Ein missverstandenes Monster-mittel? Thalidomid bekommt noch eine Chance …

Es ist 1954: Ursprünglich war das Mittel Thalidomid als Anti-Allergiemittel gedacht, aber anstatt Allergien vorzubeugen, zeigte sich im Tierversuch, dass die damit behandelnden Ratten einschliefen. Und erstaunlicher als das war: egal wieviel Thalidomid man ihnen gab, sie blieben gesund. Man hatte offenbar ein Mittel gefunden zur Beruhigung, das man nicht überdosieren kann. Eine Novität.
Es wurde sogar damit beworben: Ein Mittel so sicher, dass sogar ein Kleinkind eine ganze Flasche schlucken kann, ohne bleibende Schäden zurückzubehalten!

Ab 1957 Unter dem Markennamen Contergan (in anderen Ländern: Distaval) vertrieben, wurde es enorm beliebt – man nahm es wie Aspirin. Es war rezeptfrei erhältlich und auch Ärzte verschrieben es gegen alles mögliche: Als Schlafmittel, bei kleineren Beschwerden, die man mit Ängstlichkeit in Verbindung brachte, bis zur morgendlichen Übelkeit in der Schwangerschaft.
Immerhin hatte das Mittel im Tierversuch keinerlei embryotoxischen oder mutagenen Eigenschaften gezeigt. Man sah es als komplett sicher an.

Dann wurden Kinder mit Missbildungen geboren:  die Babies hatten einen perfekten Kopf, perfekten Körper, nur … keine oder arg verkürzte Arme und Beine.

Es dauerte eine ganze Weile, bis man auf den Übeltäter kam. Zuerst dachte man, es sei ein Virus, möglicherweise eine Abart des Grippevirus … Lecks aus Atomkraftwerken, sogar Waschmittel wurde verdächtigt,  immerhin traten die Probleme plötzlich weltweit auf.

1961 kam ein Australischer Arzt namens William McBride darauf, als er die medizinischen Unterlagen von 3 Babies anschaute, die er auf die Welt gebracht hat. Bei allen drei hatte die Mutter früh in der Schwangerschaft Distraval (Thalidomid) genommen.

1962 wurde Thalidomid zurückgezogen. Zu dem Zeitpunkt waren 8000 Kinder in 46 Ländern mit Missbildungen geboren worden. Nur die Hälfte davon überlebte die ersten Lebensmonate.

Was die Wissenschaftler so überrascht hat war, wie ein Medikament das derart harmlos war bei Erwachsenen bei kleinen Babies derart Schaden anrichten konnte. Bis dahin dachte man, dass jedes Medikament, das für die Mutter sicher war, das auch für den Fötus sein musste.

Heute weiss man etwas mehr. Die Schädigung des Embryos tritt nur in den ersten 60 Tagen der Schwangerschaft auf. Und nur beim Menschen. Deshalb wurde das Problem nicht früher entdeckt.
Thalidomid wird als eine der grössten Katastrophen in der Geschichte der Medizin angesehen … und hatte enormen Einfluss darauf, wie die Medikamente heute getestet und angewendet werden. Gerade bei Schwangeren ist man viel vorsichtiger geworden.

Thalidomid verschwand mehr oder weniger vom Markt.

Damit ist die Geschichte beendet … sollte man denken.

Aber schon 1965 begannen die Ansichten über das Monstermittel Thalidomid zu ändern.

In Jerusalem gibt es immer noch ziemlich viele Leute mit Lepra. Etwa 5% der Lepra-betroffenen entwickeln eine schmerzhafte und manchmal tödliche Komplikation, die sich ENL nennt (Erythema nodosum leprosum) – also die Hautveränderungen die Auswirkungen des Immunsystems sind, das sich gegen das Bakterium welches Lepra verursacht, wehrt. Die Schwellungen werden durch Cytokine und aktivierte Makrophagen verursacht, was schliesslich zur Zerstörung des Gewebes führt … die Patienten haben Entzündungen und Schmerzen … und der Arzt Jacob Cheskin suchte nach etwas, das er den Patienten geben konnte, damit sie etwas Ruhe hätten und schlafen konnten. In der Apotheke des Spitals stoplerte er über eine alte Flasche Thalidomid. Das versuchte er dann an seinen Patienten.

Das nächste war dann wirklich überraschend: Praktisch über Nacht begannen die Geschwürde zu bessern und zuzuheilen.

Niemand verstand weshalb, aber Cheskin teilte seine Beobachtungen mit der Welt.

In Lepra-Gebieten rund um die Welt wurde Thalidomid daraufhin wieder hergestellt und dagegen eingesetzt – mit Erfolg.

Man sah Thalidomid in dem Moment als einen Immunsystem-modulator an (was und wie es genau wirkte war immer noch nicht bekannt) und versuchte es (obwohl dafür nicht zugelassen) auch an anderen Krankheiten aus. So fand man in England dann, dass es auch bei den Geschwüren an den Körpern von Behcet Kranken hilft. Bei der Krankheit erkennt der Körper auf einmal gewisse körpereigene Stellen als fremd an und bekämpft sie, was auch zu hässlichen Geschwüren führt – zum Beispiel im Mund oder an den Genitalien. Man kann kaum mehr Essen und Trinken und nur mit Schmerzen auf die Toilette. Sarah Craven war ein besonders schwerer Fall, an der Thalidomid schliesslich versucht wurde.

Ihre Hautläsionen gingen innert 3 Wochen praktisch komplett zurück. Und auch andere jahrelang geplagte wurden erfolgreich behandelt.

Sara Craven nahm das Medikament weiterhin … und es ging ihr so gut damit, dass sie einen neuen Lebensabschnitt in Betracht ziehen konnte. Sie setzte Thalidomid ab, damit es keine Probleme gab mit der geplanten Schwangerschaft. Aber die Krankheit kam zurück. Im 6. Monat musste sie wieder Thalidomid nehmen – mit dem Risiko, dass es auch dann noch Auswirkungen auf das ungeborene Kind hat. Wie man wusste, traten die Missbildungen nur auf, wenn man es in den ersten 60 Tagen nimmt. Die waren vorbei, aber ganz sicher war man nicht, ob es nicht doch Probleme geben könnte: neurologischer Natur. Diese Gefahr ist zwar kleiner, wurde aber bei Kindern beobachtet, deren Mütter das Medikament erst im letzten Trimenon genommen hatten. Es gibt jedoch wenig Erfahrungen damit, da es heute kaum Frauen gibt, die Thalidomid nehmen und schwanger werden (wollen).

Sarah Cravens Sohn kam übrigens 1998 vollkommen gesund zur Welt und im selben Jahr bekam Thalidomid die Zulassung gegen ENL bei Lepra.

Trotzdem hat man immer noch das Problem der Missbildungen, wenn man das in der Schwangerschaft nimmt … und das passiert in Ländern wie Brasilien, wo ein hoher Prozentsatz der Frauen nicht lesen kann auch heute noch.

In den Industrieländern ist Thalidomid deswegen streng kontrolliert und unterliegt strengen Richtlinien, braucht spezielle Rezepte und der Arzt muss mit der Patientin eine Schwangerschaftsprophylaxe ansprechen und durchführen. In manchen Lädern müssen die Patientinnen Formulare unterschreiben, dass sie beim Geschlechtsverkehr gleich 2 Verhütungsmittel verwenden.

Inzwischen waren noch weiter Entwicklungen im Gang, zum Beispiel bei der Behandlung von Tumoren. Der Arzt Judah Folkmann verfolgte die Theorie, dass Krebs imstande ist Gefässe in sich wachsen zu lassen (Angiogenese) und die Blutzufuhr braucht um selber zu wachsen und sich zu verbreiten. Er suchte nach Stoffen, die imstande waren, dieses Gefässwachstum zu bremsen und stiess dabei auf Thalidomid.

Thalidomid verhindert die Sekretion des Vascular Endothelial Growth Factor und hemmt somit die Neubildung von Blutgefässen. Das ist bei erwachsenen Personen im Normalfall ohne Bedeutung. Nimmt allerdings eine Schwangere im ersten Trimenon das, kommt es zu schweren Fehlbildungen am Neugeborenen. Die fehlende Blutversorgung führt zu verkürzten oder fehlenden Röhrenknochen – das war also das Problem.

Und beim Krebs hilft Thalidomid, indem es das Wachstum von Gefässen um und in den Krebs hinein hemmt – und es macht offenabar noch mehr … es hat eine Wirkung auf das Immunsystem und greift auch den Krebs direkt an – zumindest sieht es beim Multiplen Myelom sehr danach aus.

Dabei ist es in der Anwendung für die Patienten viel angenehmer als andere Krebsmittel wie Chemotherapeutika, denn bei ihm gibt es keinen Haarverlust, es wird einem nicht schlecht, man kann es als Tablette schlucken und muss nicht wegen Spritzen zum Arzt.

Wie es genau wirkt, weiss man immer noch nicht und es ist keine Kur gegen Krebs, aber es verzögert dessen Fortschreiten in 2/3 der Fälle und gibt den Patienten so mehr Zeit mit ihren Familien, ohne sie sehr zu beeinflussen. Nachteilig ist, dass sich der Krebs an das Thalidomid gewöhnt, wodurch dessen Wirksamkeit mit der Zeit abnimmt. Ganz Nebenwirkungsfrei ist es auch nicht: es ist immer noch ein starkes Beruhigungsmittel, es macht Verstopfung und periphere Neuropathie (Empfindungsstörungen in den Extremitäten).

Es wurde natürlich auch versucht das Medikament sicherer zu machen. Man änderte die Grundstruktur (genauer man ersetzte ein Sauerstoff-Atom durch ein Stickstoff-Atom) – das neue Medikament Revlimid ist tatsächlich noch wirksamer. Und das, obwohl die Forscher bei der Änderung nicht wussten, wie das Medikament überhaupt wirkt und wo sie etwas ändern mussten um es sicherer zu machen.

Revlimid wird wie Thalidomid gegen Krebs eingesetzt. Ausserdem in der Behandlung von AIDS und Multiple Sklerose. Leider ist es auch keine Heilung, aber es macht die Krankheiten erträglicher.
Ganz das Wundermittel ist es aber auch nicht, es steht im Moment im Verdacht, bei längerer Anwendung eventuell selber Krebs zu machen.

In Lösung bricht der Wirkstoff Thalidomid in viele Komponenten auseinander. Er ist also ziemlich instabil. Welche dieser Komponenten die Missbildungen verursacht, weiss man heute noch nicht – und auch nicht, welcher für die Angiogenese verantwortlich ist, oder für die Wirkung auf das Immunsystem

Aber man arbeitet daran ..  und wer weiss, vielleicht werden wir es eines Tages wissen.

Und jetzt, da ihr das alles wisst – was meint ihr? Was ist Thalidomid? Furchtbar? Ein missverstandenes Monster-mittel? Sollte man es grundsätzlich verbieten?

Tagged: Krebs, Lepra, Medikament, Sara Craven, Thalidomid, William McBride


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