Dr. Kunze hört (nicht) auf 12

Juni 2009
Herr Gabriel
Herr Gabriel saß auf dem Patientenstuhl als Dr. med. Anselm Kunze sein Sprechzimmer betrat. Noch vor Jahren wäre der Hausarzt in diesem Moment verzagt. Herr Gabriel wäre der Grund für eine kleine morgendliche Krise gewesen. Jetzt war dieser spezielle Patient zu Dr. Kunzes mentaler Übung geworden. Diese Wandlung hatte der Arzt einer Selbsterfahrungsgruppe für Therapeuten zu verdanken.
Nachdem in jüngeren Jahren Dr. Kunze der Gruppe mehrfach sein Leid über bestimmte Patienten geklagt hatte, hatten andere Teilnehmer ihm geraten, jene Patienten, unter denen er zu stark litt, um einen Hausarztwechsel zu bitten. Entweder löste man sich von einem Patienten, der einem über Jahre die Nerven raubte oder man ließ ihn zu einer mentalen Übung werden, hatte der Gruppenleiter ergänzt. Eine Übung für Selbstbeherrschung und Gelassenheit, so der leitende Psychologe. Nur wenige Tage später bat Dr. Kunze zum ersten Mal nach zehn Jahren Praxistätigkeit zwei Patienten, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. Nummer drei auf seiner speziellen Liste war Herr Gabriel gewesen. Aber der durfte bleiben und wurde von diesem Tage an zur psychologischen Übung für Dr. med. Anselm Kunze.
Herr Gabriel war etwas jünger als der Hausarzt und ein Patient der ersten Stunde, in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Dr. Kunze hatte noch keine Stunde in dem frisch tapezierten Sprechzimmer seiner nagelneuen Praxis behandelt, als Herr Gabriel auftauchte und sein siebter Patient wurde – Karteinummer 007. Das war ein Witz, denn Herr Gabriel war nichts weniger als ein durchtrainierter Superagent mit stahlharten Fäusten und ebensolchem Gemüt. Herr Gabriel war krank und brauchte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – einen gelben Schein. Gleich an diesem ersten Tag.
An diesem ersten Tag wusste der frischgebackene Hausarzt allerdings noch nicht, dass dies achtundzwanzig Jahre so bleiben würde. Der Patient ging jetzt auf die Sechzig zu, der Arzt hatte sie überschritten und von dieser ersten Stunde an bis zu diesem Morgen hatte Herr Gabriel keinen vollständigen Tag gearbeitet. Anfang der Neunziger hatte es zwar einen Arbeitsversuch gegeben, in einer Fabrik, als Bote, aber das war nur dreieinhalb Stunden gut gegangen. Herr Gabriels Körper ließ Arbeit einfach nicht zu und kein Arzt fand je eine schlüssige Erklärung dafür.
Im Laufe dieser achtundzwanzig Jahre hatte ihn Dr. Kunze gebeten, ihn überredet, ihm gedroht oder einfach angeordnet, aber nichts hatte gefruchtet. Herr Gabriel konnte nicht arbeiten. Unter der Mithilfe diverser Fachärzte wurde er hier und da operiert, an Bandscheiben, Schultern, Leisten und Kniegelenken. Nichts half auf Dauer. Herr Gabriel wurde nicht arbeitsfähig. Allerdings, und das hielt sich Dr. Kunze zu Gute, der sich manchmal schämte, Hausarzt eines solchen Patienten zu sein, allerdings reichte es für Herrn Gabriel nie für einen positiven Rentenbescheid trotz diverser Anträge. Da leistete der Hausarzt äußersten Widerstand.
Dieser Teilerfolg und der Ratschlag des Seminarleiters aus der Selbsterfahrungsgruppe ließen Herrn Gabriel über all die Jahre Dr. Kunzes Patient bleiben.
Als der Hausarzt an diesem Morgen den Patienten vor sich auf dem Stuhl sitzen sah, fragte er sich, welches Zipperlein, welche Überweisung, welche Einweisung zur Operation heute fällig war. Letztere lehnte Dr. Kunze übrigens seit nunmehr elf Jahren erfolgreich ab. Er wollte nicht Schuld sein an Körperverletzungen, die scheinbar medizinisch legitimiert waren.
Nach achtundzwanzig gemeinsamen Jahren entspann sich folgendes Gespräch, an dessen Ende sich Dr. Kunze fragte, ob er nicht doch noch ein paar Jahre in seiner Praxis weitermachen sollte. Nicht, weil er noch nicht reif für den Ruhestand wäre, sondern weil er doch noch nicht alles in seinem Berufsleben erlebt hatte, wie er gern in leutseligen Gesprächsrunden behauptete. An diesem Tag geschah etwas sensationell Neues.
„Nun, Herr Gabriel, was kann ich heute für Sie tun?“
Das klang nicht genervt, sondern vollkommen neutral, geradezu entspannt und nicht nur das, Dr. Kunze empfand auch so. Er war stolz auf sich.
„Ja, ich weiß auch nicht so genau.“
„Hhm.“
„Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll, es…“
Das war in den letzten Jahren gern der Auftakt zu einer ganz neuen Krankheit. Sehr wahrscheinlich war ein ganz neuer Abschnitt des Körpers betroffen. Wie damals, als nach vier Jahren Kniebeschwerden plötzlich ein Leistenbruch aufgetreten war, der sich zweieinhalb Jahre als Ursache der Arbeitsunfähigkeit hielt, um wieder vom Knie abgelöst zu werden, allerdings diesmal vom rechten.
„Hhm.“
„…es ist so anders, so neu…“
Dr. Kunze hatte es gewusst, eine neue Krankheit.
„Hhm.“
„Ich dachte…“
„Hhm.“
„Ich dachte, ich versuche es mal…“
…mit dem Herzen oder der Leber, ergänzte Dr. Kunze in Gedanken. Dies waren nämlich zwei Organe, die in den ganzen Jahren unberührt geblieben waren. In den Nieren waren angeblich Steine gewesen, seine Lungen von Asbest verseucht, im Kopf war wiederholt ein Tumor gewachsen. Arzt und Patient hatten sich phasenweise auf psychische Ursachen geeinigt, dann wieder war der Bewegungsapparat marode oder die Haut von allergischen Symptomen geplagt. Also versucht er es diesmal mit dem Herzen oder der Leber, dachte Dr. med. Anselm Kunze. Nur dass Patient Gabriel das so offensichtlich ankündigte, das war neu. Er hielt sonst gern auf Etikette, was seine Krankheiten und seine Arbeitsunfähigkeit betraf und hätte nie zugegeben, sich mit einer Krankheit vorm Arbeiten zu drücken.
„Ich habe mir halt gedacht, ich versuche es mal…Ich versuche es mal…“
Seit wann hatte Herr Gabriel solche Schwierigkeiten.
„Hhm.“
Dr. Kunze wartete weiter ab. Da platzte es aus dem Patienten heraus.
„Ich wollte es halt mal mit Arbeit versuchen.“
Im Sprechzimmer herrschte die Stille nach dem Schuss. Dr. Kunze ließ sich mit all seinem Gewicht in die Rückenlehne seines Schreibtischstuhls fallen.
„Nein!“ entfuhr es ihm.
Er hatte schon viel erlebt. Eigentlich hatte er angenommen, er hatte alles erlebt, alles, was einem Hausarzt in seiner Praxis widerfahren konnte. Er war perplex. Angezählt wie ein Boxer im Ring, den ein unerwarteter Kinnhaken getroffen hatte.
„Nein!“ wiederholte er.
Der Patient erhob sich, während Dr. Kunze noch durch den Ring taumelte. Patient Gabriel stand in der offenen Tür und sprach:
„Nun, gut, wenn Sie meinen. Dann sage ich das dem Herrn von der Arbeitsvermittlung. Sie bleiben also bei Ihrem Nein, Herr Doktor?“
Der Arzt schwieg und Herr Gabriel zögerte. Schließlich schloss er die Tür hinter sich. Er schüttelte den Kopf. Dr. Kunze erschien ihm nicht vollkommen gesund, er wirkte blass.

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