Fünfzehn Jahre ist es her, dass Kirsten Schulz gerade einmal 35-jährig starb. Menschen, die sie in der Lüdenscheider AIDS-Hilfe und dem örtlichen Hospiz-Projekt erlebten, ist sie durch ihr Charisma bis heute in Erinnerung geblieben. Ihre damals erst zwölfjährige Tochter Lisa und ihre Mutter Sigrun haben eigene Wege des Weiter-Lebens für sich gefunden. Von Axel Schock
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an die an Aids verstorbenen Menschen? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich der Blog-Themenschwerpunkt in diesem Monat.
Dass bald der endgültige Abschied kommen würde, hatte Kirsten Schulz offensichtlich sehr genau gespürt. Die kommenden Monate, die ihre letzten werden würden, hatte sie umso mehr geplant. Wie genau, das alles entschlüsselte sich für ihre nächsten Menschen erst im Nachhinein. Zum Beispiel der plötzliche Umzug in ein Haus, in dem bereits viele ihrer Freunde wohnten.
Warum sie ausgerechnet das größte und sonnigste Zimmer zu ihrem Schlafzimmer machte und den kleinsten, unwohnlichsten Raum zum Wohnzimmer. Und erst sehr viel später ergab es auch einen Sinn, warum sie seit ihrem Einzug mitten im Winter ein Sommerkleid an ihre Schranktüre gehängt hatte und es dort in den Folgemonaten hängen ließ. Und auch, dass sie sich noch ihren großen Lebenswunsch erfüllte: eine Reise nach Jamaika.
Abschiednehmen unter Freunden und mit der Familie
Nur kurze Zeit nach ihrer Rückkehr erkrankte Kirsten so sehr, dass ihr im Krankenhaus bald nicht mehr zu helfen war. Die letzten Wochen bis zu ihrem Tod im Juni 1996 verbrachte sie in ihrem Schlafzimmer, in das die Sonne hineinstrahlte, rund um die Uhr im Wechsel betreut von ihrer Mutter Sigrun und den vielen befreundeten Hausbewohnern.
Ihre Tochter, die in dieser Phase der Krankheit kaum mehr sprechen konnte, brachte doch immer wieder ein langgezogenes „Wie schöön!“ über die Lippen angesichts der Fürsorge, die sie erleben konnte.
Weil sie den Weg hinunter in den Garten nicht mehr schaffte, hatten ihr die Freunde den Garten eben in die Wohnung geholt. Eine Seerose aus dem kleinen Teich im Hof schwamm nun in einer Glasschale, schloss abends ihre Blüten und öffnete sie jeden Morgen aufs Neue. Bis zum 23. Juni 1996. An diesem Tag ging die Rose nicht wieder auf. An diesem Tag starb Kirsten. Im Sarg trug sie das Sommerkleid, das sie sich schon Monate zuvor dafür ausgesucht hatte.
Sigrun hat diese letzten Wochen mit ihrer Kamera festgehalten. Das Fotoalbum, ein kleines Buch mit einem Umschlagmotiv von Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“, liegt stets griffbereit neben ihrem Wohnzimmersofa. Dort steht auch ein gerahmtes Bild von Kirsten, davor eine Blume in einer kleinen Vase, eine brennende Kerze. „Es gibt immer wieder Momente, da muss ich in diesem Buch blättern“, sagt Sigrun. Und auch wenn es Bilder eines Abschieds sind, bis hin zu Aufnahmen der Beisetzung und des Grabes, für Sigrun sind es ausnahmslos schöne Bilder. „Sie hat da in ihrem Bett gelegen und Geborgenheit ausgestrahlt. Es hat sich soviel Wunderbares ergeben“, sagt Sigrun.
„Der Friedhof liegt schön nah an der Autobahn, da komme ich schnell weg.“
„Das Allerwichtigste, was uns bleibt: Dass uns ein guter Abschied gelungen ist, so schwierig die Zeiten auch zuvor gewesen sind.“ Kirsten wollte im Waldfriedhof außerhalb Lüdenscheids beigesetzt werden. Ihr flapsige Begründung hat sich Sigrun unauslöschlich eingebrannt: „Der liegt schön nah an der Autobahn, da komme ich schnell weg.“
15 Jahre ist Kirsten nun tot, die Erinnerung aber ist bei Sigrun kaum verblasst. „Manchmal ist alles ganz nah. Dann habe ich ihren Geruch in der Nase, spüre ihren Finger, wie er bis zuletzt meine Hand streichelte.“
Kirsten hatte sich als junge Frau in einen Mann verliebt, durch den sie Kontakt mit der Drogenszene bekam. Zehn Jahre später war nicht nur diese Liaison längst Geschichte, sie hatte sich auch schon lange aus der Sucht befreit.
Inzwischen alleinerziehende Mutter, hatte Kirsten gerade neue berufliche Perspektiven für sich entwickelt, als man ganz überraschend die Krankheit bei ihr diagnostizierte. Als dann auch noch ihr damaliger Freund bei einem Unfall ums Leben kam, wurde sie rückfällig. Es folgte eine schwierige, bisweilen auch schreckliche Zeit, in der sowohl von ihrer Tochter Lisa wie auch von ihrer Mutter Sigrun viel abverlangt wurde.
Den sieben schlimmen Jahren sind inzwischen doppelt so viele gute und aktive Jahre gefolgt
Doch die Familienbande hielten, und Kirsten ließ sich nicht unterkriegen. Sie hatte durch die HIV-Diagnose keineswegs ihren Drang verloren, Dinge ganz pragmatisch anzupacken. Im Laufe der Jahre hat sie nicht nur viel in ihrer Stadt, sondern dabei auch viele Menschen bewegt. Bei ihrer Trauerfeier fanden in der Kapelle längst nicht alle Menschen Platz, die dort von ihr Abschied nehmen wollten. Und nicht allein, dass sie selbst eine treibende Kraft in der Lüdenscheider Aids-Hilfe und bei einem örtlichen Hospizprojekt war, sie spannte auch schnell ihre Mutter mit ein.
„Den sieben schlimmen Jahren sind inzwischen doppelt so viele gute und aktive Jahre gefolgt“, sagte Sigrun Haagen im November beim Jahres-Empfang der Deutschen AIDS-Hilfe, als ihr dort für ihr langjähriges Engagement die Ehrenmitgliedschaft übertragen wurde. Es sind auf ihre Weise erfüllte Jahre, in denen sie vielen Menschen begegnet, viele Freundschaften geschlossen hat, sich vielfältig weiterentwickelt und neu erfahren hat.
Trauer, sagt Sigrun, sei natürlich etwas sehr Schmerzhaftes. Aber: „Trauer erwächst aus Liebe, und deshalb vergeht sie auch nie ganz. Und aus Trauer, die man durchgestanden hat, erwächst auch neue Kraft.” Und davon wollte sie wieder etwas an die Menschen zurückgeben – durch ihre Hospizarbeit, aber auch durch das Angehörigennetzwerk, das sie 1993 mitbegründete und über viele Jahre führend organisierte.
„Omi hat diese Arbeit im Rahmen der Aidshilfe über die langen Jahre hinweg ganz sicherlich sehr geholfen“, sagt Kirstens Tochter Lisa. Sie hat für sich eigene Wege gefunden, um mit dem Verlust umzugehen.
„Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als ich mit 18 oder 19 Jahren Mamis Todestag vergessen hatte und ein richtig schlechtes Gewissen bekam. Mit der Zeit aber habe ich festgestellt, dass es gut so ist und vielleicht sogar im Interesse meiner Mutter“.
Lisa hatte inzwischen eine kürzere Zeit mit ihrer Mutter als ohne sie. „So komisch es vielleicht klingen mag, aber man gewöhnt sich daran.“
Ich bin mir sicher, wir wären ein gutes Team geworden
Die ersten Jahre allerdings seien schrecklich für sie gewesen. „Ich habe jeden Tag an sie gedacht und war ganz verzweifelt, weil ich befürchtete, dass das nie mehr wieder aufhören würde.“ Mit der Zeit ist es weniger geworden, die Erinnerungen sind nicht verblasst, aber der Schmerz wie auch das kindliche Hadern mit dem lieben Gott, der so etwas Ungerechtes zugelassen hat, sind langsam, sehr langsam mehr und mehr verschwunden.
An besonderen Momenten allerdings denkt Lisa immer noch ganz besonders an ihre Mutter: an wichtigen Tagen wie der Führerscheinprüfung, dem Abitur oder wie kürzlich beim Studienabschluss – wichtige Ereignisse, die sie nicht mehr mit ihrer Mutter teilen kann. An solchen Tagen ist sie dann auch traurig darüber, dass sie so jung war, als ihre Mutter starb. Dass sie damals noch zu klein war, um zum Beispiel Humor oder Charakter ihrer Mutter wirklich erkennen und verstehen zu können. „Aber ich bin mir sicher, wir wären ein gutes Team geworden und vielleicht sogar richtig gute Freundinnen“.
Die alles umklammernde und erdrückende Trauer ist mit den Jahren glücklicherweise verschwunden. Kirsten ist in Lisas Leben dennoch jeden Tag präsent. Einige wenige ausgewählte Dinge haben aus der Hinterlassenschaft ihrer Mutter einen festen Platz in Lisas Leben bekommen. Eine selbstgestrickte Jacke etwa, die nun zu Lisas Garderobe gehört oder Kirstens Schmuck, den nun die Tochter trägt.
Zwei besonders schöne und auffällige Ketten legt Lisa so gut wie nie ab. Nein, das belastete sie nicht, sagt sie. Im Gegenteil, sie freue sich darüber, wenn sie auf die Schmuckstücke angesprochen werde und sagen kann: ‚Die habe ich von meiner verstorbenen Mutter geerbt’.
Geerbt hatte Lisa damals auch ein wenig Erspartes, das von der fürsorglichen Großmutter festverzinst aufs Bankkonto gepackt wurde, damit es nicht einfach irgendwann ausgegeben würde, sondern aufgespart bliebe, bis es einmal diesen ganz besonderen Zweck gebe. In diesen Tagen hat Lisa den Sparvertrag aufgelöst.
Wie damals ihre Mutter unternimmt jetzt auch Lisa eine abenteuerliche, lang erwünschte und geplante Fernreise. Statt nach Jamaika wird sie nun für drei Monate durch Laos, Thailand und Kambodscha reisen.
Wie ähnlich sie sich sind, hat Lisa vor einigen Monaten erkennen dürfen, als sie einige Kartons aus dem Nachlass ihrer Mutter durchsehen musste. Seit deren Tod hatten sie unberührt im Keller der Großmutter gestanden.
„Es hat mich zunächst ein wenig davor gegraust, da rangehen zu müssen. Ich habe das all die Jahre vor mir her geschoben.“ Das Erstauen aber kam, als sie die Bücher ihrer Mutter durchschaute: „Unsere Bücherregale waren fast identisch“. Ohne es zu auch nur zu ahnen, hatte Lisa die gleichen Autoren und Werke wie Kirsten gelesen. „Das war eine wirklich schöne Überraschung für mich.“
Weiterer Beiträge in unserer Artikelreihe zum Thema Erinnern und Gedenken:
“Der Tod ist das zweite große Fest im Leben” – Interview mit Matthias Hinz