Wenn Medizynicus vom „Schreibkrampf“ befallen ist, gebe ich mal wieder einen Gastbeitrag zum Besten… Ich muss erwähnen, dass die folgende Geschichte zum sogenannten Real-Life eines Arztes gehört!
Es ist Freitag Abend, 22:25 Uhr… Man hat es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht, weil man sich seit Wochen darauf freut, mal einen Videoabend zu machen… heute ist es so weit…
Aber, als sei die Ladeschublade des DVD-Players mit dem Telefon gekoppelt: Die Schublade schliesst, die DVD surrt, um das Hauptmenue zu generieren und der Klingelton vom Telefon gällt in den Raum… (das Verb kommt übrigens von Galle, es heisst soviel wie „bitter machen“…).
Ich nehme das Gespräch entgegen, weil ich noch einen Anruf von meiner Schwester erwarte, den ich schnell hinter mich bringen will… Ich sage: „Ja, hallo?“
Stille!!… Am andern Ende der Leitung nur Schnaufen… nach wenigen Sekunden knallt eine Stimme gegen mein Trommelfell: Hammermeiiiiister…, is da der Herr Doktor?“ Es durchfährt mich wie ein Stromschlag, ich kann nicht sagen, wodurch dies in erster Linie ausgelöst wird: durch den Namen, der bei mir sofort nur negative Assoziationen auslöst, oder durch das Schrille in der Stimme, mit der dieser Name soeben ins Telefon geplärrt wird!
Bevor ich überhaupt Antwort geben kann, wird nachgeschoben: „Dem Baba geht’s schlecht!“
Reflektorisch schalte ich den DVD-Player mit der Off-Taste aus. Der Abend ist gelaufen…
„Baba“ ist nämlich ein chronisch obstruktiver Bronchitiker, dessen Passion in erster Linie aus Rauchen und in zweiter Hinsicht in der völligen Beratungsresistenz wider jeglichen ärztlichen Rat besteht, dicht gefolgt von dem ins Absurde „Verkehren“ therapeutischer Maßnahmen!
„So?“ Mehr fällt mir als Antwort erst mal nicht ein, ich hätte aber auch gar nicht mehr Zeit, einen längeren Satz zu formulieren, denn das andere Ende der Leitung verkündet: „Er kriescht seit Mittwoch moojen wieder schlecht Luft!“
In einem Comic wäre über meinem Kopf zunächst eine leere Gedankenblase, dann ein Fragezeichen und dann zögen langsam Gewitterwolken auf!
Ich denke kurz: „Aha, und bis Freitag Nacht hat er gebraucht, um dies zu artikulieren?“ Aber wie gesagt, ich denke nur, denn zum Antworten komme ich nicht, es wird mit gesteigerter Lautstärke der Tages- bzw. Nachtbefehl ausgegeben: „Sie müsse kommen!“
Danach „Klick“… ich sage: „Hallo? Hallo?“ Danach sehe ich auf meinem Display die Anzeige „Gespräch beendet“.
Okay, wie soll man darauf reagieren? Ich rufe zurück, besetzt! Ich versuche es nach drei Minuten erneut! Besetzt! Ein drittes Mal: piep, piep, piep, piep… Besetzt!
Ich denke, das kann doch nun nicht sein! Ich entscheide mich aus Sorgfaltspflicht, vorbei zu fahren bei der Familie, denn es kann ja wirklich akut eine Situation entgleiten. Im Stillen, in den hintersten Hirnregionen kommen böse Gedanken auf: „Naja, wenn es wie immer läuft, wird jetzt wenigstens der Abend noch mit kabarettistischen Einlagen und Real-Satire bereichert!
Es sind nur ein paar Minuten Fahrt. Ich klingele! Keine Reaktion! Ich klingele erneut! Kein Türöffnen, kein Schatten hinter der Tür!
Aber aus dem oberen Fenster dröhnt der Fernseher, es ist alles hell erleuchtet. Ich klingele Sturm! Nichts! Das Fenster ist gekippt! Ich rufe hinauf! „Frau Hammermeister!“
Nichts! Ich rufe lauter, während ich parallel klingele! Nichts!
Ich schreie mit voller Lautstärke: „Frau Hammermeister!!“ Ich werfe kleine Steinchen gegen die Fensterscheibe! Plötzlich ein Schatten am Fenster, der Fensterflügel wird geöffnet und es fragt: „Wer ist denn da unten?“
Wieder Gewitterwolken über meinem Kopf, dieses mal mit Blitzen!!
„Frau Hammermeister, Sie haben mich vor zehn Minuten angerufen!“
„Ach, der Herr Doktor! Mit Ihnen haben wir noch gar nicht gerechnet!“
Ich kann nicht sagen, was in diesen Momenten in einem vorgeht! Bei mir war es in erster Linie die Beruhigung, dass die Situation in der Wohnung gesundheitlich offensichtlich nicht so hoch akut war, dass man im Fernsehraum in Panik verfallen wäre!
Das Licht im Treppenhaus und Flur flammt auf, und nach etlichen Umdrehungen des Schlüssels öffnet sich die Haustür!
„Dass Sie heute Abend noch gekommen sind! Wir haben Sie erst morgen früh erwartet!“
Gewitterwolken!!! Orkanstärke!!
„Aber Sie haben doch am Telefon gesagt, Ihrem Vater ginge es schlecht! Er hätte Atemnot!“
„Sein Spray hat er schon genomme! Aber er gefällt mir nicht!“
„Verständlich!“ dachte ich in einem Anflug von Boshaftigkeit und in Kenntnis des gesundheitsverweigernden Habitus des Patienten! „Was ist denn das konkrete Problem?“ frage ich.
„Die Lippe, die sin irjendwie so blau!“
„Gut, ich sehe nach Ihrem Vater!“ – Während ich die Treppe hochgehe, spekuliere ich, mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit die Lippen des Vaters seit heute Mittag, als die Praxis noch geöffnet war, bis jetzt von zartrosa-hell durchblutet nun urplötzlich in tiefschwarzes hypoxämisches Dunkelblau umgeschlagen sind!
Gewitterwolken!
Ich begrüße Herrn Hammermeister der auf einem Sessel hochgelagert ist, der mit ca. 6-7 grossen Bettdecken umbaut ist! Der Fernseher brüllt in einer Lautstärke, dass das Gehäuse und das Fernsehregal mitvibrieren! Im Raum herrscht eine Atmosphäre wie in dem Film „The Fog“ und nur das gekippte Fenster lässt zu, dass die Frischluft gegen die Rauchschwaden Amok laufen darf.
„Herr Hammermeister! Ich habe Ihnen doch wiederholt gesagt, dass Explosionsgefahr besteht, wenn Sie rauchen und gleichzeitig Ihre Sauerstoffflasche anschließen!“
„Ach, dat is ja an de Nas!“ Er meint damit die Nasensonde, über die ihm früher ein O2-Konzentrator Luft zuführte, die nun aber seit neuestem auf Anraten des Pneumologen zusätzlich an eine Sauerstoffflasche gekoppelt war. „Da passiert nix! Wir haben früher die Zigaretten mit dem Schweißbrenner angezündet! Dat macht nix!“
Fragezeichen in der Gedankenblase!
Ich fragte nach den Beschwerden, deren Schilderung von Herrn Hammermeister immer wieder mit schleimigem, kollernden Husten und dem Versuch, mir das Sputum auf einem Tempotaschentuch zu präsentieren, angereichert wurde.
Der nachfolgende Auskultationsbefund war nicht beunruhigend und auch der Gesamtzustand des Patienten sprach nicht für eine akute Exazebation der chronischen Bronchitis. Trotzdem, und da hatte die Tochter des Patienten nicht unrecht, sahen die Lippen und auch die Zunge blau aus! Das war letzte Woche noch nicht so!
„Blaubeeren haben Sie aber nicht gegessen? Oder?“ Man muss ja als Arzt immer ALLE Möglichkeiten in Betracht ziehen!
„Nee, wir esse zur Zeit immer nur Birne!“
Leere Gedankenblase. Nur Windboen…
Während der Fernseher dröhnte und eine Wiederholung einer Volksmusiksendung mir zunächst die Verständigung schwierig machte, einigten wir uns auf Zimmerlautstärke… Abschalten „ging“ nicht, weil die Mama dat Lied mit dene Herzbuben so gerne guckt!
Gewitterwolken! Alle drei der Familie sind zumindest genauso gut genährt wie die Wildecker… Gedanken, weichet!
Ich widme mich wieder dem Patienten! Irgendwas ist anders, das stimmt! So hypoxisch sahen sie Lippen normalerweise nicht aus! Ich kontrolliere die Sauerstoffflasche! Sie ist gefüllt! Nicht leer! Auf dem Monometer ist der Druck ablesbar! Ich korrigiere den Sitz der Nasensonde, denn die hängt eher schon mit einer Mündung am Unterlid des rechten Auges! Während ich daran herummanipuliere, bemerke ich, dass aus der Nasensonde gar kein leichter Luftzug zu spüren ist… Ich verfolge die Zuleitung rückwärts Richtung O2-Generator… Ich bemerke an der Kopplungsleitung mit der Sauerstoffflasche, dass da eine Art Schelle eingebaut ist! „Was ist denn das?“ Ich deute mit dem Finger auf das „Anbauteil“, das garantiert nicht zum Lieferumfang des Gerätes und auch nicht zur Flasche gehört.
„Dat?“ Er unterstreicht mit einem langezogenen Hochkeuchen eines Hauches von Schleim das Bedeutungsvolle seiner folgenden Worte: „Dat is wejen de Flasch!“
„Wie, wegen der Flasche?“
Ich denke immer, mich kann nichts mehr überraschen, aber jetzt ist gerade mal wieder so ein unerwarteter Moment!
„Ja, wejen de Flasch! Die iss immer so schnell leer! Jed Woch komme die un wechsele dat Ding!“
„Ja, und…?“ Zerplatzende Gedankenwolke…
„Dat iss nur Geldmacherei! Damit man das besser regele kann, hann ich dat Scheibewischerventil an die Leitung drangemacht!“
Ich gucke zunächst ihn entgeistert an, dann betrachte ich mir genauer seine Konstruktion! Wie man sich denken kann, war durch die Manipulation an den Leitungen der Ausflusswiderstand höher als der Druckminderer der Gasflasche zuließ! Es hatte darüber hinaus noch den Effekt, dass über die Leitung nicht nur kein Sauerstoff beigemischt wurde, sondern der gesamte Flow des O2-Generators über eine Leckage des „Ventils“ irgendwo in den Tiefen des Wohnzimmersessels mündete!
Ich stecke die Bauteile wieder ihrem originären Bauplan entsprechend zusammen und siehe da: Die Nasensonde fördert wieder einen zarten Luftstrom…
Ich kläre umfassend die Familie nochmalig über den Sinn der verwendeten Gerätschaften auf, versuche zu verdeutlichen, welche Gefahr von einer Sauerstoffflasche ausgeht… wie weit diese Information jedoch ins Bewusstsein vordringt, kann ich nicht genau sagen.
Ich sehe nur, dass Herrn Hammermeisters Blick aufmerksamer wird, als seine Frau mit einem rasch gespickten „Käse-Igel“ das Wohnzimmer betritt mit der Frage: „Herr Doktor, wolle Sie eine paar Käsespießchen?“
Schwarzes Comicfenster!
Ich sitze wieder im Auto! Patient stabilisiert! Lippen nicht mehr ganz so blau! Der ärztliche Teil zumindest ansatzweise „gelöst“. Während ich fahre, wird mir bewusst, wie viel eintöniger wohl ein Videoabend gewesen wäre…
Und ich denke über Konstruktionspläne nach… „Was passiert, wenn Herr Hammermeister auf die Idee kommt, die verrauchte Raumluft mit dem Inhalt der Sauerstoffflasche zu „ionisieren“ und damit zu reinigen, wie das die Werbung für „Luftreinigungs“-Geräte in abgewandelter Form zu verspricht?
Leere Gedankenblase!