„Morphin?“ Ein fragender Blick durchdringt mich von mehreren Seiten.
„Ist das nicht etwas übertrieben“ und „Aber willst du den nicht später noch nach Hause lassen?“ sind weitere Anmerkungen.
Der Patient, ein offensichtlich stärkst schmerzgeplagter Mann in den Fünfzigern hält sich die Brust und beklagt einen seit einer Stunde bestehenden maximalen atemabhängigen thorakalen
Schmerz links.
„Gib ihm doch einfach etwa Ibu“ ist die nächste Empfehlung und diese ist leider absolut typisch für die derzeit allgegenwärtige Ignoranz vieler in den Notaufnahmen tätigen Kollegen sowohl
aus dem ärztlichen, wie aus dem pflegerischen Bereich. Zudem werden keineswegs Schmerzen überhaupt flächendeckend evaluiert, noch viel seltener re-evaluiert und Oligoanalgesie ist in den
unstrukturierten Notaufnahmen eher die Regel als die Ausnahme.
Mehrere Vorträge auf der diesjährigen DGINA-Jahrestagung, die eigenen oben angeführten Erfahrungen und das Auffinden dieses kleinen australischen Handbuchs
haben mich veranlasst diesen Post zu dem Thema zu verfassen, indem ich die Prinzipien einer qualitativ hochwertigen Notaufnahme-Analgesie aus diesem Werk bezogen auf die deutsche
Notaufnahme-Realität kommentieren werde. Bei iNteresse kan es Sinn machen parallel den verlinkten Originaltext und diesen Thread zu lesen.
#1: Effektive Analgesie benötigt Assesment und Re-Evaluation.
Ich denke es ist weniger entscheidend womit gemessen wird, als dass gemessen wird. Und vor allem dass nach Analgetikagabe erneut kontrolliert wird ob ein Erfolg erzielt worden ist. Noch
mehr als an einer Diagnose sind Patienten an Beschwerdebesserung interessiert und diese müssen wir für sie sichern. Dies muss zeitnah und mit adäquaten Medikamenten für vermutete Diagnosen
erfolgen. Die Realität: lange nicht jede Notaufnahme triagiert überhaupt koordiniert, ein Re-Assesment findet nahezu nirgends statt, in vielen Notaufnahmen sind nicht dauerhaft Ärzte vor Ort (ein
weiteres Pro für einen Facharzt für Notfallmedizin) und die Opiodverwendung in Deutschland liegt bekanntermassn am unteren Ende der Range.
#2: Schmerz ist subjektiv und schliesst unterschiedliche Komponenten ein. Nicht medikamentöse Analgesieunterstützung mittels Immobilisierung, Kühlung, Information, Beruhigung und Ablenkung
ist Key. Hierdurch können gegebenenfalls sogar Analgetika eingespart und Nebenwirkungen vermieden werden. Trotzdem sind Sturzpatienten, die sich vor Schmerzen krümmend auf einen Stationsarzt
warten weiter die Regel, vor alem in den Notaufnahmen ohne eigenes Team.
#3 und 4: siehe #1: die Dokumentation muss die Kontrollen der Schmerzskala enthalten
#5: Dolantin/Pethidin ist out. Vermehrte Nebenwirkungen bei weniger oder gleicher Wirkung wie Morphin und Fentanyl lassen für Pethidin keinen Platz in der Notaufnahme (Stichwort:
Krampfanfälle, toxische Metaboliten, Nierenschädigung). Vielfach besteht beim ärztlichen Personal in Deutschland eine gewisse Furcht vor der i.v. Titration von Morphin oder Fentanyl. Wer einmal
selbst am eigenen Leibe verspürt hat, wie diese Präparate helfen (Eigenerfahrung mit posteriorer Schulterluxation und Tuberkelabriss) wird diese Präparate den geeigneten Patienten nicht mehr
vorenthalten.
#6: Für starken Schmerz (numerische Analogskala > oder =7/10) sind i.v. Opioide Mittel der Wahl, ungeachtet der Ursache bei noch nicht differenziertem Schmerz, es sei denn es liegt eine
klar ersichtliche Erkrankung mit eigenem Behandlungskonzept vor, z.B. Migräne
#7: Paracetamol oder NSARs sind adäquat für nicht starken Schmerz (<7/10) oder als Zugabe bei starkem Schmerz um die Analgesie zu verbessern oder weniger Opioide zu benötigen
#8: Für Patienten mit nicht starkem Schmerz ergibt sich kein Vorteil einer i.v. Medikation gegenüber p.o. Dies gilt selbstverständlich nicht für die Patienten, die eine orale Einnahme nicht
tolerieren, hierfür müssen weiter i.v.- Medikamente vorgehalten werden. Als Erkenntnis dieses Punktes sollte die Praxis jedem i.v. Novalgin oder Paracetamol zu verabreichen dringend überdacht
werden, alleine aus Kostengründen.
#9: Kontraindikationen der gängisten Analgetika und Dosisanpassungen müssen beachtet werden. Meines Erachtens nach reicht ein Pool von 4-5 Medikamenten als Analgesiearsenal für eine
Notaufnahme völlig aus. Dies bringt den Vorteil mit sich mit deren Dosierungen erfahren zu sein und den Überblick über Indikationen und Kontraindikationen zu behalten. Die in Deutschland meist
praktizierte separate Vorhaltung von BtM-pflichtigen Medikamenten räumlich entfernt von den Restmedikamenten trägt m.E. zu der höheren Vergabeschwelle bei. Eine denkbare Alternative wäre die
Ausgabe mehrerer Ampullen in einer kleinen bruchsicheren Box an einen Bevollmächtigten der Pflege und ein Ein- und Austragen zu jedem Schichtwechsel.
#10: Patienten mit vermutetem oder bekanntem Substanzmissbrauch benötigen bei akutem Schmerz trotzdem eine adäquate Therapie, als Ergänzung denke ich ist hier zu erwähnen, dass wenn möglich
bei Ex-Opioidabhängigen, die nicht substituiert werden auf eine Opiatgabe wenn möglich verzichtet werden sollte, allerdings kenne ich hier zugegebenermassen keine unterstützende Literatur.
#11: Die häufig praktizierte Morphin s.c. Gabe ist für die akute Therapie in der Notaufnahme nicht geeignet. Bei akuten Schmerzen sollte eine initiale Titration mit i.v. Morphin erfolgen,
eine Erhaltungsgabe s.c. auf Station ist jedoch gut möglich.
#12: Bei Gabe von Morphin i.v. ist die Inzidenz von Übelkeit/Erbrechen niedrig wenn es in akuter Schmerzsituation gegeben wird, eine routinemässige Antiemetikagabe ist nicht
indiziert.
#13: Ist eine Weiterverschreibung von p.o. Opioiden für zuhause bei entlassfähigem Patienten notwendig sollte lediglich eine Tagesdosis mitgegeben werden (am Wochenende gegebenenfalls zwei)
um eine Wiedervorstellung beim Hausarzt am Folgetag zum Follow-Up sicherzustellen.
#14: Orale Analgetika sind auch für prä-OP Patienten geeignet, solange keine Bedenken bezüglich Atemweg oder Schluckfähigkeit bestehen. Einzige zusätzliche Kontraindikation ist der Ileus
oder der Verdacht auf eine Hohlorganperforation.
Ich denke mit diesen zumeist einfach zu befolgenden Regeln könnte die Erstversorgung akuter Schmerzpatienten in Deutschland wesentlich optimiert werden. Leitliniengerechte Konzepte für
spezifische Krankheitsentitäten können problemlos parallel hierzu existieren (Beispiel: Migräne).
Für die Referenzlinks verweise ich auf die oben verlinkte Seite.