Die Schwulenberatung Berlin eröffnet heute das innovative Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt“, ein Mehrgenerationenhaus nicht nur für ältere schwule Männer. Der 67-jährige ehemalige Buchhändler Bernd Gaiser, seit den 70er Jahren engagierter Aktivist der Schwulenbewegung, hat das europaweit einmalige Projekt mit initiiert und gehört nun zu den ersten Mietern. Axel Schock hat sich mit ihm unterhalten.
Umzugswagen waren in den vergangenen Wochen in der Charlottenburger Niebuhrstraße fast schon ein gewohntes Bild, und alle parkten sie vor dem Haus mit der Nummer 59–60. Über ein Jahr wurde das zuletzt als Kindertagesstätte genutzte Gebäude komplett umgebaut.
Im Erdgeschoss soll das Café-Restaurant „Wilde Oscar“, ein Integrationsbetrieb für Menschen mit Behinderungen, zum neuen Zentrum der queeren Community Berlins werden. Eine komplette Etage hat die Schwulenberatung Berlin bezogen, eine weitere dient als Wohngemeinschaft für insgesamt acht Demenzkranke und Pflegebedürftige, die von einem Mitarbeiter und einem 24-Stunden-Pflegedienst betreut werden.
In den anderen Etagen samt Dachgeschoss gibt es 24 Wohneinheiten, in denen nun ältere schwule Männer gemeinsam mit Menschen unterschiedlichsten Alters, Geschlechts und sexueller Identität in Vielfalt leben können.
Bernd, das Haus wird zwar offiziell erst heute eröffnet, du wohnst allerdings, wie einige andere Mieter auch, schon seit zwei Wochen dort. Hast du dich im „Lebensort Vielfalt“ gut eingelebt?
Bernd Gaiser: Seit ich hier eingezogen bin, habe ich das Gefühl, angekommen und an jenem Ziel zu sein, das ich vor acht Jahren vor Augen hatte, als ich mit anderen zusammen die erste Idee dazu entwickelt hatte. Mein erster Eindruck ist, dass das Zusammenleben sehr gut funktioniert und dass sich auch die Vorurteile, die es anfangs zwischen älteren und jüngeren Schwulen, aber auch zwischen Männern und Frauen gab, in Luft aufgelöst haben. Es wird nun sehr spannend werden, wie sich das Zusammenleben und das Konzept des Mehrgenerationenhauses entwickelt.
Die erste Idee wurde im Arbeitskreis „Anders Altern“ der Schwulenberatung entwickelt. Stand da von Anfang an fest, dass dies ein generationen- und geschlechterübergreifendes Haus werden soll?
Der erste Arbeitstitel lautete noch „Rosa Villa“. Eine Villa ist es dann ja nicht geworden, dass es ein Mehrgenerationenhaus werden sollte, war allerdings von Anfang an unser Wunsch. Und genau dies hat letztlich auch zum Erfolg geführt. Es sollte eben kein Alters- oder Pflegeheim für schwule Männer werden, sondern etwas sehr Lebendiges, wo Männer, Frauen, Schwule, Lesben und Heteras unter einem Dach leben. Dieses Konzept hat dann auch die Lottostiftung überzeugt.
Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin hat das Projekt mit zwei Millionen Euro mitfinanziert. Rund fünf Millionen Euro waren für den Erwerb der Immobilie und den Umbau insgesamt aufzubringen.
Was die Schwulenberatung Berlin nun geschafft hat, wird in diesem großen Rahmen so schnell keinem mehr gelingen. Das Geld der Lottostiftung machte das Ganze zwar überhaupt erst möglich, aber es musste der gleiche Betrag auch noch einmal als Kredit aufgenommen werden. Das vermag dann auch nur eine Organisation wie die Schwulenberatung Berlin zu bewerkstelligen, die sich durch ihre 30-jährige Arbeit entsprechendes Ansehen und Vertrauen erworben hat.
Als reine Privatinitiative wäre die Idee nicht zu verwirklichen gewesen?
Ein ähnliches Berliner Wohnprojekt, Village e.V., ist genau am Problem der fehlenden Finanzierung gescheitert. Wir hatten das Glück, dass die Schwulenberatung unsere Idee gleich mitgetragen hat. Auch dort hatte man erkannt, dass die Zeit gekommen ist, auch für ältere schwule Männer etwas zu tun. Im Projekt waren auch viele jener Männer engagiert, die in den 70er Jahren beim Aufbruch der Schwulenbewegung beteiligt waren und inzwischen die Altersgrenze erreicht haben. Sie denken aber keineswegs daran, sich aufs Altenteil zurückzuziehen, sondern wollen weiterhin etwas auf die Beine stellen. Diese Energie, zusammen mit dem Know-how der Schwulenberatung, hat den „Lebensort Vielfalt“ letztlich Realität werden lassen.
Du sagst, die Lottostiftung konnte sich für das Projekt vor allem deshalb erwärmen, weil es für gelebte Vielfalt steht. Überspitzt formuliert: Ein rein schwules Pflegeheim hätte sie demnach als rückwärtsgewandt und separatistisch gefunden und deshalb nicht gefördert?
So könnte man es natürlich auch sehen, aber man möchte ja generell weg von der stationären Unterbringung älterer Menschen. Solche Heime sind häufig nur eine Art Verwahranstalt. Ich arbeite seit vielen Jahren ehrenamtlich beim „Mobilen Salon“, dem von der Schwulenberatung organisierten Besucherdienst. Dort haben wir Kontakt zu vielen älteren schwulen Männern, die in dieser Situation leben und damit sehr unglücklich sind. Sie möchten am liebsten raus aus diesen Heimen und Kontakt zu anderen Menschen haben. Doch weil diese Einrichtungen meist kommerziell betrieben werden, wird entsprechend an den Personalkosten gespart. Deshalb sind solche Initiativen wie Mehrgenerationenhäuser, die die Ghettoisierung älterer und eben auch schwuler Menschen vermeiden, in jeder Hinsicht wünschenswert.
Statt isoliert in einem solchen Heim wirst du nun zusammen mit rund anderen 40 Hausbewohnern leben können.
Die Vorstellung, ich müsste in einem Pflegeheim ohne soziale Außenkontakte wohnen, war für mich schrecklich. Mit zunehmendem Alter fällt es ohnehin schwerer, solche Kontakte aufrechtzuerhalten. Das kostet Energie und nicht zuletzt auch Geld, um an Aktivitäten teilnehmen zu können. Für viele Menschen, gerade mit einer kleineren Rente, ist dies kaum machbar.
Können sich denn solche Menschen überhaupt die Miete im „Lebensort Vielfalt“ leisten?
Die Schwulenberatung Berlin hat sich dazu entschlossen, einen Teil der Wohnungen auch für Menschen mit kleiner Rente bezahlbar zu machen. Im Haus ist damit ein guter Querschnitt der Gesellschaft vertreten – von gut gestellten Menschen bis zu Hartz-4-Empfängern.
Viele der Mieterinnen und Mieter haben sich über Jahre für das Projekt engagiert. Das ist sicherlich nicht immer konfliktfrei verlaufen?
Natürlich nicht, zum Beispiel bedurfte es eines Annährungsprozesses zwischen den Schwulen und den Frauen. Wir haben uns über die letzten fünf Jahre alle 14 Tage getroffen und gemeinsame Aktivitäten unternommen – Spaziergänge, Theaterbesuche, Sonntagsbrunchs. Dabei haben sich nicht nur unterschiedliche Vorstellungen des Zusammenlebens herauskristallisiert, sondern auch so manche Vorbehalte. Eine Mitstreiterin beispielsweise, die ganz am Anfang noch sagte, sie könne sich nur vorstellen, in einer reinen Frauenetage zu wohnen, hat diese Berührungsängste inzwischen völlig abgelegt. Das war nur über diesen langen, intensiven Kennlern- und Kommunikationsprozess möglich. Knatsch gab es immer wieder mal, aber wir hatten das Glück, dass in diesen Diskussionen die Schwulenberatung schlichtend eingegriffen und moderiert hat.
Auch in privater Initative lassen sich alternative Wohnprojekte realisieren
Wie funktioniert nun in der Praxis, was man lange Jahre in der Theorie durchgespielt hat?
Man merkt, dass im Moment alle noch ziemlich vom Umzug erschöpft sind und erst einmal ankommen und zur Ruhe kommen müssen. Wenn diese Phase durchlaufen ist, kann man beginnen, wieder gemeinschaftliche Aktivität zu entwickeln. Wir haben dafür auch einen Gemeinschaftsraum, der stets fester Bestandteil des Konzeptes war. Ich habe seit den 70er Jahren in Wohngemeinschaften gelebt. Diese Lebensform habe ich nun weiterhin, nun in Form einer Hausgemeinschaft. Jeder hat seine eigene Wohnung und kann sich dahin zurückziehen oder an den gemeinschaftlichen Aktivitäten teilnehmen.
Ähnliche Projekte dürften nicht so viel Zeit und Gelegenheit haben, um sich erst einmal als Gruppe zusammenzufinden. Ist das Konzept des „Lebensorts Vielfalt“ auf andere Städte übertragbar? Entsprechendes Interesse gab es im Vorfeld sogar aus dem Ausland.
Man muss das Konzept sicherlich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Die Schwulenberatung träumt natürlich davon, noch weitere Häuser dieser Art zu schaffen oder entsprechende Initiativen zumindest anzustoßen. Ich denke aber, dass es realistischer sein wird, in kleineren Dimensionen zu denken und auf privater Ebene initiativ zu werden, zum Beispiel mit Menschen, die man bereits gut kennt. Dies wäre nicht nur in Hinsicht auf das Alter sinnvoll, sondern auch, um die Isolierung aufzubrechen, in der viele Menschen leben – gerade auch in der Schwulenszene.
Welche privat organisierten Möglichkeiten siehst du?
Der Berliner Arbeitskreis Lesbische & Schwule alte Menschen (Balsam) hat zum Beispiel Modelle von Wohn- und Hausgemeinschafen, die in Kooperation mit Genossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften realisiert werden. Diese haben, wenn auch nicht im Zentrum der Stadt, durchaus freie Kapazitäten, um im kleinen Rahmen und in Privatinitiative zum Beispiel lesbischschwule Wohnprojekte zu realisieren. In Hamburg werden, anders als in Berlin, solche Wohngemeinschaften für ältere Menschen sogar vom Senat finanziell unterstützt.
Eine vielleicht etwas ketzerische Frage zum Abschluss: 40 Menschen wohnen nun in eurem Haus, über 200 stehen derzeit auf der Warteliste. Wie fühlt man sich, zu den „Happy Few“ zu gehören?
Die Leute, die jetzt in das Haus eingezogen sind, haben schon das Bewusstsein dafür, dass sie privilegiert sind. Ich persönlich glaube aber, dass ich durch meine jahrelange Arbeit auch so etwas wie ein Anrecht erworben habe. Unser Aufgabe ist es nun, alle ähnlichen Initiativen zu unterstützen, um diese Idee weiterzutragen. Für viele der Menschen, die nun auf der Warteliste stehen und bedauern, dass sie vorerst keine Wohnung bekommen haben, tun sich mit den Jahren vielleicht noch ganz andere Möglichen auf.
Weitere Informationen:
Internetseite des „Lebensorts Vielfalt“
„Gemeinsam leben im Alter“ – DAH-Blogbeitrag zum Tag der offenen Baustelle im September 2011
Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Balsam Berlin