIV-Infektion praktisch mit der Tuberkulose gleichgestellt wird. Das bedeutet, dass die antiretrovirale Therapie zwangsverordnet werden soll, wenn jemand sich nicht behandeln lassen will. Das Belarussische Aids-Netzwerk, Positivenorganisationen, die UNO-Vertretung in Belarus und viele andere Organisationen haben auf das Gesetzesvorhaben mit Protestschreiben an Präsident Lukaschenko und an das Parlament reagiert, und wir haben eine Liste mit 17.000 Unterschriften im Präsidialamt abgegeben. Die Chancen, dass wir damit das Gesetz verhindern können, sind allerdings gering.
Das liegt daran, dass die obere staatliche Ebene zivilgesellschaftliche Organisationen nicht als Partner bei der Lösung von Problemen ansieht. Nur die mittlere und untere Ebene der Gesundheitsbehörden sieht ein, dass dieses Gesetz die von HIV und Aids Betroffenen diskriminiert. Präsident Lukaschenko hat übrigens „angeordnet“, dass das Parlament dieses Gesetz unter dem Titel „sozial gefährliche Krankheiten und HIV“ durchzuwinken hat.
Zwangsbehandlung – man kann sich gar nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Was würde das konkret bedeuten?
Nach dem geplanten Gesetz würde das etwa so vor sich gehen: Wenn ich meinem Arzt sage, dass ich mit Sascha Sex hatte, dann ist er verpflichtet, Sascha zu einem HIV-Test vorzuladen. Weigert sich mein Partner, wird die Miliz eingeschaltet, die ihn zum Zwangstest vorführt. Fällt sein Test positiv aus, muss er sich den vom Arzt angeordneten Blutuntersuchungen – also Immunstatus- und Viruslastmessungen – unterziehen. Ist dann irgendwann eine HIV-Therapie angezeigt, verlangt das Gesetz, dass Sascha sich behandeln lässt. Was aber passieren soll, wenn Sascha keine Therapie will, weiß niemand: Das Gesetz sieht in diesem Fall zwar eine Zwangsbehandlung vor, aber es regelt nicht, wie diese dann durchgeführt werden soll.
Was ist die Motivation, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen?
Man will die HIV-Infektion unter Kontrolle bringen – nicht mehr und nicht weniger. Aber die Kosten, die eine Umsetzung dieses Gesetzes mit sich brächte, wären viel zu hoch. Ich denke, dass es in einigen Jahren wieder abgeschafft werden muss: es kann und wird sich nicht bewähren. Selbst die Ärzte sagen, dass das Gesetz lediglich abschrecken, aber nicht wirklich ausgeführt werden soll. Ich jedenfalls habe noch nie erlebt, dass jemand, der ein Infektionsrisiko hatte, nicht zu einem HIV-Test bereit gewesen wäre. Da wird den Menschen ein Widerstand unterstellt, den sie überhaupt nicht leisten. Aber viel schlimmer an dem Gesetz ist, dass es mich als HIV-Positiven zwingt, meine Infektion gegenüber den Behörden offenzulegen.
Das Gesetz ist übrigens gar keine belarussische Erfindung, sondern die exakte Kopie einer kasachischen Regelung. Die Parlamentarier behaupten dagegen, es sei ein Ergebnis des „internationalen“ Austauschs.
Oleg, du hast vorhin erwähnt, dass die Zivilgesellschaft keinen staatlichen Auftrag für die HIV- und Aids-Prävention hat. Für wie groß hältst du die Chance, dass sie diesen Auftrag vielleicht doch noch bekommt?
Nun, hier besteht eine gewisse Chance. Denn immerhin hat es zwischen den auf HIV und Aids spezialisierten NGOs und dem Gesundheits- und Justizministerium bereits strategische Treffen gegeben. Über einen vom Staat erteilten Präventionsauftrag würden wir uns selbstverständlich sehr freuen. Doch genau hier gibt es leider auch Risiken, weil nämlich bereits ein weiteres Gesetz im Anmarsch ist, eines, das die Zivilgesellschaft regeln soll. Es sieht eine Einteilung der NGOs vor, und zwar in staatlich erwünschte Organisationen, die nach dem Muster der ehemaligen sowjetischen Jugend- oder Pionierorganisationen funktionieren, in „gesellschaftlich bedeutsame“ und in „sonstige“ NGOs. Das würde bedeuten, dass viele der heute wichtigen NGOs null Chancen hätten, offiziell mit der HIV- und Aids-Prävention beauftragt zu werden. Bei ihnen dürfte nämlich niemand mitwirken, der sich in irgendeiner Weise strafbar gemacht hat. Das hieße dann beispielsweise: keine Drogenkonsumenten, keine Prostituierten, was völlig abwegig wäre.
Lässt sich dieses Gesetz noch abwenden?
Das Gesetz liegt erst als Entwurf vor. Aber es könnte durchaus sein, dass es angenommen wird. Trotzdem haben wir noch etwas Hoffnung, denn anders als beim HIV-Gesetz ist hier die Mitsprache der Bevölkerung erwünscht. Der Entwurf ist auf der Homepage des Justizministeriums zugänglich, und man kann sich schriftlich dazu äußern.
Noch eine letzte Frage: Was erhoffst du dir von deutsch-belarussischen Kontakten?
Oh, dazu könnte ich jetzt mindestens noch mal so viel sagen wie gerade eben. Ich mache es kurz: Wir befinden uns im gleichen geografischen Raum – zwischen Berlin und Minsk liegen weniger als tausend Kilometer. Deshalb hoffe ich, dass auf beiden Seiten der politische Wille für eine engere Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft vorhanden ist, dass gemeinsame Projekte der HIV- und Aids-Prävention entstehen und dass auch Mittel dafür bereitgestellt werden.
Ich wünsche mir enge und vertrauensvolle Kontakte zwischen Deutschland und den staatlichen Entscheidungsträgern von Belarus. Entscheidend ist, dass sie persönlich mit den staatlichen und zivilgesellschaftlichen Präventionsakteuren in Deutschland ins Gespräch kommen. Wenn sie direkt mit deren Erfahrungen und Expertise konfrontiert werden, werden sie auch erkennen, dass es große Vorteile hat, die von HIV und Aids betroffenen Bevölkerungsgruppen an der Präventionsarbeit zu beteiligen.
Das Problem ist, dass die oberste politische Ebene von Belarus derzeit nicht nach Deutschland und auch in kein anderes EU-Land einreisen darf. Das gilt für Minister und stellvertretende Minister von Verteidigung, Inneres und Justiz – sogar für Richter. Ausgenommen sind lediglich Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums. Das Einreiseverbot ist Teil der Sanktionen, die die EU nach der manipulierten Wiederwahl Lukaschenkos im Dezember 2010 gegen etwa 150 Funktionäre verhängt hat, die für Justizwillkür und die Unterdrückung jeglicher Opposition verantwortlich gemacht werden. Die Sanktionen sind zwar berechtigt. Doch das Einreiseverbot schadet der so dringend nötigen Zusammenarbeit der beiden Länder.
Oleg, ich danke dir für das Gespräch.