Dossier HIV & Strafrecht | Erst Zuneigung, dann Anzeige

Hände in Handschellen

Das Strafrecht schadet der Prävention (Foto: Rilke/pixelio.de)

Immer wieder müssen sich Menschen mit HIV vor Gericht verantworten, weil sie für eine HIV-Übertragung verantwortlich sein sollen. Doch die Anwendung des Strafrechts auf dieses komplexe Geschehen und die eindeutige Schuldzuweisung an HIV-Positive sind problematisch, findet die Deutsche AIDS-Hilfe

Muss sich ein HIV-positiver Mensch outen, wenn er Sex haben will? Juristisch ist die Frage eindeutig zu beantworten: Er sollte es tun, sonst kann er im Gefängnis landen. Auch in Deutschland werden regelmäßig Personen angeklagt, weil ein ehemaliger Lebens- oder Sexualpartner sie für eine HIV-Infektion verantwortlich macht. Solche Prozesse sind bei uns zwar sehr viel seltener als in anderen europäischen Ländern, aber sie enden meist mit der Verurteilung des Angeklagten.

Prominentestes Beispiel ist das Urteil gegen die frühere No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa vom August 2010. Es lautete: zwei Jahre auf Bewährung plus 300 Stunden gemeinnützige Arbeit. Die demonstrative Verhaftung der jungen Künstlerin vor einem Konzert, die üppigen Schlagzeilen im Verlauf des Verfahrens beweisen: Wer HIV-positiv ist, steht unter Verdacht und gilt meist von vornherein als „unverantwortlich“ oder „schuldig“.

HIV vor Gericht: Ursache ist meist eine zerbrochene Beziehung

Wie bei Nadja Benaissa steht am Anfang eines solchen Verfahrens meist eine gescheiterte Liebesbeziehung mit ihren seelischen Verletzungen: Der später infizierte Partner fühlt sich hintergangen und versucht, seine(n) Ex mit juristischen Mitteln zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist allerdings, wie immer, wenn etwas so Intimes wie Sex vor Gericht verhandelt wird, für beide Seiten belastend. Und für die HIV-Prävention ist die Anwendung des Strafrechts sogar schädlich, sagt (nicht nur) die Deutsche AIDS-Hilfe:

Wer HIV-positiv ist, gilt meist als „unverantwortlich“ oder „schuldig“

Solche Gerichtsverfahren vermitteln den Menschen, dass allein die HIV-Positiven für den Schutz zuständig sind. Die erfolgreiche Prävention in Deutschland beruht aber auf dem Grundprinzip, dass jeder Mensch sich selbst schützen kann, wenn man ihm die Möglichkeit dazu eröffnet. Außerdem können solche Verfahren dazu führen, dass HIV-Positive sich nicht trauen, ihre Infektion sowie den Schutz vor einer Übertragung zu thematisieren. Und da nur bestraft wird, wer von seiner Infektion weiß, kann die Kriminalisierung auch Menschen vom HIV-Test abhalten. Das ist fatal, denn HIV-Infektionen werden unter anderem dann effektiv verhindert, wenn möglichst viele Menschen von ihrer Infektion wissen und sich behandeln lassen.

Gerichtsurteile verhindern keine HIV-Übertragungen

In den vergangenen Wochen haben wir im d@h_blog bereits eine Reihe von Beiträgen von Bernd Aretz veröffentlicht. Sie blicken gewissermaßen hinter die Kulissen der Grundsatzdebatte um Recht, Moral und Verantwortung – und zeigen eindrücklich, wie sich diese Kriminalisierung von Menschen mit HIV auswirkt (den letzten dieser Texte mit Links zu den anderen Beiträgen finden Sie hier).

Anlässlich des dritten Jahrestags der medienwirksamen Verhaftung der Sängerin Nadja Benaissa, der ungeschützter Sex trotz Wissen um ihre HIV-Infektion vorgeworfen wurde, veröffentlichen wir ab heute weitere Texte zu diesem Thema, das wir im Dossier „HIV und Strafrecht“ zusammenfassen. Alle Beiträge verbindet dabei die Haltung: HIV-Prävention kann nur erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten ihre Verantwortung für den Schutz vor HIV-Übertragungen wahrnehmen. Das Strafrecht darf nicht angewendet werden, wenn es zu einer Ansteckung oder gar nur einem Infektionsrisiko gekommen ist – Strafrecht verhindert keine Übertragungen, schadet aber der Prävention, den Menschen mit HIV und auch den Ungetesteten oder HIV-Negativen.

Zum Einstieg in unser Dossier empfehlen wir eine zum Teil auf Video festgehaltene Podiumsdiskussion anlässlich des 25. Jubiläums der Lübecker AIDS-Hilfe im Oktober 2011.

Das Strafrecht schadet der Prävention

Der erste Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, warum ausgerechnet HIV – im Unterschied zu anderen Infektionskrankheiten – regelmäßig zum Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen wird. Ein Grund dafür könnte sein, dass Aids moralisch „aufgeladen“ wurde und als Sinnbild für die Ängste der Gesellschaft diente, die der Krankheit zunächst hilflos gegenüberstand – Einsichten, die Susan Sontag bereits zu Beginn der Aids-Krise in den 1980er Jahren formuliert hat.

Am 12.04. stellen wir die „Beziehungsfrage“: Ein Bericht über Menschen, bei denen nach einer HIV-Infektion aus Zuneigung bittere Abneigung wurde, soll klären, wie es zu den Zerwürfnissen kam – und was den Ausschlag für eine Strafanzeige gab.

In einem weiteren Beitrag erklärt Paartherapeut Thomas Symalla, warum auch verliebte Menschen an der Aufgabe scheitern, offen über mögliche Infektionsrisiken beim Sex zu sprechen. Zugleich gibt er Tipps, wie sie das sensible Thema angehen sollten.

Am 13.04. bringen wir ein Interview von Bernd Aretz mit Dr. Dr. Stefan Nagel. Über HIV, Verantwortung und strafrechtliche Zuschreibungen. Der Mediziner, Germanist und Philosoph ist als Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie als Psychoanalytiker tätig. Beruflich hat er sich seit Beginn der Epidemie mit den Auswirkungen von HIV und Aids auf Lebensläufe auseinandersetzen müssen.

Zum Abschluss des Dossiers am 14.04. beleuchtet Rechtsanwalt Jacob Hösl die juristischen Argumente, die seit dem wegweisenden Urteil des Bundesgerichtshofs 1988 immer wieder zu HIV-Prozessen führen. Der Kölner Jurist kritisiert diese „Sonderrechtsprechung“, da sie allein für die Krankheit HIV gelte.

Alle Beiträge des Dossiers verbindet die Überzeugung, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel ist, um die komplexen Umstände von HIV-Übertragungen angemessen zu beurteilen. Denn grundsätzlich gilt: Bei einvernehmlichem Sex sind alle Partner gleichermaßen für den Schutz vor HIV verantwortlich.

Harte Strafen haben keine abschreckende Wirkung

Die strafrechtliche Verfolgung von HIV-Infektionen nährt dagegen die gefährliche Illusion, harte Gerichtsurteile könnten Neuinfektionen verhindern. Das ist jedoch nicht der Fall. Ein Abschreckungseffekt – ein Ziel des Strafrechts – ist in keinem Land festzustellen. Auch dort nicht, wo es wie in Schweden spezielle Gesetze gibt, die Positive dazu verpflichten, die Infektion ihren Partnern gegenüber offenzulegen.

Ob es zu mehr Übertragungen kommt oder ob ihre Zahl sinkt, hängt von anderen Faktoren ab: von der medizinischen Versorgung der Menschen, die mit HIV leben, davon, ob Minderheiten wie Sexarbeiter oder Schwule fair behandelt werden, und nicht zuletzt davon, ob die Gesellschaft die Lebenswirklichkeiten der von HIV besonders Bedrohten und Betroffenen akzeptiert und die nötigen Mittel für die Prävention bereitstellt.

Philip Eicker

Zum Weiterlesen:

Aktuelle Beiträge (in englischer Sprache) zur Debatte über die strafrechtliche Verfolgung von HIV-Infektionen finden sich

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