Wie führt man ein gutes Interview? Mit dieser Frage beschäftigen sich zurzeit rund 40 Menschen aus ganz Deutschland, die sich in Wochenendschulungen der Deutschen AIDS-Hilfe auf eine anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet haben oder noch vorbereiten werden: Bis ins nächste Jahr hinein werden sie im Rahmen des Projekts „positive Stimmen“ Menschen mit HIV zu ihren Erfahrungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung befragen. Das Besondere an „positive stimmen“: Die Interviewerinnen und Interviewer sind ebenfalls HIV-positiv und suchen selbst nach möglichen Gesprächspartnerinnen und -partnern.
Einer der „frisch gebackenen“ Interviewer ist der Berliner Dieter Telge. Der 56-Jährige ist seit vielen Jahren in Aidshilfen aktiv, unter anderem moderiert er aktuell einen Gesprächskreis für ältere schwule Männer. Über die eindrücklichen Erfahrungen, die er mit „positive Stimmen“ bereits gemacht hat, sprach er mit Philip Eicker:
Dieter, in einem Wochenendseminar bei der DAH hast du dich mit anderen auf deine Aufgabe als Interviewer vorbereitet. Was habt ihr da gelernt?
Wir haben zum Beispiel Probe-Interviews geführt. Ich habe einen anderen Teilnehmer interviewt und er mich. Dabei haben wir gelernt, dass es wichtig ist, nicht sich selber ins Gespräch einzubringen, sondern das Gegenüber in die Lage zu versetzen, seine eigenen Sichtweisen zu äußern. Deshalb kommt es darauf an, immer offen zu fragen, selbst wenn wir den Eindruck haben, dass das Gesagte nicht stimmig ist. Dann gilt es nachzufragen, aber so vorsichtig und respektvoll, dass mein Gegenüber nicht den Eindruck bekommt, ich wüsste über seine Erfahrungen besser Bescheid.
Alle Sinne aufsperren für das, was andere mitbringen
Ist dir das Interviewen leichtgefallen?
Ich habe schon eine Vorstellung davon mitgebracht, welche Sensibilität dafür nötig sein könnte. Ich bin seit langem in lesben- und schwulenpolitischen Zusammenhängen aktiv wie auch in der Aidshilfe engagiert. Ich war schon immer daran interessiert, diejenigen mit einzubeziehen, die sich eher bedeckt halten, die sogenannten schwer Erreichbaren, zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund. Deshalb habe ich gelernt, alle Sinne aufzusperren für das, was andere mitbringen.
Warum ist es wichtig, dass HIV-Positive die Interviews führen?
Das ist ja nicht in jedem Fall wichtig. Ich persönlich könnte jedem Menschen ein Interview geben. Aber viele andere HIV-Positive, vor allem solche, die Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen gemacht haben, können unsicher sein. Erstens, ob sich das Gespräch überhaupt lohnt, und zweitens, ob die Person, das ganze Verfahren überhaupt vertrauenswürdig ist. Es kommt ja darauf an, dass diese Gespräche durchgehalten werden, dass die Leute sich dabei wohlfühlen, sich nicht abkapseln und bestimmte Dinge vielleicht nicht mehr preisgeben, weil es ihnen unangenehm ist. Das kann gerade in jenen Fällen, wo es um unangenehme Erfahrungen geht, eine wesentliche Voraussetzung sein, um diese Probleme zu dokumentieren. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit Migrationshintergrund die Chance bekommen, von ihresgleichen interviewt zu werden. Dasselbe gilt für Frauen, für Schwule – und ganz allgemein für Positive. Jeder soll sich das Setting heraussuchen können, das ihm am besten entspricht.
Wie kann man das nötige Vertrauen für ein solches Gespräch schaffen?
Indem wir darauf achten, eine angenehme Gesprächssituation vorzubereiten, zum Beispiel den richtigen Ort auswählen. Ein lautes Café, wo viele mithören, ist kein günstiger Treffpunkt. Es sollte ein kleines Getränk geben. Und ganz wichtig: Vorher müssen wir die Rahmenbedingungen klären: Zu Anonymität und Datenschutz der Beteiligten gibt es bei „positive stimmen“ ausführliche Regelungen, die sich Interessierte in Ruhe durchlesen können, bevor sie entschieden, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Zum Beispiel habe ich als Interviewer eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Alle erfragten Daten werden so eingegeben, dass später keine Rückschlüsse auf die Interviewten gezogen werden können.
Du hast anfangs erwähnt, Positive würden sich auch überlegen, ob sich die Teilnahme an so einem Projekt überhaupt lohnt. Was könnte denn dagegen sprechen?
Erst mal nimmt man natürlich an: Positive sind dankbar für die Gelegenheit, ihre Stimme zu erheben. Aber das baut ja stark auf der Annahme auf, dass in der Aidshilfe nur Gutmenschen arbeiten, die schon sehr sensibel sind für Diskriminierung und Stigmatisierung. Die persönlichen Erfahrungen sind leider oft ganz andere. Da müssen wir als Interviewende auch im Einzelfall Überzeugungsarbeit leisten, müssen für das Projekt werben. Aids- und Selbsthilfe ist ja – wie auch die Schwulen- oder Transcommunity – etwas janusköpfig: Auch dort sind fehlbare Menschen aktiv, die nicht davor geschützt sind, andere zu diskriminieren oder zu stigmatisieren. Für solche Fehlentwicklungen müssen wir immer aufmerksam sein und ihnen streitbar entgegentreten. Die „positiven stimmen“ nehme ich als wichtigen Versuch wahr, mehr Sensibilität in den eigenen Reihen zu entwickeln.
Warum?
Weil das Verfahren sehr offen ist, sehr interaktiv. Alle Beteiligten entwickeln das Projekt auf Augenhöhe. Niemand der Projektverantwortlichen hat uns spüren lassen: Wir Schlauen wissen, wie’s geht, und ihr seid nur der Transmissionsriemen in die Communities. Ich habe das selbst ausgetestet und war überrascht, wie offen mit meinen Vorschlägen umgegangen wurde. Diese Erfahrung war sehr wichtig, weil ich so aus voller Überzeugung anderen Leuten vermitteln kann: Diese Sache ist von vorn bis hinten gut und offen für die Bedürfnisse der Menschen, die sich daran beteiligen.
Alle Beteiligten entwickeln das Projekt auf Augenhöhe
Was ist für dich das Ziel der „positiven stimmen”?
Was ich toll finde: Durch das Projekt werden Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten zusammengetragen – nicht nur bezogen auf HIV und Aids. Aber über das Merkmal HIV können sie gebündelt und dokumentiert werden. Mich haben die Umfrageergebnisse aus anderen Ländern und Kontinenten zum Teil sehr erschreckt. Und ich bin sehr gespannt, was in unserem Land zu bilanzieren sein wird. Sollten dabei so erschreckende Erfahrungen zutage treten wie anderswo, dann hat das Projekt schon eine wichtige Aufgabe erfüllt.
Was genau hat dich so erschreckt?
Während der Schulung schilderte eine Interviewerin ihre Erschütterung über einen Bericht ihrer Gesprächspartnerin, einer Frau aus Afrika, die selbst gelernt hatte, ihre heftigen Erfahrungen – notgedrungen – lässig zu nehmen. Zumindest hat sie uns das so präsentiert. Aber die Interviewerin war so angerührt, dass sie anfing zu weinen. Da wurde mir plötzlich klar: Ähnliche Gefühle hatte ich nach meinen eigenen Diskriminierungserlebnissen eigentlich hinter mir lassen wollen, aber ich würde sie nicht loswerden. Es war eine sehr wichtige Erfahrung, sich dessen bewusst zu werden und sich dabei in der Gruppe aufgehoben zu fühlen. Ein solcher Moment kann ja auch später in einem Interview entstehen. Unter Umständen muss ich den Menschen, mit dem ich spreche, in einer ähnlich krisenhaften Gesprächssituation auffangen.
Gibt es da ein wenig Unsicherheit bei dir?
Ja, ich habe ein bisschen Bedenken, dass wir es in den Einzelinterviews schwer haben könnten. Aber mit dem Rüstzeug, das wir mit auf den Weg bekommen haben, werden wir uns dem stellen. Wichtig zu wissen war es für alle Beteiligten, dass beide Seiten – sowohl Interviewende als auch Interviewte – zu jedem Zeitpunkt das Gespräch unterbrechen oder ganz abbrechen können. Ohne Angabe von Gründen. Manchmal geht es einfach nicht mehr. Das muss möglich sein und kann dann auch in weniger wohlgesetzten Worten geschehen.
Hast du dein erstes Interview schon geführt?
Ja, und ich war überrascht, wie nüchtern und souverän ich das Programm runterspulen konnte. (lacht) Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Es war eine sehr angenehme Atmosphäre, auch weil ich die Person gut kenne. Es war ganz gut für den Anfang, mich mit einem einfacheren Interview in Routine zu üben. Die künftigen Gespräche werden nicht immer unter so günstigen Bedingungen stattfinden.
„positive stimmen“ will Menschen mit HIV ein Forum schaffen. Welche positiven Stimmen werden denn deiner Meinung nach noch nicht ausreichend wahrgenommen?
Es ist nicht so, dass einzelne Gruppen gänzlich fehlen. Sie sind aber unterschiedlich laut wahrzunehmen. Nur: Bei einer Gesamtheit, die zumindest hierzulande noch immer zu zwei Dritteln aus schwulen, weißen, deutschen Mittelschichtsmännern besteht, werden zum Beispiel einzelne engagierte Frauen mit HIV nicht so stark wahrgenommen. Dazu kommt: Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Drogenerfahrungen haben vielleicht auch ganz andere Prioritäten in ihrem Leben, als dass sie sich immerzu zum Thema HIV lautstark zu Wort melden könnten. Das bedeutet leider, dass sie unter Umständen viel weniger wahrgenommen werden.
Interview: Philip Eicker
„positive stimmen“ ist Teil eines weltweiten Gemeinschaftsprojekts. 2005 haben vier international tätige Organisationen beschlossen, systematisch zu erheben, wie Menschen mit HIV Stigmatisierung erleben. Beteiligt sind UNAIDS, GNP+ (Globales Netzwerk von Menschen mit HIV), ICW (Internationales Netzwerk für Frauen mit HIV) und IPPF (Internationaler Verband für Familienplanung).
Das Besondere an dieser Studie: Sie wird ausschließlich von Menschen durchgeführt, die mit HIV leben. Seit Beginn der Initiative ist der „PLHIV Stigma Index“ in über 40 Ländern der Welt durchgeführt worden. In den Jahren 2011 und 2012 ermöglicht die Deutsche AIDS-Hilfe die Umsetzung des Projekts in Deutschland.
Mehr Informationen zum Projekt: www.positive-stimmen.de
Wer Interesse hat, sich interviewen zu lassen, kann sich melden unter positive-stimmen@dah.aidshilfe.de