Gefühle wie ein Virus
Der Tag hätte so schön sein können. Ich stehe auf, steige auf mein Rad und fahre frischluftatmend über die gepflügten Felder des Baden-Württembergischen Hinterlands. Wäre da nicht mein anschließender Besuch im Supermarkt gewesen, der mir den schönen Vormittag fast verdorben hätte…
Nach meinem Einkauf gehe ich zur Kasse und lege die Waren aufs Band. Der junge Mann hinter dem Tresen zieht etwas unmotiviert die Einkäufe über den Scanner und in mir steigt ein Gefühl des Unwohlseins auf, eine Warnung, so als müsste ich gleich in Habachtstellung gehen. Nicht lang und ich merke, woher dieses Gefühl kommt: Der junge Mann hinter der Kasse scheint einen schlechten Tag zu haben. Er schaut nicht nur griesgrämig, auch an seinen Bewegungen merke ich, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Die Tomaten schiebt er einen Tick zu schnell zu mir herüber und die abgewogene Zuccini lässt er einfach auf der Waage liegen, wo er sie mir doch eigenlich kundenfreundlich anreichen müsste – nur kleine Gesten, die mich aber sofort aufmerksam werden lassen. Wie zur Bestätigung meines Verdachts lässt er zu guter Letzt das Wechselgeld aus gewagter Höhe und mit etwas abschätzigem Blick in meine Hand rieseln, schmeißt den Kassenzettel über die Schulter aufs Band, als würde er ihn in den Müll werfen, und grummelt etwas, das sich mit viel Phantasie wie ein „Auf Wiedersehen“ anhört. Er hat ganz offensichtlich schlechte Laune.
Was diesem jungen Menschen am Morgen die Stimmung vermiest hat, kann ich nur mutmaßen. Viel wichtiger erscheint mir in diesem Moment jedoch, was ich dabei empfinde. – Ich bin wütend! So eine Frechheit, lässt er einfach seine schlechte Laune an den Kunden aus! Und dann auch noch an mir, hatte doch mein Tag so schön begonnen. Schlimmer noch: ich mache mir Gedanken darüber, ob ich vielleicht etwas mit seiner schlechten Laune zu tun habe, ob ihn vielleicht etwas an meinem Auftreten stört.
Gedanken wie diese kennt fast jeder Mensch. Gerade dann, wenn unser schlecht gelaunter Gegenüber ein Mensch ist, dem wir sehr nahe sind. Wenn es zum Beispiel der eigene Partner ist, der einem die Kaffeetasse vor die Nase knallt und seine Laune an uns auslässt, gerade dann suchen wir den Grund für seine Stimmung gern bei uns und lassen uns von seinen Gefühlen anstecken. Das ist in Ordnung, wenn es sich um eine einmalige Sache handelt, doch oft verbringen wir unser ganzes Leben mit der Unfähigkeit, uns im gesunden Maß von den Emotionen anderer zu distanzieren. Bei beiden, sowohl beim Supermarktmitarbeiter als auch beim Partner, ist es der gleiche Mechanismus, der die Laune eines anderen so ansteckend für uns macht. Und es ist der gleiche Mechanismus, der uns von dieser Abhängigkeit der Gefühle anderer befreit. Bei uns zu bleiben, ohne uns von den Stimmungen und Schwankungen anderer anstecken zu lassen, ist eine Kunst. Das Stichwort zu unserer Befreiung lautet: Differenzierung.
Warum fühle ich was du fühlst?
Der Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch unterscheidet in einer Paarbeziehung (und somit in jeder zwischenmenschlichen Beziehung) zwischen selbst- und fremd-bestätigter Intimität.
Fremdbestätigte Intimität ist jene oben beschriebene emotionale Abhängigkeit von anderen. Selbst-bestätigte Intimtät erleben wir hingegen dann, wenn wir uns dem anderen mitteilen und so zeigen wie wir wirklich sind, ohne zu erwarten, dass er es bestätigt oder akzeptiert. Wir bestätigen uns stattdessen selbst und sind so weniger abhängig von seinem Urteil und seiner Stimmung. Doch wie geht das, sich selbst zu bestätigen?
In seinem Buch Die Psychologie sexueller Leidenschaft schreibt Schnarch, dass ein Hauptproblem vieler Paare in der Krise nicht ist, dass sie nichts mehr füreinander empfinden, sondern vielmehr, dass sie sehr viel füreinander empfinden. Laut Schnarch ist eine erfüllte Beziehung erst dann möglich, wenn beide Beziehungspartner ihr Bedürfnis nach dem Miteinander in Einklang gebracht haben mit ihrem Bedürfnis nach Individualität. Und so beschreibt er diese Differenzierung als die „Fähigkeit, im engen emotionalen und/oder körperlichen Kontakt zu anderen ein stabiles Selbstgefühl zu wahren – insbesondere wenn diese anderen Ihnen immer wichtiger werden.“
Viele Paare neigen zu eine emotionalen Verschmelzung. Ähnlich wie zwei Kerzen, die in der Mitte zusammengeschmolzen sind und nur noch ein Flamme erleuchten lassen, sind dabei beide Partner abhängig von der Bestätigung des anderen. Und wenn die Flamme des einen einmal ausgeht – er schlecht gelaunt ist, Angst hat oder sonstwie aus dem Gleichgewicht gerät -, bezieht es der andere Partner sofort auf sich, malt sich vielleicht aus, was er Schlimmes getan haben könnte, oder lässt auch sich von der Angst des Partners gefangen nehmen – und so erlischt auch seine Flamme.
Stehen bleiben, wenn der andere umfällt
Der Prozess der Differenzierung ist gerade in einer Paarbeziehung ein langer und mühsamer Weg. Nirgends fällt es uns so schwer uns abzugrenzen, wie in der emotionalen Verbindung zu unserem Partner. Doch der Weg lohnt sich, denn nirgends bietet sich ein so großes und weites Feld für persönliches und spirituelles Wachstum wie hier. Wenn wir es geschafft haben, auch im engen emotionalen Kontakt mit dem Partern voll und ganz wir selbst zu sein, ohne uns von seinen Emotionen anstecken zu lassen (und dabei unser Mitgefühl nicht zu verlieren), dann schaffen wir das auch an der Supermarktkasse.
David Schnarch schlägt für Paare, die sich in ihrer Differenzierung und somit in ihrer Beziehung weiterentwickeln möchten, eine Technik mit dem Namen Umarmung bis zur Entspannung vor. Wenn man das ganze Potential dieser Übung ausreizt, wird sie, so Schnarch, zu einem nützlichen Instrument, das eine Momentaufnahme zeigt, wie es um unsere Differenzierung bestellt ist. Die Grundregeln der Methode lassen sich wie folgt zusammenfassen: Stellen Sie sich auf eigenen Füßen ihrem Partner gegenüber und legen Sie Ihre Arme um ihn. Konzentrieren Sie sich auf sich selbst. Verweilen Sie in dieser Position, beruhigen Sie sich und beobachten Sie ihre Empfindungen.
Normalerweise dauert eine Umarmung, je nach emotionaler Nähe zum Gegenüber, nur wenige Sekunden, danach tritt in der Regel etwas ein, was Schnarch den „Ruck“ nennt. „Der Ruck sagt: ‘Jetzt ist es genug! Es ist Zeit, loszulassen!’ Bei anderen Menschen tritt das Gegenteil ein, sie ’schmelzen dahin’“. So gibt es in fast jeder Paarbeziehung einen, der sich schneller aus der Umarmung lösen möchte als der andere. Einer der beiden möchte mehr Intimität, der andere vielleicht lieber etwas weniger. Beide befinden sich jedoch auf einem ähnlichen Entwicklungsstand, also auf zwei gegenüberliegenden Punkten der Differenzierungs-Skala. Egal, wo wir uns befinden, irgendwann in der Umarmung fühlen wir uns vielleicht unwohl, weil der Partner unser Gefühl nicht bestätigt und unseren Wunsch nach mehr oder weniger Intimität nicht teilt.
Paare, die die Umarmung bis zur Entspannung eine Weile lang praktizieren, stellen fest, dass sie umso besser funktioniert, je fester beide Partner auf eigenen Beinen stehen. Stützt sich einer zu sehr auf den anderen, drohen beide umzufallen. Stützen sich beide aufeinander, bleibt die Umarmung nur so lange stabil, wie das Bedürfnis nach Stützen und Gestütztwerden ausgewogen ist. Verändert einer der Partner seine Position, fallen schlimmstenfalls beide zu Boden. Die Beziehung steht und fällt also im wahrsten Sinne des Wortes mit der Eigenständigkeit beider Partner. Ist einer von der Unterstützung des anderen abhängig, muss er entweder an dem anderen klammern oder ihn ganz loslassen, wenn dieser aus dem Gleichgewicht gerät. Die Umarmung bis zur Entspannung ist also, wie man hier erkennen kann, eine nützliche Metapher für das Zusammeleben in einer Paarbeziehung. Die Differenzierung befähigt uns, auch dann einem anderen Menschen nahe zu sein, wenn dieser „außer sich ist“. Sie macht es uns möglich, im Kontakt mit Menschen zu sein, ohne ihre Ängste zu übernehmen und uns von ihren Launen anstecken zu lassen.
Die Umarmung bis zur Entspannung sieht also im besten Falle so aus: Beide Partner stehen fest auf ihren eigenen Beinen, die jeweils ihr ganzes Gewicht tragen. Sie halten einander locker umarmt. Verliert einer der beiden das Gleichgewicht, bleibt der andere dennoch stehen. Wenn der stabile Partner weiterhin ruhig bleibt, „hat es der andere leichter, wieder ins Gleichgewicht zu kommen“. Und so schließt David Schnarch mit einem Rat, den auch ich Ihnen geben möchte – sowohl für die Partnerschaft als auch für die Supermarktkasse: „Wenn Ihr Partner aus dem Gleichgewicht gerät, ob bei der Umarmung oder im Alltag, geben Sie sich am besten selbst Halt und bleiben ruhig.“ Dann hat es ihr Partner umso leichter, wieder sein Gleichgewicht zu finden, und Sie lassen sich nicht so leicht von seinen Emotionen anstecken.
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Quellen
- Schnarch, David – Die Psychologie sexueller Leidenschaft
Bildquellen
- (1) my eye 1 von Dora Mitsonia (@sxc.hu)
- (2) Getting Angry von Emiliano Spada (@sxc.hu)
- (3) Biceps von Andreas Thies (@sxc.hu)