Jörg Immendorff – sein Engagement für Erkrankte an Amyotropher Lateralsklerose (ALS)

Bei dem deutschen Maler, Grafiker und Bildhauer Jörg Immendorff (1945-2007) wird im Frühjahr 1998 die chronische Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) festgestellt. Der Künstler, der zum Zeitpunkt dieser Diagnose 53 Jahre alt ist, leidet zu Beginn der Krankheit unter Lähmungen der Gliedmaßen, wobei zuerst seine linke Arbeitshand betroffen ist. Im weiteren Verlauf der Krankheit beeinträchtigen die Lähmungen auch die Atemmuskulatur, sodass Immendorff ab Ende des Jahres 2005 künstlich beatmet wird. Noch in den letzten Lebensjahren arbeitet der Künstler in seinem Atelier, wobei er Assistenten dazu anweist, Bilder nach seinen Ideen anzufertigen. Immendorff hat sich bereits in jungen Jahren innerhalb politischer Verbindungen für die Interessen gesellschaftlich Benachteiligter eingesetzt. Ab Anfang 2004 unterstützt der Künstler durch seine “Immendorff-Initiative” aktiv die Forschung der ALS-Ambulanz der Berliner Charité. Er bleibt mir als engagierter Künstler in Erinnerung, der sich in seinem zentralen Werk, dem Bilderzyklus „Café Deutschland“, intensiv dem Thema der deutsch-deutschen Teilung gewidmet hat.

Das riesige Bild im Kölner Museum Ludwig erscheint düster, es dominieren dunkle bräunliche, grünliche und bläuliche Farbtöne. Ein großer Kegel dämmrigen Lichtes, der sich oben rechts im Bild befindet, bescheint die Szenerie, die sich dem Namen des Gemäldes nach in einem Café abspielt. Zwischen zwei Säulen mittig im Bild sind Helmut Schmidt und Erich Honecker (1912-1994) zu sehen, die jeweils an der Flagge ihres Landes malen. Auf der vorderen Säule, vor der sich eine rechteckige Mauer befindet, zeigt sich ein Porträt des deutschen Malers und Bildhauers A. R. Penck. Rechts neben dieser Säule erscheint ein bärtiger Mann, der seine rechte Hand von hinten durch die Mauer streckt. Es ist der deutsche Maler, Grafiker und Bildhauer Jörg Immendorff (1945-2007), der dieses Gemälde im Jahr 1978 angefertigt hat.

Immendorff ist durch das Bild: „Caffè Grecco“ des italienischen Malers Renato Guttuso aus dem Jahr 1976 zu dem oben beschriebenen Werk inspiriert worden, das den Titel: „Café Deutschland I“ trägt. Es ist das erste Gemälde eines Bilderzyklus, der insgesamt 43 Werke umfasst und den Immendorff im Jahr 1983 vollendet. Mit diesem Bilderzyklus widmet sich der Künstler dem Thema der deutsch-deutschen Teilung samt ihrer Auswirkungen auf Kunst und Gesellschaft. Zu den zentralen Bildmotiven dieser Serie von Gemälden zählt außerdem Immendorffs Freundschaft zu dem Maler und Bildhauer Ralf Winkler, der unter dem Künstlernamen A. R. Penck bekannt ist. Immendorff trifft im Jahr 1976 in Ostberlin erstmals auf Penck und schließt zum 1. Mai 1977 mit ihm ein „Aktionsbündnis“, aus dem gemeinschaftliche Arbeiten unter der Bezeichnung „Kollektiv Immendorff-Penck“ hervorgehen. So zählt Immendorff Mitte der 70er Jahre gemeinsam mit Penck und dem Maler und Bildhauer Markus Lüpertz zum Kreis der „Jungen Wilden“, die eine sehr farbkräftige, expressive Malerei mit trivialen Bildmotiven pflegen. Die Bildmotive, die Immendorff für seine sogenannte „Rote Zelle Kunst“ auswählt, zeigen seine Verbindung zu stark linksgerichteten politischen Zielen und Bewegungen. Der Künstler wird durch seine Bilder mit politischen und zeitgeschichtlichen Inhalten, darunter insbesondere durch den Gemäldezyklus „Café Deutschland“, bekannt. Bereits am Anfang seiner Künstlerkarriere engagiert sich Immendorff in politischen Gruppierungen, dabei unter anderem in der 68er-Studentenbewegung, in der Düsseldorfer Gruppe „Mietersolidarität“ sowie als Mitglied der maoistischen KPD.

Jörg Immendorff wird am 14. Juni 1945 in Bleckede bei Lüneburg als einziges Kind eines Offiziers geboren. Nach seinem Besuch des Ernst-Kalkuhl-Gymnasiums in Bonn-Oberkassel studiert der junge Immendorff in den Jahren 1963 und 1964 das Fach Bühnenkunst an der Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst ist Immendorff Schüler des Bühnenbildners und Malers Teo Otto, bis er später in die Klasse des Objektkünstlers und Zeichners Joseph Beuys (1921-1986) wechselt. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn wendet sich Immendorff von der Malerei ab und verwirklicht ab 1968 gemeinsam mit der deutschen Künstlerin Chris Reinecke das Aktionsprojekt „LIDL“: Diese neodadaistischen öffentlichen Kunstaktionen in Deutschland und im Ausland, die unter anderem mittels Kleinkindersprache provozieren, führen zu einem Verweis Immendorffs von der Kunstakademie. In der Zeit von 1968 bis 1980 ist Immendorff neben seinem Wirken als Maler, Grafiker und Objektkünstler als Kunsterzieher an der Düsseldorfer Dumont-Lindemann-Hauptschule tätig. Anschließend nimmt Immendorff, der inzwischen international als Künstler etabliert ist, mehrere Gastprofessuren an deutschen und ausländischen Akademien wahr. Ab dem Jahr 1996 hat Immendorff eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf inne. Am 28. Mai 2007 verstirbt Immendorff in Düsseldorf an den Folgen seiner Nervenkrankheit.

Im Frühjahr 1998 wird bei Immendorff die schwere Nervenerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Ab Anfang des Jahres 2004 unterstützt der Künstler aktiv die ALS-Forschung an der Berliner Charité: Gemeinsam mit Dr. Thomas Meyer, dem Leiter der ALS-Ambulanz der Berliner Charité, gründet er eine Stiftung, durch die ein Stipendium zur Erforschung der genetischen Voraussetzungen der ALS finanziert wird. Im Mai 2005 ruft Immendorff eine Versteigerung gestifteter Kunstwerke in seinem Düsseldorfer Atelier ins Leben, deren Erlös der weiteren Erforschung der Therapiemöglichkeiten der ALS an der Berliner Charité dient.
Außerdem verwirklicht Immendorff im Jahr 2004 gemeinsam mit dem deutschen Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief (1960-2010) das Theaterprojekt: „Kunst & Gemüse, A. Hipler“ an der Berliner Volksbühne: Dieses Theaterstück thematisiert die Auswirkungen der Nervenkrankheit auf das Alltagsleben, wobei unter anderem die schwer an ALS erkrankte Projektinitiatorin Angela Jansen auf der Bühne zu sehen ist, die offensiv mit der Krankheit lebt.
Bei Immendorff selbst macht sich die Nervenkrankheit durch motorische Lähmungen der Hände und Arme bemerkbar, wobei zuerst die linke Arbeitshand des Künstlers betroffen ist. Später greifen die Lähmungen auch auf die Beine und die Atemmuskulatur über, sodass Immendorff ab Ende des Jahres 2005 künstlich beatmet werden muss. Der Künstler, der wegen seiner Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist, arbeitet noch in den letzten Lebensjahren in seinem Atelier, wobei er Assistenten dazu anweist, Bilder nach seinen Ideen anzufertigen.

Jedes Jahr erkranken etwa ein bis zwei von 100 000 Menschen an der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), die weltweit vorkommt. In Deutschland beläuft sich die Zahl der ALS-Patienten auf etwa 6000, wobei jährlich circa 1500 Deutsche neu an der schweren Nervenkrankheit erkranken. Bei der ALS handelt es sich um eine chronische Erkrankung des motorischen Nervensystems, die zu einem fortschreitenden Verlust von Muskelmasse sowie zur Störung der willkürlichen koordinierten Körperbewegungen führt. Etwa 95 bis 98 Prozent aller ALS-Patienten leiden an der häufigen nichterblichen Form der ALS, deren Ursache bislang nicht geklärt ist. Man geht davon aus, dass die nichterbliche Form der ALS durch viele Faktoren, darunter genetische Voraussetzungen und Umwelteinflüsse, bedingt ist, die miteinander in Wechselwirkung treten. Circa zwei Prozent der ALS-Patienten leiden an einer erblichen Form der Nervenerkrankung: Bei dieser seltenen Form der ALS liegen Veränderungen im menschlichen Erbgut vor, die eine Schädigung bestimmter motorischer Nervenzellen im Großhirn und im Rückenmark hervorrufen. Diese motorischen
Nervenzellen, die auch als Motoneurone bezeichnet werden, sind zur Koordination aller willkürlichen Bewegungen des menschlichen Körpers notwendig. Somit beruht die ALS auf der fortschreitenden Zerstörung dieser Motoneurone, durch die zu Beginn der Erkrankung zunehmend die Funktionsfähigkeit der Extremitäten nachlässt.

Die ALS äußert sich zunächst durch Beeinträchtigungen der Arm- und Beinmuskulatur, die sich durch Krämpfe, Zuckungen, Steife und Schwäche in den Extremitäten bemerkbar machen. Im weiteren Verlauf der Krankheit kommt es zu fortschreitenden Lähmungen der Arme und Beine, wodurch Menschen, die an ALS erkrankt sind, unter erheblichen Einschränkungen ihrer Beweglichkeit leiden. Nach einigen Monaten oder Jahren sind die Betroffenen nicht mehr dazu in der Lage, alltägliche Verrichtungen wie etwa die Körperpflege selbst zu leisten, sodass sie auf die Versorgung durch Angehörige oder professionelles Pflegepersonal angewiesen sind. Bei der Mehrheit der ALS-Patienten kommt es außerdem zu Störungen der Schluckmotorik, die im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit häufig eine künstliche Ernährung der Betroffenen erfordern. Ferner verlieren die Erkrankten durch eine fortschreitende Lähmung der Zungenmotorik zunehmend ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Gleichwohl bleiben bei ALS-Patienten in der Regel die sensible Wahrnehmung sowie die geistig-intellektuellen Fähigkeiten vollständig erhalten. Im weiteren Verlauf führt die ALS zu Lähmungen der Atemmuskulatur, die zu einer Störung der Atemfunktion und somit zum Tod führt, sofern keine künstliche Langzeitbeatmung erfolgt.

Treten Beeinträchtigungen der Muskulatur auf, die sich in Form der oben genannten Beschwerden äußern, so ist es wichtig, einen Arzt aufzusuchen. Die anfänglichen Symptome, die bei der ALS auftreten, sind nicht eindeutig dieser Erkrankung zuzuordnen, sodass eine umfassende Diagnostik durch den Arzt notwendig ist, um einen bestehenden Verdacht auf ALS abzuklären. Bei der ALS handelt es sich um eine nicht heilbare Erkrankung, sodass die verfügbaren Therapiemöglichkeiten darauf abzielen, das Fortschreiten der Krankheit hinauszuzögern und die jeweils vorhandenen Symptome abzuschwächen. In den früheren Stadien der Krankheit können eine physiotherapeutische und logopädische Behandlung den vorhandenen Störungen der Bewegungsabläufe und des Sprechens entgegenwirken. Seit dem Jahr 1995 ist das Medikament Riluzol zur Behandlung der ALS zugelassen, das die Zerstörung der motorischen Nervenzellen verzögert. Unter der Behandlung mit Riluzol kann somit häufig die Lebenszeit des ALS-Patienten um die kurze Zeitspanne von einigen Monaten verlängert werden. Ferner können weitere Symptome der ALS wie zum Beispiel erhöhter Speichelfluss, Muskelkrämpfe oder innere Unruhe medikamentös behandelt werden.

Menschen, die an ALS erkrankt sind, haben eine durchschnittliche Überlebenszeit von drei bis fünf Jahren ab dem Auftreten der ersten Symptome, wobei circa 10 Prozent der Patienten länger als zehn Jahre mit der Krankheit überleben. Bei ALS-Patienten im Endstadium führt die Erkrankung zu einem Verlust der Sprache, der natürlichen Nahrungsaufnahme und aller motorischer Leistungen mit Ausnahme der Augenbewegungen. Manche Betroffene, die fast vollständig gelähmt sind, nutzen computerbasierte elektronische Kommunikationssysteme wie zum Beispiel das „Eyegaze“, bei dem mit den Augen eine Bildschirmtastatur bedient werden kann. Während ALS-Patienten über intakte geistige Fähigkeiten und über ein uneingeschränktes Urteilsvermögen verfügen, verlieren sie durch die Lähmungen zunehmend ihre Autonomie. Aus diesem Grund entscheiden sich weniger als zehn Prozent der an ALS erkrankten Patienten im fortgeschrittenen Stadium für eine künstliche Langzeitbeatmung.

Bei der ALS handelt es sich um eine schwere Erkrankung, die die gesamte Energie der Betroffenen und ihrer Angehörigen beansprucht. Außerdem verlieren Menschen, die an ALS leiden, meist wegen der Krankheit ihre Artikulationsfähigkeit. Aus den genannten Gründen ziehen sich die Betroffenen und ihre Angehörigen meist aus dem sozialen Leben zurück und verfügen nicht über die notwendigen Ressourcen, um in der Öffentlichkeit ihre Interessen zu vertreten. Somit steht die Krankheit weitgehend außerhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmung, wobei ein ausreichendes Budget fehlt, um die Erforschung ihrer Ursachen und die Entwicklung neuer Therapiestrategien zu ermöglichen.

Jörg Immendorff hat mit seiner schweren Krankheit den Weg in die Öffentlichkeit gewagt und hat die Forschung der genetischen Voraussetzungen der ALS an der Berliner Charité aktiv unterstützt. Immendorffs Einsatz für Betroffene der ALS in seinen letzten Lebensjahren rundet sein Profil eines engagierten Künstlers ab, der bereits in jungen Jahren für die Interessen gesellschaftlich Benachteiligter eintritt. So bleibt mir Immendorff als politischer Künstler in Erinnerung, der sich in seinem Bilderzyklus „Café Deutschland“ intensiv dem Thema der deutsch-deutschen Teilung gewidmet hat.

Melanie Geiser, M. A.

Interessieren Sie sich dafür, wie weitere Künstler mit ihren Erkrankungen gelebt haben? Dann freuen Sie sich auf den nachfolgenden Beitrag zu Joseph Beuys (1921-1986) am Montag, den 30. Mai 2011.


Quellen:

  • Charité Campus Virchow-Klinikum – Ambulanz für ALS und andere Motoneuronenerkrankungen – Homepage
    www.als-charite.de/HM/Home/tabid/189/Default.aspx (Abruf: 05/2011).
  • DasErste.de „Rückschau: ALS – die geheimnisvolle Muskel-Erkrankung“
    Sendung W wie Wissen vom 11.05.2005
    www.daserste.de (Abruf: 05/2011).
  • Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. DGM/Schweizerische Ge-sellschaft für Muskelkrankheiten SGMK: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – Eine Information für Patienten und Angehörige (Stand: 11/2009).
  • Fischer, P.: „Renato Guttuso – Caffè Greco“.
    http://kunst.gymszbad.de/portraet/guttuso/guttuso-01.htm
    (Abruf: 05/2011).
  • Forschungsarbeit zur ALS Krankheit
    www.immendorff-stipendium.de/start.html
    (Abruf: 05/2011).
  • Hartmann, P.W.: „Junge Wilde“. In: Das große Kunstlexikon.
    www.beyars.com/de_index.html
    (Abruf: 05/2011).
  • Kaiser, S.: WHO’S WHO. The People-Lexicon: “Jörg Immendorff”
    www.whoswho.de (Abruf: 05/2011).
  • Karcher, E.: “Punk unter Dandys”. Artinvestor 04/2005: 40-46.
  • Korff Stiftung – Homepage
    www.korff-stiftung.de/herzlich-willkommen
    (Abruf: 05/2011).
  • Kunstakademie Düsseldorf – Homepage
    www.kunstakademie-duesseldorf.de/startseite.html (Abruf: 05/2011).
  • Kunst als Gemüse. Theater A.L.S. Krankheit. http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t049 (Abruf: 05/2011).
  • Kunstmarkt Media GmbH & Co. KG – Homepage: „Immendorff, Jörg“
    www.kunstmarkt.com
    (Abruf: 05/2011).
  • Masuhr, K. et al.: Duale Reihe. Neurologie. Thieme, Stuttgart 2007.
  • Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv: „Jörg Immendorff“
    www.munzinger.de (Abruf: 04/2011).
  • Museum Ludwig Köln – Homepage.
    www.museenkoeln.de/museum-ludwig/
    (Abruf: 05/2011).
  • Philippi, S.: Kunst des 20. Jahrhunderts – Museum Ludwig Köln. Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln 1996.
  • Poeck, K. et al.: Neurologie. Springer, Heidelberg 2006.
  • Projektseite der Charité Berlin und Christoph Schlingensief
    www.schlingensief-als.de
    (Abruf: 05/2011).
  • Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin 2007.
  • Riegel, H. P.: Immendorff – Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2010.
  • Schlingensief-Blog.
    www.schlingensief.com/start.php
    (Abruf: 05/2011).
  • Wilmes, U.: Moderne Kunst. Die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart im Überblick. Museum Ludwig, Dumont, Köln 2006.

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