KISS – das Kurzwort hört sich viel schöner an als die sperrige Langform „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“. Dahinter verbirgt sich ein relativ neues Programm, das Gebraucher/innen legaler und illegaler Drogen helfen soll, ihren Konsum selbst zu kontrollieren und damit ihr Leben zu verbessern. Von Sophie Neuberg.
Das verhaltenstherapeutische Programm KISS richtet sich an Drogengebrauchende und Menschen in Drogenersatztherapie (Substitution), die an ihrem Drogenkonsum etwas ändern wollen, aber nicht abstinent leben können oder wollen. Der Schlüssel dazu heißt „selbstkontrollierter Konsum“.
Dabei geht es darum, den eigenen Drogengebrauch an einem zuvor festgelegten Konsumplan bzw. an Konsumregeln auszurichten. Um sich KISS anzueignen, sind zwölf Einzel- oder Gruppensitzungen vorgesehen, in denen man beispielsweise lernt, ein Konsumtagebuch zu führen, wöchentliche Konsumziele festzulegen oder mit Versuchungen und „Ausrutschern“ umzugehen. Üblicherweise wird zunächst individuell festgelegt, wie viele Tage in der Woche drogenfrei sein sollen, wie viel maximal an Konsumtagen genommen werden soll und wie viel insgesamt in der Woche.
Abstinenz ist kein Muss
Ziel von KISS ist es, den Umgang mit Drogen bewusst zu machen, die Änderungsmotivation zu stärken und Fertigkeiten zu vermitteln, die es dem Einzelnen ermöglichen, den Konsum zu reduzieren oder bestimmte Substanzen ganz abzusetzen. Denn im Gegensatz zu anderen Programmen ist es bei KISS nicht nötig, vollständige Abstinenz anzustreben. Dieses Ziel der klassischen Drogentherapie sei nämlich „in aller Regel unrealistisch“, erklärt Prof. Joachim Körkel, der seit 2005 das KISS-Programm in Deutschland umsetzt.
„Wenn jemand seit Jahrzehnten fünf bis sechs Substanzen konsumiert, kann man von ihm keine Abstinenz erwarten“, so der Psychologe. Es habe bislang an Programmen gefehlt, die auf die Bedürfnisse und Wünsche dieser Menschen zugeschnitten sind. Denn viele wollten auch gar keine Abstinenz anstreben, sondern vielmehr ihren Konsum so senken, dass er nicht ausufert und sie „mit ihrem Leben besser zurechtkommen“.
Bei illegalen Drogen ist Körkel mit diesem Ansatz ein Pionier. Vorher hat er jedoch schon mit einem ähnlichen Programm im Alkoholbereich gearbeitet, das in verschiedenen Ländern erfolgreich eingesetzt wird. Obwohl man oft höre, dass kontrollierter Konsum bei Alkoholabhängigen aufgrund des sogenannten Kontrollverlusts nicht möglich sei, habe er sich in Wirklichkeit als wirksam und erfolgreich erwiesen, so Körkel. Deshalb hält er die grundsätzliche Ablehnung dieses Ansatzes für ein Dogma.
Das Wichtigste ist Respekt und Verzicht auf Vorschriften
KISS schließt alle Arten von legalen und illegalen Suchtmitteln ein und ist somit nah an der Realität der Menschen, da viele Drogenabhängige auch alkoholabhängig sind, Alkohol aber in der Drogenhilfe oft kein Thema ist.
Das Wichtigste für Prof. Körkel ist, respektvoll mit den Menschen umzugehen und ihnen keine Vorschriften zu machen. Jeder Teilnehmer bestimmt selbst im Gespräch mit dem KISS-Trainer, was seine Ziele sind. Es kann sein, dass jemand den Konsum einer oder zweier bestimmter Substanzen auf ein für ihn vernünftiges Maß einschränken oder auch ganz davon loskommen möchte. Es kann aber durchaus auch Aufgabe des Trainers sein, den Klienten auf überhöhte Ziele aufmerksam zu machen.
Konsumgewohnheiten aufbrechen und den Weg zur Abstinenz anbahnen
In den letzten Jahren hat Prof. Körkel mehr als 500 Fachleute in Deutschland, Österreich und der Schweiz geschult, die das KISS-Programm nun im Rahmen der Drogenhilfe anbieten. Und das mit Erfolg: Eine in Frankfurt/Main durchgeführte Studie zeigte, dass die Teilnehmenden ihren Konsum um ca. ein Drittel reduzierten. Auch sechs Monate nach Abschluss der Sitzungen konnte der reduzierte Konsum illegaler Substanzen beibehalten werden. Manche stoppten die Einnahme bestimmter Substanzen ganz. Noch könne man nicht sagen, ob damit eine dauerhafte Abstinenz erreicht wurde, doch zeige sich, dass KISS Konsumgewohnheiten „aufbrechen“ und den Weg zur Abstinenz anbahnen könne, so Körkel.
Marco Jesse, Geschäftsführer des Kölner Drogenhilfevereins Vision e.V., ist einer der von Körkel und seinem Team geschulten KISS-Trainer. Ein besonders wichtiger Aspekt des Programms ist nach seiner Erfahrung, dass es „Druck von den Menschen nimmt“ und ihnen andere Möglichkeiten aufzeige als „schwarz oder weiß“ – das sei eine ganz andere Botschaft. Gerade Ältere, so Jesse, könnten oder wollten oft nicht abstinent sein, sondern wollten ihren Konsum so in den Griff bekommen, dass sie mit ihrem Geld klarkommen und nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Das Besondere an KISS sei, dass der Drogengebrauch der Teilnehmenden weder be- noch verurteilt werde.
KISS hilft Substituierten, Beikonsum gezielt zu reduzieren
Laut Jesse sind die KISS-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer begeistert und möchten nach Ende der zwölf Sitzungen das Konsumtagebuch und die Gruppe beibehalten. Leider kann dies der Drogenhilfeverein im Moment nicht leisten, weshalb Prof. Körkel derzeit an einem Anschlussprogramm arbeitet. Auch ist er mit Krankenkassen im Gespräch, damit diese die Kosten des Programms für Substituierte mit Beikonsum übernehmen. Seiner Ansicht nach wäre es auch im Interesse der Krankenkassen, dieses Programm zu finanzieren statt immer wieder neue Entgiftungstherapien. Die klassische Substitutionstherapie sieht nämlich keinen Beikonsum vor. Dieser ist aber verbreitet, denn „substituiert werden nur Opiate, das heißt Heroin“, erklärt Körkel. Wenn aber jemand mehrere Substanzen einnimmt, könne er nicht einfach auf einmal von allen wegkommen. Deshalb eigne sich das KISS-Programm auch für Substituierte: Es helfe ihnen, ihren Beikonsum gezielt zu reduzieren.
Glücklicherweise ist es für interessierte Drogengebrauchende in Großstädten derzeit nicht schwer, einen Platz in einem KISS-Programm zu bekommen, da es von genügend Drogenhilfe-Einrichtungen kostenlos angeboten wird. Fachleute aus der Drogenhilfe, die sich für KISS interessieren, können sich von Prof. Körkel und seinen Mitarbeitern schulen lassen.
Prof. Körkel ist überzeugt, dass KISS sich für Drogenabhängige eignet, die durch Abstinenzangebote nicht, nicht mehr oder noch nicht erreicht werden können. KISS bietet sich auch als Begleitangebot zur Substitutionsbehandlung an, wenn der Beikonsum ihren Erfolg zu gefährden droht. Die mit dem KISS-Programm erreichte deutliche Reduzierung des Gesamtkonsums ermöglicht es, die soziale Lage der Klient(inn)en zu stabilisieren und ihren Gesundheitszustand zu verbessern, und trägt zugleich zu einem Rückgang der Beschaffungskriminalität und -prostitution bei. Außerdem lassen sich damit auch Kosten für stationäre Entgiftungsbehandlungen einsparen.
Weitere Informationen: www.kiss-heidelberg.de, www.kontrolliertes-trinken.de, www.vision-ev.de