Dr. Dr. Stefan Nagel studierte Medizin, Germanistik und Philosophie und ist als Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie als Psychoanalytiker tätig. Beruflich hat er sich seit Beginn der Epidemie mit den Auswirkungen von HIV und Aids auf Lebensläufe auseinandersetzen müssen. Den Aidshilfen steht er seit vielen Jahren beratend zur eite, besonders bei ethischen Fragen. Bernd Aretz sprach mit ihm über HIV, Verantwortung und strafrechtliche Zuschreibungen.
Herr Nagel, in den letzten 25 Jahren gab es immer wieder strafrechtliche Verurteilungen HIV-infizierter Menschen, weil sie billigend in Kauf genommen haben sollen, andere beim Sex einer HIV-Infektion auszusetzen. Weil sie um ihre Infektion wissen, so das Argument, komme ihnen eine besondere Verantwortung zu.
Diese gängige und intuitiv vermeintlich naheliegende Vorstellung, es gäbe eine sich selbst generierende oder begründende Verschiedenheit in der Verantwortlichkeit von HIV-Positiven und HIV-Negativen, ist falsch. Seit etwa 1982, als die Aidsära begann, gibt es nur die höchst „leidige“ Verantwortung aller Menschen, die Sexualität leben wollen. Denn seither gilt, dass zu der Verantwortung, die man bei der Ausübung von Sexualität ohnehin wahrzunehmen hat, noch jene für eine mögliche HIV-Übertragung hinzugekommen ist. Damit wurde das Sexualleben in dramatischer Weise modifiziert.
HIV-Positive und HIV-Negative tragen in exakt demselben Umfang Verantwortung
Als mündiger Mensch ist man ständig und immer für seine Handlungen verantwortlich. Davon gibt es unter ethischen Gesichtspunkten keine oder allenfalls wenige eng zu definierende Ausnahmen. Aber genau deshalb gibt es eben auch keinen Unterschied zwischen HIV-positiven und HIV-negativen Menschen. Beide tragen in exakt demselben Umfang Verantwortung für das, was sie tun. Ausnahmen bestehen folglich nur dort, wo jemand seine Verantwortung aus nicht selbst verschuldeten Gründen nicht wahrnehmen kann, z. B. bei Unmündigkeit oder geistiger Behinderung.
Heißt das, dass jemand, der betrunken ist oder unter dem Einfluss anderer Drogen steht, sich nicht auf eine besondere Schutzbedürftigkeit berufen kann?
Wer seine Hemmschwellen wissentlich und willentlich heruntersetzt, hat diesen Zustand schließlich eigenverantwortlich herbeigeführt. Daher gibt es für mich unter solchen Umständen keinen Anspruch auf eine grundsätzlich besondere Schutzwürdigkeit, denn dann müsste man ja nur eine entsprechende Menge Alkohol zu sich nehmen, um aller Verantwortung ledig zu sein. Natürlich empfiehlt es sich auf einer handlungspraktischen Ebene trotzdem, solche Menschen zu schützen, aber ein moralischer oder ein Rechtsanspruch kann daraus nach meiner Auffassung nicht abgeleitet werden, obwohl die Frage der Zurechnungsfähigkeit unter Drogen in der deutschen Rechtsprechung oft anders gehandhabt wird.
Viele HIV-Positive sehen das für sich anders und nehmen die Last der Infektionsvermeidung allein auf ihre Schultern.
Daran will sie auch niemand hindern! Die Frage ist nicht, ob sie das tun, sondern ob es ihnen von außen als moralische oder gar rechtliche Verpflichtung in einem größeren Umfang als einem HIV-Negativen zugeschrieben werden darf. Verantwortung resultiert im Falle einer möglichen HIV-Übertragung gerade deshalb nicht aus einem bestimmten Serostatus – also aus einer empirisch-biologischen Gegebenheit –, weil nicht dieser als solcher für eine Übertragung sorgt. Eine HIV-Übertragung erfolgt nämlich nur im Rahmen von eng umschriebenen Handlungen, vorwiegend sexuellen oder anderen möglichen Schleimhaut- und/oder Blutkontakten. Das Zustandekommen solcher Handlungen wird aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht ausschließlich und zwingend von einem HIV-Positiven bewirkt. Vielmehr sind unter den gängigen Umständen zwei oder mehr Personen daran beteiligt, die im Hinblick auf ihr Handeln verantwortungsfähig sind und die entsprechenden Risiken kennen (zumindest in unserem kulturellen Umfeld).
Verantwortung resultiert nicht aus einem bestimmten Serostatus
Verantwortung ist daher etwas, das man für sein – eventuell risikoreiches – Handeln zu übernehmen hat und nicht aufgrund seines Serostatus, also nicht wegen etwas, das einem durch einen bestimmten biologischen Faktor zufällt. Folglich gibt es keinen Unterschied in der Verantwortlichkeit von HIV-Positiven und HIV-Negativen, wenn sie denn Handlungen vollziehen, die das Risiko einer HIV-Übertragung mit sich bringen.
Die juristische Praxis geht davon aus, der Infizierte schulde entweder Schutz oder eine Information über seinen Serostatus.
Warum sollte er? Wenn man eine solche Forderung erhebt, muss man sie sehr gut begründen können. Hier klingen eine Reihe unsinniger Vorannahmen durch: zum einen die Unterstellung, ein Mensch ohne ein positives Testergebnis sei frei von HIV, zum anderen, dass sich HIV-Infektionen nur im Kontakt mit Menschen ereignen, die um ihren HIV-positiven Status wissen, was unsinnig ist und den empirischen Daten widerspricht. Denn tatsächlich ereignet sich die Mehrzahl der Infektionen in sexuellen Begegnungen, in denen alle Beteiligten nicht wissen, ob bzw. dass sie HIV-infiziert sind.
Als präventiver Handlungsmaßstab ist daher bei jeder sexuellen Begegnung davon auszugehen, dass das Gegenüber infiziert sein kann. Es ist schließlich immer möglich, dass der andere es gar nicht weiß, so wie ich es womöglich von mir nicht weiß – von möglichen Lügen ganz zu schweigen. Dem Kenntnisstand des wissentlich HIV-Infizierten entspräche außerdem der Kenntnisstand des aktuell nicht positiv Getesteten, dass die Sexualität, die er in der Vergangenheit gelebt hat, eine mögliche HIV-Infektion in der Regel nicht sicher ausschließt und möglicherweise sogar mit einer höheren Infektiosität einhergeht, als sie der bekanntermaßen und entsprechend medizinisch behandelte Positive hat.
Bei jeder sexuellen Begegnung gilt: Das Gegenüber oder man selbst könnte infiziert sein
Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass auf der einen Seite alle Beteiligten die gleiche Verantwortung und sicherlich eine präventive Aufgabe im Sinne von Selbstschutz und Schutz des anderen haben. Zugleich muss es aber auch eine Freiheit selbstbestimmten Handelns geben, die sich nicht ausschließlich an gesundheitlichen Prämissen orientiert und die nicht schon gleichbedeutend mit Schuld ist, schon gar nicht im strafrechtlichen Sinne.
Bedeutet das, dass der HIV-Positive, ohne darüber zu reden, das Angebot ungeschützten Sexes annehmen darf?
Wenn nicht gesprochen wird, bewegen sich alle Beteiligten im Bereich der Vermutungen über den oder die jeweils anderen. Und jeder, der unsafen Sex praktiziert, sollte, wie gesagt, davon ausgehen, dass er selbst und der andere infiziert sein können. Es gibt doch keinen Streit darüber, dass – wie auch immer kommunizierten – Schutzwünschen, zum Beispiel in Form eines stillschweigend, aber sichtbar bereitgelegten Kondoms, zu entsprechen ist. Im Falle eines unsafen Kontaktes jedoch lassen sich unter den gängigen Umständen immer beide auf dieses Risiko ein. Der vermeintlich oder tatsächlich HIV-Negative ist doch anwesend und weiß, dass kein Kondom oder eine andere Sicherheitsmaßnahme angewendet wurde. Er trifft die Entscheidung zu unsafem Verhalten also implizit und explizit immer mit, und zwar ganz unabhängig davon, ob vorher über den Serostatus gesprochen wurde oder nicht. Wenn nicht darüber gesprochen wurde, hätte er damit allein schon aus Selbstschutzgründen ein besonderes Interesse an Sicherheitsmaßnahmen. Wieso sollte er also für die Folgen eines riskanten Verhaltens gerade keine Verantwortung haben, sondern nur der wissentlich Positive? Und wieso sollte der Positive mehr als der HIV-Negative verpflichtet sein, seinen Status zu thematisieren?
Die Thematisierung des HIV-Status ist oft gar nicht hilfreich
Und was ist, wenn der andere sagt, er wisse seinen Status nicht oder sei negativ? Auch und gerade dann wären Safer-Sex-Maßnahmen erforderlich, denn dann ist die Situation besonders risikoreich.* Die Thematisierung des Serostatus ist also gar nicht wirklich hilfreich bei einer Entscheidung für ein Kondom. Wenn allerdings zwei HIV-Positive oder ein HIV-Negativer und ein erfolgreich behandelter HIV-Positiver bereit sind, auf das Kondom zu verzichten, ist das anders. Dann kann der Serostatus einschließlich des Behandlungsstatus als Entscheidungshilfe dienen – das heißt hier, sie können sich gegen ein Kondom entscheiden.**
Gilt dies auch bei großen Alters- oder Erfahrungsunterschieden oder in Beziehungen wie der Ehe? Hier gehen die Juristen von einer besonderen Fürsorgepflicht für den anderen aus, also einer Garantenpflicht, wie sie etwa der Arbeitgeber gegenüber dem minderjährigen Auszubildenden hat. Roger Staub, der Leiter der Sektion AIDS beim Schweizer Bundesamt für Gesundheit, postuliert für Beziehungen eine Offenbarungs- oder Schutzpflicht.
Diese besondere Fürsorgepflicht, wenn wir sie denn überhaupt postulieren wollen, bedeutet ja nicht, dass der vermeintlich oder tatsächlich HIV-negative Partner keine Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit mehr hat. Und ob die Fürsorgepflicht tatsächlich so weit gehen kann, die jeweiligen Partner von einer eigenen Entscheidung über risikohaftes Sexualverhalten zu entbinden – das wäre schließlich die Konsequenz einer derart definierten Fürsorgepflicht –, wage ich zu bezweifeln.
Auch eine Begegnung im Darkroom ist eine Beziehung
Versprechen und Vertrauensbeziehungen zu brechen, bleibt allerdings ein moralisches Problem, wenn auch eines, das letztlich wenig mit der HIV-Infektion zu tun hat. Das Lügen in Beziehungen wird durch die genannte Fürsorgepflicht, so fürchte ich, eher gefördert als verhindert und schafft Relationen, die einer emanzipierten Beziehung nicht entsprechen. Außerdem sorgt es für den Fortbestand illusionärer Verkennungen über den tatsächlichen Stand von Beziehungen. Wenn ich meinem Partner so blind vertraue, dass ich sexuelle Außenkontakte und damit Risiken für völlig unmöglich halte, bin ich für die Aufrechterhaltung einer solchen Illusion durchaus auch selbst verantwortlich. Eine Ausnahme sehe ich allerdings in absichtlichen Lügen. Hierbei wird in der Tat die für eine stabile Beziehung unabdingbare Vertrauensbasis unterminiert.
Die Grenze für eine solche Fürsorgepflicht verläuft übrigens nicht entlang der Dauer oder des formalen Status („Ehe“) von Beziehungen, sondern hat etwas mit ihrer Qualität zu tun. Insofern gibt es eine Fürsorgepflicht und damit Verantwortung, sich selbst und den anderen nicht zu schädigen, grundsätzlich in jeder von positiven Empfindungen getragenen Beziehung – selbst in einer kurzfristigen im Darkroom –, ansonsten würden solche Beziehungen in sich unsinnig. Dies entbindet aber eben keinen der Beteiligten von seiner Verantwortlichkeit für Risikokontakte, nicht den HIV-Positiven, aber auch nicht den HIV-Negativen. Wieso sollte dieser keine Fürsorgepflicht haben?
Es handelt sich also nur um die Frage nach der Art der Beziehung. Bei einer beidseits selbstbestimmten sexuellen oder sonstigen Beziehung kann es keine ungleich verteilte Verantwortlichkeit geben. Es geht folglich ausschließlich um die Frage, ob es sich um selbstbestimmte Sexualität oder aber um Gewalt handelt, die im sexuellen Kleide daherkommt. Dann jedoch ist das Verwerfliche und Gefährliche die Gewalt. Dies mit Gefahr durch Sexualität als solcher gleichzusetzen und diese dann zu diskreditieren, verfehlt das Problem.
Das Strafrecht nimmt für sich in Anspruch, eine ethische Haltung zu verdeutlichen und hierdurch Beiträge für die Prävention zu leisten.
Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen muss gewährleistet bleiben
Das widerspricht allen Erkenntnissen der Präventionswissenschaft. Außerdem ist es nicht ausgemacht, dass die Zuschreibung von überwiegender oder ausschließlicher Verantwortlichkeit an den HIV-Positiven tatsächlich ethischen Kriterien genügt, bloß weil sie in die Rechtsprechung eingegangen ist. Ich möchte das eher bezweifeln. Aber unabhängig davon wird die Entscheidung von Menschen, seien sie HIV-positiv oder HIV-negativ, für risikohaftes Verhalten de facto nicht völlig zu verhindern sein, ja, muss als Entscheidungsfreiheit des Einzelnen sogar gewährleistet bleiben. Die einseitige strafrechtliche Bewehrtheit eines solchen Verhaltens bei HIV-Positiven ist aber im Hinblick auf Prävention die deutlich schlechtere Alternative, da sie Menschen geradezu zum Ignorieren und Lügen veranlasst und damit ein viel höheres Risiko für eine Infektion birgt, wie alle bekannten Untersuchungen zeigen. Die Rechtsprechung verhält sich hier, zumindest auf ihren eigenen Anspruch und auf Prävention bezogen, eindeutig kontraproduktiv und damit gerade nicht ethisch.
Die Rechtsprechung geht bisher davon aus, dass nur durch den Kondomgebrauch deutlich werde, dass dem Einzelnen die mögliche Infektion der Partner nicht gleichgültig sei. Werde kein Kondom benutzt, sei dies der Nachweis, dass eine Infektion des anderen zugunsten der eigenen Lust an barrierefreiem Sex wissentlich in Kauf genommen werde.
Das ist nicht nur in der juristischen Literatur zu Recht scharf kritisiert worden. Angesichts der geringen Übertragungswahrscheinlichkeit beim einzelnen sexuellen Akt ist das eine Unterstellung, die nur mit dem Wunsch zu erklären ist, eine Täter-Opfer-Relation als motivationale Voraussetzung von vornherein zu implementieren. Die kann man dann am Ende aus dem Hut zaubern, in den man dieses Kaninchen vorher hineingesteckt hat. Es handelt sich übrigens um ein Kaninchen, das offenkundig vor allem der Lust der vermeintlich oder tatsächlich HIV-Negativen am barrierefreien Sex dient. Und es erlaubt einem, nach einfachen Kriterien juristisch zu urteilen. Dem komplexen Sachverhalt und der Beziehungssituation wird es jedoch auf keiner Ebene gerecht.
Sexuelle Beziehungen werden nicht eingegangen, weil man den anderen schädigen will
Psychologisch ist die Vorannahme einer solchen impliziten Schädigungsmotivation bei HIV-Positiven schlichter Unsinn, denn sexuelle Beziehungen werden nicht eingegangen, weil einem der andere gleichgültig ist oder man ihn schädigen will, selbst wenn es natürlich um Lust geht. Außerdem müsste nach dieser Logik zumindest ein Selbstschädigungswunsch auch für einen HIV-Negativen angenommen werden, wenn er sich auf unsafe Praktiken einlässt.
Die Strafbewehrtheit von unsafen Kontakten bei wissentlich HIV-Positiven mindert zudem die Testbereitschaft und die offene Thematisierung des Serostatus und verhindert dadurch gerade eine sinnvolle Debatte über Verantwortung bei sexuellen Kontakten und die Bearbeitung von Schuld und Schuldgefühlen, was präventiv ein viel sinnvollerer Schritt wäre. Insofern bleibt die Kriminalisierung der HIV-Übertragung auch vor dem Hintergrund ihres eigenen Anspruchs ethisch fragwürdig.
Anmerkungen der Redaktion:
* Das statistische Risiko einer HIV-Übertragung ist im Vergleich zu anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) eher gering: Während etwa 50 % der Sexualkontakte mit Gonorrhö-Infizierten und 30 % der Sexualkontakte mit Syphilis-Infizierten zu einer Ansteckung führen, kommt es bei weniger als 1 % der Sexualkontakte mit unbehandelten HIV-Infizierten zu einer Infektion. Durch ungünstige Faktoren kann allerdings aus diesem statistisch niedrigen Risiko ein hohes Risiko werden, etwa bei hoher Viruslast in der akuten Infektionsphase oder wenn eine STI mit im Spiel ist.
** Eine erfolgreiche, stabile HIV-Therapie senkt die Viruslast im Blut sowie in den genitalen und rektalen Sekreten unter die Nachweisgrenze, wodurch auch die Infektiosität gesenkt wird. Die Wahrscheinlichkeit einer sexuellen HIV-Übertragung ist in diesem Fall um 96 % reduziert, wie eine im Mai 2011 veröffentlichte Studie mit dem Kürzel HPTN 052 belegt hat. Die Therapie schützt damit in etwa genauso effektiv wie Kondome, welche die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit um etwa 95 % verringern.