Am 11. Oktober, einen Tag vor Beginn der 13. Europäischen AIDS-Konferenz, trafen sich in Belgrad Aktivisten aus Ländern mit niedriger HIV-Prävalenz, um ein Netzwerk zu gründen. Peter Wiessner war dabei und berichtet:
Welche Relevanz haben die 67 HIV-Positiven in Mazedonien angesichts der Epidemien in Subsahara-Afrika mit Millionen von Betroffenen? Oder 2000 diagnostizierte HIV-Infektionen in Ungarn im Vergleich zum Nachbarland Ukraine mit einer geschätzten Prävalenz, also HIV-Rate, von mehr als einem Prozent in der erwachsenen Bevölkerung, was mehr als 350.000 Infizierten entspricht? Gar keine, könnte man zynisch antworten.
Wenn wir von niedriger HIV-Prävalenz in Zentral- und Südosteuropa sprechen, sind Länder wie Serbien, Slowenien, Mazedonien, Slowakei, Türkei, Kroatien, Montenegro, Bosnien, Kosovo, Albanien, Ungarn, Griechenland und Zypern gemeint. Eine niedrige HIV-Prävalenz ist erfreulich, sollte man meinen. Doch gerade aus diesem Sachverhalt ergeben sich Probleme für die medizinische Versorgung und die Prävention.
Medien, Öffentlichkeit, Politik und Industrie sind auf „Masse“ fixiert
Angesichts der „undramatischen“ Zahlen haben Aktivisten der Region vor allem ein Kommunikationsproblem, denn Medien, Öffentlichkeit, Politik und Industrie sind auf „Masse“ fixiert. Das kann lebensbedrohliche Konsequenzen haben: In Mazedonien ist die Hälfte der 136 Menschen mit HIV, die dort bisher registriert wurden, bereits gestorben. Viele hätten gerettet werden können, ist Dr. Milena Stevanovic überzeugt. Sie ist Ärztin an der Klinik in Skopje, der einzigen Einrichtung im Land, in der HIV-Patienten behandelt werden.
Um hier etwas zu verändern, trafen sich am Vortag der 13. Europäischen AIDS-Konferenz in Belgrad Aktivisten aus den genannten Ländern, um ein Netzwerk mit dem Namen „NeLP“ zu gründen (The Network of Low HIV Prevalence Countries). Die Homepage des Netzwerks mit Profilen der an einer Vernetzung interessierten Länder und vielen nützlichen Informationen zu HIV ist bereits online (http://www.nelp-hiv.org), und seit einem Treffen in Budapest im Juni 2011 hat man fieberhaft an der nun verabschiedeten „Budapester Erklärung“ mit dem Titel „Zentral- und Südosteuropa brauchen mehr positive Aufmerksamkeit!“ gearbeitet http://www.ihivp.org/budapest_declaration.pdf). „Die Epidemie in unserem Land ist von niedriger Prävalenz. Trotzdem kann sie tödlich sein“, heißt es darin.
HIV ist viel zu exotisch und nur ein Randproblem
Das liegt unter anderem am zurückhaltenden Engagement der pharmazeutischen Industrie in diesen Regionen – es zu verstärken, würde sich für sie nicht rechnen. Die bürokratischen Hürden bei der Registrierung der Medikamente sind hoch – über die Höhe der hier zu zahlenden Bestechungsgelder ist kaum etwas bekannt. Bei den staatlichen Behörden sieht es nicht besser aus: Anstatt die Registrierung dringend notwendiger Medikamente zu erleichtern oder – falls dies rechtlich möglich ist – billige Generika zu importieren, wird oft gar nichts unternommen. HIV ist viel zu exotisch und nur ein Randproblem.
Aktivisten berichteten auf dem Treffen, die Regierungen hätten die HIV-Situation in ihrem Land in Stellungnahmen als „sehr gut“ bezeichnet. Danach habe man die Hände in den Schoß gelegt und weitergemacht wie gehabt. Wenn das Geld ausgehe, würden einfach weniger Medikamente eingekauft. Therapien mit teureren HIV-Präparaten der jüngsten Generation seien nur beschränkt verfügbar. Auf Regierungsebene gibt es auch keine länderübergreifenden Initiativen, um gemeinsam die Registrierung und den Vertrieb lebenswichtiger Arzneimittel vornehmen und niedrige Preise aushandeln zu können – in Mazedonien waren HIV-Medikamente bisher nur über Förderprogramme des Globalen Fonds oder über UNICEF erhältlich. Die Einfuhr von Medikamenten aus anderen Quellen ist verboten. Wer als Arzt über Auslandskontakte verfügt und für seine Patienten gespendete Medikamente über die Grenze schmuggelt, kommt mit dem Gesetz in Konflikt.
Zivilgesellschaftliches Engagement hat sich noch kaum entwickelt
Manchmal verweigern sich Regierungen auch Hilfsprogrammen, die zwischen Aktivisten und der Industrie ausgehandelt wurden, wie kürzlich in Rumänien geschehen. Möglicherweise befürchten sie einen Prestigeverlust, wenn sie sich darauf einlassen. Im Sande verlaufen sind ebenso die Initiativen der Bundesregierung zur Senkung der Kosten für Arzneimittel – erinnert sei hier an die sogenannte Bremen-Initiative, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft angekündigt wurde. Da die Bundesregierung auf EU-Ebene derzeit alles daransetzt, die Interessen der Pharmaindustrie zu schützen, dürfte diese Initiative nicht wirklich ernst gemeint gewesen sein.
HIV-Positive der Region eint aber nicht nur der mangelnde Zugang zur Therapie, sondern vor allem auch die Erfahrung von Diskriminierung und Stigmatisierung. Ein zivilgesellschaftliches Engagement, das auf die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensstile zielt, hat sich in diesen Ländern bisher noch kaum entwickelt. Die Inanspruchnahme des HIV-Tests ist entsprechend niedrig. All das trägt dazu bei, dass man über die HIV-Situation in den einzelnen Ländern nur wenig weiß – es könnte durchaus sein, das die HIV-Prävalenz mancherorts um ein Vielfaches höher ist als derzeit dokumentiert.
Auch HIV-Positive aus dieser Region verdienen Aufmerksamkeit!
Das NeLP-Netzwerk will dazu beitragen, dass die Missstände in der Region wahrgenommen werden und entsprechende Taten folgen. In seiner Deklaration benennt NeLP die Schlüsselprobleme der Region, stellt die Ziele des Netzwerks vor und umreißt die Bedarfe und Bedürfnisse der in der Region hauptsächlich betroffenen Gruppen: Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben, Frauen, Drogengebrauchende, Sexarbeiter/innen und ihre Kunden, Gefangene, Migranten und ethnische Minderheiten. Die Deklaration wird während der Konferenz verteilt und kann online unterzeichnet werden. Wir wünschen dem Netzwerk einen guten Start und viele Unterstützer – auch HIV-Positive aus dieser Region verdienen Aufmerksamkeit!