Die Ehre des Hausarztes

Frau Wilbur ist unglücklich. Sie sitzt neben ihrem Bett ihm Stühlchen, schaut auf den Boden und schnieft.
„Guten Morgen!“ sage ich betont fröhlich und strecke ihr meine Hand entgegen. Sie reicht mir ihr Vorderpfötchen welches so schlaff ist wie ein Salatblatt in unserer Kantine kurz vor Betriebsschluss.
„Wie geht es Ihnen?“ frage ich noch betonter und noch höflicher. Als Antwort kriege ich nur einen Schniefer.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Wilbur?“
Sie schaut kurz auf.
„Können Sie gar nicht!“ sagt sie kurz.
„Aha?“
Zurückhaltung. Empathie zeigen. Oder zumindest so tun als ob.
„Das können Sie sich gar nicht vorstellen!“
Oh, hast Du eine Ahnung, was ich mir alles vorstellen kann! Wenn Du wüsstest, was man hier tagtäglich erlebt…
„Was kann ich mir nicht vorstellen, Frau Wilbur?“
„Zweiunddreißig Jahre, Herr Doktor. Und jetzt so etwas. Sie wissen gar nicht, was das bedeutet…“
„Ich weiß nicht, was… was genau bedeutet?“
„Er hat mich enttäuscht!“
Okay, jetzt kommen wir der Sache näher. Eine Frau, die von einem Mann enttäuscht wurde. Da diese Frau auf knapp neunundsiebzig Jahre zurückblicken kann ist anzunehmen, dass der zugehörige Mann ein ähnliches Alter auf dem Buckel hat. Donnerlüttchen!
„Ja, wissen Sie, Frau Wilbur, so etwas kann vorkommen…“
Die Patientin starrt mich an.
„Mein Hausarzt! Zweiunddreißig Jahre lang habe ich ihm vertraut! Und jetzt so etwas!“
Äh… was jetzt?
„Er hat die Lungenentzündung nicht erkannt!“
Moment mal…
„Ich habe ihn am letzten Samstag Abend angerufen, weil ich Fieber hatte. Er ist rausgekommen und hat mich ins Krankenhaus geschickt. Und hier haben Sie mir gesagt, ich hätte eine Lungenentzündung!“
„Das ist richtig, Frau Wilbur. Auf dem Röntgenbild kann man sehen…“
„Und die hat mein Hausarzt nicht erkannt, wissen Sie?“
Äh… Momentmal… jetzt nochmal von vorn…

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