Manni (55) aus Köln ist seit 2003 HIV-positiv. Seit zwei Jahren ist er pensioniert und genießt das Leben in seinem Wohnort Köln und in Berlin, wo sein Freund lebt. Seine HIV-Infektion ist für ihn kein Thema, das er mit Diskriminierung verbindet. Trotzdem hat er sich für „positive stimmen – Leben mit HIV und Stigmatisierung“ befragen lassen – und dadurch neue Denkanstöße bekommen. Sabine Weinmann, die das Projekt der Deutschen AIDS-Hilfe als Beirätin begleitet, ist überzeugt, dass mit den Ergebnissen von „positive stimmen“ künftig wichtige Arbeit zum Abbau HIV-bezogener Stigmatisierung geleistet werden kann. Carmen Vallero sprach mit Manni und Sabine Weimann.
Manni, wie hast du von „positive stimmen“ erfahren, und warum hast du dich interviewen lassen?
Manni: Mich hat ein Freund darauf hingewiesen, und ich fand das Projekt ganz spannend, nicht zuletzt deshalb, weil es auch international durchgeführt wird. Dann ging alles schnell und unkompliziert: Ich habe den Interviewer angerufen, der das in meinem Umkreis macht, und wir haben uns getroffen. Ehrlich gesagt habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht, wie das wohl sein wird, welche Fragen gestellt werden – ich war völlig unvoreingenommen. Es war dann ein sehr angenehmes Gespräch.
Nur angenehm oder noch ein bisschen mehr?
Manni: Ja, da ist schon noch mehr passiert. Allein dreht man sich ja eher im Kreis mit seinen Gedanken. Und hier fand ein Austausch statt. Es macht einen großen Unterschied, mit einem gleichfalls HIV-positiven Menschen zu sprechen. Man bekommt ein direktes Feedback, und das ist auch ein Anstoß, mal in eine andere Richtung zu denken als bisher.
Was meinst du damit?
Manni: Stigmatisierung oder Diskriminierung habe ich im Zusammenhang mit HIV nie erlebt – und ich finde es wichtig, dass bei „positive stimmen“ auch gute Erfahrungen vertreten sind. Ich bin sowohl mit meiner Homosexualität als auch mit der Infektion im Freundeskreis immer offen umgegangen. Meiner Familie gegenüber musste ich mich nicht „offiziell“ als schwul outen, das haben die schon von allein gemerkt. Über meine HIV-Infektion habe ich mit ihnen nicht gesprochen, obwohl ich nicht befürchte, dass das irgendwie problematisch sein könnte.
„…aber es war ein Doppelleben, auf Dauer ist das anstrengend“
An meinem Arbeitsplatz wusste außer dem für uns Beschäftigte zuständigen Arzt niemand, dass ich schwul und HIV-positiv bin. Ich war in einer Institution der Bundesregierung tätig, das ist ein sehr konservatives Umfeld. Ich habe mich darin gut eingerichtet, konnte auch ziemlich gut schauspielern. Es war okay so, aber es war ein Doppelleben, auf Dauer ist das anstrengend. Heute fühle ich mich viel freier. Das ist auch genau der Punkt, an dem ich beim Stichwort „Selbststigmatisierung“ im Interview noch einmal ins Nachdenken gekommen bin. Ich habe mich gefragt, ob ich mich aufgrund der verinnerlichten Stigmatisierung gescheut habe, mich im Job als schwul zu outen – oder ob ich einfach keine blöden Fragen und meine Ruhe wollte.
Was bedeutet für dich „Selbststigmatisierung“?
Manni: Nun, ich glaube, dass das im Alltag von jedem anders erlebt wird. Ist es schon Selbststigmatisierung, wenn ich mich aus Furcht vor Ablehnung nicht traue, mit meinem Freund Hand in Hand zu gehen, oder bin ich einfach nur zu feige? Ich kann das nicht eindeutig beantworten. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen mit Stigmatisierung von außen und mit Selbststigmatisierung. Jeder Fragebogen von „positive stimmen“ enthält daher eine individuelle Geschichte, die keiner anderen gleichen wird.
Was wünschst du dir für die mit HIV lebenden Menschen in Deutschland?
Manni: Ich möchte es mal mit einer anderen Krankheit vergleichen: Wer Diabetes hat, muss daraus kein Geheimnis machen, das wird von allen akzeptiert. Es wäre schön, wenn das auch mit HIV ginge. Ich glaube aber, dass die Gesellschaft dafür noch nicht bereit ist. Klar, es gibt heute Leute, die ihre Infektion öffentlich machen. Sie sind auf Großflächenplakaten zu sehen, sie trauen sich das, und ich bewundere das. Ich wünsche mir, dass es für alle möglich ist, zum Beispiel am Arbeitsplatz von HIV zu sprechen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung glaube, dass das nicht in jedem Umfeld möglich sein wird.
Und was kann aus deiner Sicht „positive stimmen“ dazu beitragen?
Manni: „positive stimmen“ ist sicher auch ein Beitrag auf dem Weg zu mehr Offenheit im Umgang mit HIV. Ich denke, dass die Auswertung der Interviews ein Stimmungsbild ergibt, das der Politik zugänglich gemacht werden sollte. Auch die Aidshilfen müssen sich die Ergebnisse gut anschauen und prüfen, ob der Auftrag, den sie vor 25 Jahren übernommen haben, heute noch derselbe ist. Für Menschen mit HIV ist das Projekt vor allem eine Chance, ihre Situation zu reflektieren, und das finde ich einfach sehr gut.
Sabine, du begleitest „positive stimmen“ als Mitglied im Projektbeirat. Wie wird es nach Abschluss der Interviewphase weitergehen?
Sabine: Da sehr viele Informationen erhoben werden, fangen wir schon jetzt, also noch in der Interviewphase an, Daten der bisher durchgeführten Befragungen in ein elektronisches Datenverarbeitungssystem einzugeben. Dabei handelt es sich um anonymisierte Daten, es wurden ja weder Namen noch Adressen und Ähnliches dokumentiert. Wenn dann Ende März/Anfang April die Interviewphase abgeschlossen ist, werden die Daten von den Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft ausgewertet.
Mal abgesehen von der Datenmenge: Manni sagt, dass jeder Fragebogen eine individuelle Geschichte erzählt. Das ist ja eine ziemliche Herausforderung für die Auswertung…
„Ich wünsche mir, dass sich HIV-Positive mit ihren Erfahrungen nicht alleine fühlen“
Sabine: Ich stimme Manni zu: Jede und jeder hat eine eigene Lebensgeschichte mit HIV. Trotzdem glaube ich, dass manche Erfahrungen von vielen gemacht werden. Durch die Umfrage können wir nun herausfinden, welche das sind. Es könnte beispielsweise herauskommen, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Menschen mit und Menschen ohne Migrationshintergrund oder Älteren und Jüngeren gibt. Auch der Zeitpunkt der Infektion könnte eine Rolle spielen. Ich bin gespannt und neugierig – schließlich ist „positive stimmen“ die erste Erhebung, die so viele Menschen so gezielt zu HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierung befragt.
Was versprichst du dir persönlich von den Ergebnissen?
Sabine: Durch ihre Veröffentlichung verspreche ich mir zuerst einmal, dass sich HIV-Positive mit ihren Erfahrungen nicht alleine fühlen und ihre verinnerlichte Stigmatisierung, also Schuldgefühle oder Selbstvorwürfe abnehmen. Zweitens wünsche ich mir, dass durch dieses von so vielen Menschen getragene Projekt auch in der Gesellschaft das Verständnis für und die Solidarität mit HIV-Positiven wächst.
Wann werden die Auswertungsergebnisse veröffentlicht?
Sabine: Erstmals vorgestellt werden sie im August bei den „Positiven Begegnungen“ in Wolfsburg. Außerdem werden alle Beteiligten die Ergebnisse erhalten, um sie in ihrer Funktion als Multiplikatoren in der Gesellschaft und in ihren sozialen Netzwerken weiterverbreiten zu können – damit möglichst viele Menschen mit und ohne HIV davon erfahren.
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